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MARXISTISCHE BLÄTTER/627: Historische Migrationsbewegungen


Marxistische Blätter Heft 5-16

Historische Migrationsbewegungen
Ursprüngliche Akkumulation und industrielle Reservearmee

Von Klaus Stein


Die Vereinten Nationen schätzen die aktuelle Zahl der Menschen, die in einem anderen Land als dem ihrer Geburt leben, auf 244 Millionen. Die Internationale Organisation für Migration geht sogar von mehr als 250 Millionen internationaler Migranten aus.[1] 1990 waren es noch 154,2 Mio. Jährlich stieg in den 1990er Jahren der Bestand an Migranten um ca. 2 Mio. 2000 wurden schon 173 Millionen gezählt. Und in den folgenden 15 Jahren ist diese Menge um 71 Mio., also um 41%, gestiegen, durchschnittlich 4,7 Mio. pro Jahr. Im Rahmen der Migration wächst auch die Zahl der Flüchtlinge, die mittlerweile 60 Mio. beträgt. Auch hier sind die Steigerungen dramatisch.

Gleichzeitig wächst überproportional der Anteil der Stadtbewohner. Gegenwärtig wohnen über 54% der Weltbevölkerung[2] in Städten. 1950 waren das noch 30%, 1975 38%, im Jahr 2000 betrug die Quote 47% und 2010 52%. Erwartet wird, dass diese Zahl von 3,9 Mrd. bis 2050 auf 6,4 Mrd. ansteigt. Wöchentlich ziehen 3 Mio. Menschen in eine Stadt.[3]

Entwicklungsländer holen die Industrieländer ein. Dort lebten 1990 bereits 73% der Gesamtbevölkerung in Städten (ca. 880 Mio. Menschen), während der Prozentsatz in den Entwicklungs- und Schwellenländern nur bei 37% lag. Die Städte der Entwicklungs- und Schwellenländer werden zwischen 2000 und 2030 wohl fast das gesamte Wachstum der Weltbevölkerung aufnehmen, d.h. zusätzlich mehr als 2 Mrd. Menschen.[4]

Kraas/Bork verweisen auf die steigende Zahl der Megastädte mit mehr als 5 Millionen Einwohnern. "Befanden sich in den 1950er Jahren erst vier Megastädte in den Ländern des Südens, so waren es 1985 bereits 28 und 1990 35 - und ihre Zahl wird auf voraussichtlich mehr als 60 im Jahr 2015 steigen. Zwei Drittel der Megastädte liegen heute in Entwicklungs- und Schwellenländern, die meisten in Ost- und Südasien. Von den 969 Mio. Einwohnern der Megastädte leben 411 Millionen in Entwicklungs- und Schwellenländern (UN 2010). In einigen Megastädten - z.B. Mexiko Stadt, São Paulo, Seoul, Mumbai, Jakarta und Teheran - verdreifachten sich die Bevölkerungszahlen zwischen 1970 und 2000. Derart hohe Wachstumsraten (bis zu 1196 pro Jahr) sind ausschließlich durch massive Migrationsgewinne, v. a. durch Land-Stadt-Wanderung, innerhalb kurzer Zeit zu erklären."[5]

Vor 150 Jahren bemerkt Marx zu diesem Thema: "Die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit ist die Scheidung von Stadt und Land. Man kann sagen, daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft sich in der Bewegung dieses Gegensatzes resümiert ..."[6]

Setzen wir aber noch früher an. Sobald der homo sapiens auf die Beine kommt, benutzt er sie zum Wandern. Zunächst rennt er hinter den Beutetieren her. Adam und Eva mussten raus aus dem Paradies, dem Garten Eden der Genesis, weil sie sich an fremdem Eigentum, einem Apfel, vergriffen. Ins fruchtbare Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris zogen nach den Sumerern die Akkader, Assyrer, Babylonier, die Perser. Den Persern folgten die Makedonier, Parther, Sassaniden, Araber und schließlich die aus Mittelasien herangerittenen Osmanen. Israeliten zogen aus Ägypten, die Dorer, Ionier an die Küsten der Ägäis, die Phönizier nach Karthago, Vandalen und Goten durchs Imperium Romanum. Nach England die Angeln und Sachsen, ihnen folgten die Normannen. Die Wanderungsgeschichte der Juden kann man beim kürzlich verstorbenen Alfredo Bauer in seiner "Kritischen Geschichte der Juden" nachlesen.

Was ist der letztliche Grund für diese Wanderungen? Gewaltsame Aneignung des Mehrprodukts oder Flucht zwecks Vermeidung derselben. Mit der neolithischen Revolution breiten sich Ackerbau und Viehzucht aus, Vorratshaltung und Sesshaftigkeit. Jäger und Sammler haben das Nachsehen, wenn sie sich nicht die Ergebnisse fremder Arbeit räuberisch aneignen oder gar mittels Sklavenhaltung die Aneignung verstetigen. Die Sklavenhaltung als Produktionsweise, einmal entwickelt, erweist sich am Ende im Verhältnis zur feudalen, die dem Bauer einen Teil seiner Arbeitsergebnisse lässt, als weniger produktiv. Der Bauer wiederum kann sich erst in den Städten dem feudalen Zwang entziehen, bezahlt seine doppelte Freiheit mit dem Formwechsel der Ausbeutung.


Sogenannte ursprüngliche Akkumulation

Dieser Formwechsel heißt: ursprüngliche Akkumulation. Es geht um die Trennung der unmittelbaren Produzenten, der Bauern und Handwerker, von ihren Produktionsmitteln, die Konzentration dieser Produktionsmittel in den Händen der Kapitalisten sowie die Verwandlung der Arbeitskraft der Arbeiter in eine Ware. "Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eigenen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter. Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozess, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter. Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als 'ursprünglich', weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet. Die Ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt."[7]

Es wird schon mal der Abstand übersehen, den Marx zum Begriff "ursprüngliche Akkumulation" und seinem Autor Adam Smith hält. Das 24. Kapitel im Kapital Band I hat den Titel "Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation". Die spiele in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. "Adam biss in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde."[8] Gemeint ist doch: so wenig wie ihren Anfang, können wir das Ende der ursprünglichen Akkumulation bestimmen. "Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen."[9]

Und die Betroffenen haben nicht selten erhebliche Strecken im Zuge dieses Prozesses zu bewältigen. Ohnehin sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch. Die historisch fällige Trennung von Produzent und Produktionsmittel erscheint allzu oft als Flucht, Exil, Asyl. Oder schon mal als fallender Milchpreis wie gegenwärtig.

Wir finden sie aber auch in Syrien. Den Beginn des Krieges in und gegen Syrien datieren wir auf Februar 2011. In den Jahren zuvor hatten die Regierung Assad und die EU im Rahmen der sogenannten "Europäischen Nachbarschaftspolitik" ein Assoziationsabkommen ausgehandelt.[10] Ende 2004 lag es unterschriftsreif vor. Darin heißt es: "Ziel dieses Abkommens ist es, [...] die Voraussetzungen für die schrittweise Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs zu schaffen." (Artikel 1) Innerhalb kurzer Zeit soll eine Freihandelszone ohne jegliche Schutzmaßnahmen für die jeweilig einheimische Wirtschaft etabliert werden: "Während einer Übergangszeit von höchstens 12 Jahren ab Inkrafttreten dieses Abkommens errichten die Gemeinschaft und Syrien nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Abkommens und im Einklang mit den Bestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994," mit späteren Änderungen, (nachstehend 'GATT' genannt) schrittweise eine Freihandelszone." (Artikel 7)

Dementsprechend sollen die Zölle abgeschafft werden: "Die Einfuhrzölle der Vertragsparteien werden [...] beseitigt. Die Ausfuhrzölle der Vertragsparteien werden bei Inkrafttreten dieses Abkommens beseitigt."(Artikel 9).[11] Just zum fälligen Zeitpunkt der Gegenzeichnung durch die EU, am 14. Februar 2005, wurde der ehemalige libanesische Ministerpräsident Al-Hariri ermordet und Syrien beschuldigt, daran beteiligt gewesen zu sein. Die EU verweigerte jetzt zwar die Ratifizierung. Aber das Abkommen wurde angewandt -auch ohne Ratifizierung. Und Ende 2008 nahmen beide Seiten die Verhandlungen wieder auf, bis sie im Februar 2011 nach dem Ausbruch der Unruhen von der EU erneut ausgesetzt wurden. Schon zu diesem Zeitpunkt erweisen sich die sozialen Folgen der Maßnahmen als katastrophal. Einige Aspekte springen ins Auge: "Die Öffnung des syrischen Marktes habe höchst 'schädliche Auswirkungen' auf das einheimische Handwerk, bestätigte letztes Jahr die International Crisis Group. Dies treffe zum Beispiel auf Duma zu, einen Vorort von Damaskus, in dem zahlreiche Handwerker lebten; sie stünden auf Grund der Liberalisierung vor dem Ruin und hätten dem Regime deshalb ihre Loyalität aufgekündigt." Offiziell lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2009 bei 8,1%, inoffizielle Schätzungen gingen allerdings von 24,4% aus.[12]

Das "Miet- und Immobiliengesetz Nr. 6" hatte zur Folge, dass es "Vermietern erleichtert wurde, Mieter aus Häusern mit ehemals gebundener Miete zur Räumung zu zwingen." Generell wurden durch das "Wettbewerbs- und Anti-Monopol-Gesetz" von 2008 die meisten Bedarfsgüter von der Preisbindung befreit, auch die Subventionen des Energiesektors wurden eingestellt. Die Abschaffung von Preiskontrollen führte zu einem sprunghaften Anstieg der Inflation - einschließlich steigender Mieten belief sie sich auf 17-20% zwischen 2006 und 2008 (in den 1990er Jahren waren es lediglich 5% jährlich gewesen). Besonders drastisch wirkte sich die Abschaffung von Subventionen für Düngerersatzstoffe, Elektrizität, Diesel und Benzin aus. Selbst die Europäische Union gestand in ihrem "Nationalen Indikativprogramm 2011-2013" ein, dass die "Reduzierung von Benzinsubventionen und die hohe Inflationsrate negative Auswirkungen auf die Armutssituation im Jahr 2008 gehabt haben."[13]

Marx gibt uns das englische Beispiel, wo noch im 15. Jahrhundert die übergroße Mehrzahl der Bevölkerung aus freien Bauern bestand, "durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigentum immer versteckt sein mochte".[14] Die wirtschaftliche Blüte der Wollmanufakturen in Flandern ließ seinerzeit die Preise für Wolle steigen und bot den Anreiz der Verwandlung von Ackerland in Schafweide. Die Folge war Verarmung, Verfall von Dörfern und Landstädten, die Entvölkerung des Landes. Die Gesetzgebung "erschrak vor dieser Umwälzung"[15] und hielt vergeblich dagegen. Die Reformation im 17. Jahrhundert gab einen weiteren Anstoß im Zuge dieser Entwicklung mit dem Diebstahl der Kirchengüter und Klöster, deren Einwohner ins Proletariat geschleudert wurden. Die "glorious revolution" brachte mit dem Oranier Wilhelm III. die grundherrlichen und kapitalistischen Plusmacher zur Herrschaft. Jetzt ging es an die Staatsdomänen, die verschenkt, zu Spottpreisen verkauft und gleich privat annektiert wurden - frei von jedweder gesetzlicher Etikette, wie Marx sagt. Die neue Grundaristokratie war "die natürliche Bundesgenossin der neuen Bankokratie, der eben aus dem Ei gekrochnen hohen Finanz und der damals auf Schutzzölle sich stützenden großen Manufakturisten".[16] Das überkommene Gemeindeeigentum hatte noch unter der Decke der Feudalität fortleben können. "Der Fortschritt des 18. Jahrhunderts offenbart sich darin, dass das Gesetz selbst jetzt zum Vehikel des Raubs am Volksland wird."[17]

Zum letzten großen Expropriationsprozess der Ackerbauer von Grund und Boden wurde das sogenannte Clearing of Estates, das Lichten der Güter. In Schottland vertrieb man die Bauern mit offener Gewalt. "Im 18. Jahrhundert wurde zugleich den vom Land verjagten Gälen die Auswanderung verboten, um sie gewaltsam nach Glasgow und andren Fabrikstädten zu treiben. Als Beispiel der im 19. Jahrhundert herrschenden Methode genügen hier die 'Lichtungen' der Herzogin von Sutherland. Diese ökonomisch geschulte Person beschloss gleich bei ihrem Regierungsantritt eine ökonomische Radikalkur vorzunehmen und die ganze Grafschaft, deren Einwohnerschaft durch frühere, ähnliche Prozesse bereits auf 15.000 zusammengeschmolzen war, in Schaftrift zu verwandeln. Von 1814 bis 1820 wurden diese 15.000 Einwohner, ungefähr 3.000 Familien, systematisch verjagt und ausgerottet. Alle ihre Dörfer wurden zerstört und niedergebrannt, alle ihre Felder in Weide verwandelt."[18] "Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen; der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogne Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation. Sie eroberten das Feld für die kapitalistische Agrikultur, einverleibten den Grund und Boden dem Kapital und schufen der städtischen Industrie die nötige Zufuhr von vogelfreiem Proletariat."[19]

Danach schildert Marx die Gesetzgebung gegen die Expropriierten. "Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vage]freie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. Andrerseits konnten die plötzlich aus ihrer gewohnten Lebensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in die Disziplin des neuen Zustandes finden. Sie verwandelten sich massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände. Ende des 15. und während des ganzen 16. Jahrhunderts daher in ganz Westeuropa eine Blutgesetzgebung wider Vagabundage. Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als 'freiwillige' Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten."[20] Das Landvolk wurde "durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert".[21]

Gegenwärtig wird für diesen Vorgang das Wort Integration abgenutzt. Marx zitiert Thomas Morus: "So geschieht's, daß ein gieriger und unersättlicher Vielfraß, die wahre Pest seines Geburtslandes, Tausende von Acres Land zusammenpacken und innerhalb einer Umpfählung oder einer Hecke einzäunen, oder durch Gewalt und Unbill ihre Eigner so abhetzen kann, daß sie gezwungen sind, alles zu verkaufen. Durch ein Mittel oder das andre, es mag biegen oder brechen, werden sie genötigt fortzutrollen - arme, einfältige, elende Seelen! Männer, Weiber, Gatten, Frauen, vaterlose Kinder, Witwen, jammernde Mütter mit ihren Säuglingen und der ganze Haushalt, gering an Mitteln und zahlreich an Köpfen, da der Ackerbau vieler Hände bedurfte. Weg schleppen sie sich, sage ich, aus der bekannten und gewohnten Heimstätte, ohne einen Ruheplatz zu finden; der Verkauf von all ihrem Hausgerät, obgleich von keinem großen Wert, würde unter andren Umständen einen gewissen Erlös geben; aber plötzlich an die Luft gesetzt, müssen sie ihn zu Spottpreisen losschlagen. Und wenn sie umhergeirrt, bis der letzte Heller verzehrt ist, was anders können sie tun außer stehlen und dann, bei Gott, in aller Form Rechtens gehangen werden, oder auf den Bettel ausgehn? Und auch dann werden sie ins Gefängnis geschmissen, als Vagabunden, weil sie sich herumtreiben und nicht arbeiten; sie, die kein Mensch an die Arbeit setzen will, sie mögen sich noch so eifrig dazu erbieten." Von diesen armen Flüchtlingen, von denen Thomas Morus sagt, daß man sie zum Diebstahl zwang, "wurden 72.000 große und kleine Diebe hingerichtet unter der Regierung Heinrich des Achten". Zu Elisabeths Zeiten wurden "Land-Streicher reihenweise aufgeknüpft; indes verstrich gewöhnlich kein Jahr, worin nicht 300 oder 400 an einem Platz oder dem andren dem Galgen anheimfielen".[22]

Im Jahre 1732 war Leopold von Firmian, Erzbischof von Salzburg, den Protestantismus leid, der sich im Pongau breit gemacht hatte. Nachdem die zwangsweisen Bekehrungsversuche von Jesuiten vergeblich gewesen waren, ließ er 20.000 Protestanten abschieben. Ein Fünftel überlebte das nicht. Der Rest fand als Salzburger Exilanten in Preußen auf Einladung von Friedrich Wilhelm I (1688-1740) eine neue Heimat. Die Ausweisung war teuer, sie erwies sich für Salzburg als wirtschaftlich katastrophal. In Ostpreußen hingegen, das die Pest von 1709 entvölkert hatte, verbesserte sich die Wirtschaftsbilanz durch diese "Repeublierung".

Der König wies auch einer Gruppe von 350 flüchtigen Hussiten ("Herrnhuter", "Böhmische Brüder") das Dorf Rixdorf außerhalb Berlins, heute in der Nähe des Karl-Marx-Platzes in Neukölln, als Wohnort zu. Die dankbaren Nachkommen setzten Friedrich Wilhelm I. ein Denkmal in der Kirchgasse nahe Comenius-Park und Jan-Hus-Gasse. Schon sein Großvater, der Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, selbst Calvinist, hatte 20.000 Hugenotten aufgenommen. In der Folge der Hugenottenkriege des 16. Jahrhunderts wanderten 200.000 französische Calvinisten, in der Regel tüchtige Bürger und Handwerker, in die protestantischen Staaten aus. Sie fanden in der Schweiz, den Niederlanden, in England, Irland, Deutschland und Nordamerika eine neue Heimat und waren in der Regel wirtschaftlich erfolgreich. Sie entwickelten Textil- und Seidenmanufakturen, führten in Deutschland den Tabakanbau ein, fertigten Schmuck und handelten mit ihm. Alles Tätigkeiten, die der Handelsbilanz gut taten. Für beide Herrscher waren - bis auf das Detail der Herrschaftsform - die bürgerlichen Niederlande und ihr ökonomischer Erfolg eine wichtige Orientierung. Einen Hinweis gibt das Holländische Viertel im Zentrum Potsdams, das der Enkel zwischen 1733 und 1742 unter Leitung des holländischen Baumeisters Johann Boumann erbauen ließ.


Auswanderung nach Nordamerika

Die Kurpfalz war infolge des Dreißigjährigen Krieges entvölkert. Um 75 bis 80% war die Zahl der Einwohner zurückgegangen.[23] Kurfürst Karl Ludwig (1617-1680) warb um Neusiedler aus Nachbargebieten, aber auch aus den spanischen Niederlanden, der Schweiz, Tirol und Frankreich. Häufig konfessionell verfolgt, folgten sie der Einladung. Indes blieb der wirtschaftliche Erfolg aus, erst recht im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekrieges Ende des 17. Jahrhunderts (1688-1697). Französische Truppen besetzten das Land. Viele Städte waren zerstört. Die Bevölkerung floh. Die Neusiedler zuerst. Schon 1660 ließen sich Hugenotten, die zuvor in Mannheim Zuflucht gefunden hatten, in der englischen Kolonie am Hudson River nieder. Ihre 1677 gegründete Siedlung nannten sie New Paltz. Auch der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714) löste Auswanderung aus. Nach der Erntekrise von 1708/09 machten sich rund 13.000 Menschen aus der Kurpfalz auf den Weg nach England, um von dort in die nordamerikanischen Kolonien auszuwandern. Englische Großgrundbesitzer erhofften sich eine rasche Erschließung ihrer Ländereien. Tatsächlich wurde den Pfälzern im Mai 1708 die Ansiedlung in der Kronkolonie New York gewährt. Sie gründeten hier die Siedlung Neuburg (Newburgh). Den Auswanderern, die 1709 hoffnungsfroh über Holland nach London gekommen waren, viele aus Rheinhessen, der Vorderpfalz, vom Hunsrück, dem Westerwald, wurde indes die Weiterfahrt verweigert. Sie hatten zunächst Platz in einem Flüchtlingslager in der Nähe von London gefunden, aber dauerhaft wollte man die Flüchtlinge nicht versorgen. Die Katholiken unter ihnen wurden wieder zurückgeschickt, Protestanten nach Irland verbracht. In die Schiffe, die nach Amerika segelten, gelangten lediglich 3000 Personen. 800 von ihnen überlebten die Reise nicht. Die anderen erfuhren in New York, dass sie für die Kosten ihrer Überfahrt aufzukommen hatten. Sie wurden in die Pinienwälder geschickt, sollten dort zunächst Teer und Masten für den Schiffsbau herstellen. Protest unterdrückten britische Truppen.

Schätzungsweise 100.000 Deutsche wanderten bis zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten in die britischen Kolonien Nordamerikas aus. Vor allem am Mittel- und Oberrhein konnten sich Werber im Auftrag von interessierten Regierungen, Großgrundbesitzern und Reedern tummeln. Wenn die Auswanderer nach vier bis sechs Wochen in Rotterdam anlangten, waren sie in der Regel schon mittellos. Zur Finanzierung der Weiterfahrt verdingten sie sich als "Redemptioner". Sie verpflichteten sich gegenüber dem Kapitän zu jahrelanger Arbeit ohne Bezahlung nach der Ankunft in Amerika. Gottlieb Mittelberger aus Württemberg beschrieb 1750 die Zustände während der sechs- bis achtwöchige Reise im Zwischendeck eines Segelschiffs. Es starben 32 Kinder. Die Leichen wurden ins Meer geworfen. "Während der Seefahrt aber entstehet in denen Schiffen ein Jammervolles Elend, Gestank, Dampf, Grauen, Erbrechen, mancherley See-Krankheiten, Fieber, Ruhr, Kopfweh, Hitzen, Verstopfungen des Leibes, Geschwulsten, Scharbock, Krebs, Mundfäule, und dergleichen, welches alles von alten und sehr scharf gesalzenen Speisen und Fleisch, auch von dem sehr schlimmen und wüsten Wasser herrühret, wodurch sehr viele elendiglich verderben und sterben. Dieser Jammer steiget alsdann aufs höchste, wann man noch 2 bis 3 Tag und Nacht Sturm ausstehen muß, dass man glaubt samt Schiff zu versinken und die so eng zusammen gepackte Leute in den Bettstatten dadurch übereinander geworfen werden, Kranke wie die Gesunde; manches seufzet und schreyet: Ach! wäre ich wieder zu Hause und läge in meinem Schweinestall."[24]

Es gelangten pfälzische Mennoniten auf Einladung des Quäkers William Penn nach Pennsylvania. Seine Kolonie wurde zum wichtigsten Ziel in Amerika. Zwischen 1727 bis 1755 registrierten die Hafenbehörden von Philadelphia 239 Schiffe mit deutschen Immigranten. Allein 1749 trafen 7000 Passagiere aus Deutschland ein. 1751 gab Benjamin Franklin den Überfremdungsängsten der englischen Bevölkerung Pennsylvanias Ausdruck. Er bezeichnete die Integrationsverweiger als Palatine Boors, als Pfälzer Bauernlümmel. 1790 ergab die erste Volkszählung in den USA vier Millionen Einwohner. Der Anteil der Deutschstämmigen betrug 8,6%. Pennsylvania wies mit 33% den weitaus höchsten Wert auf, gefolgt von Maryland (12%), New Jersey (9%) und New York (8%). 757.000 der Einwohner der USA waren Sklaven.[25] [...]

In Irland herrschte in den Jahren 1845 bis 1852 Hungersnot, unter anderem durch die Kartoffelfäule, durch die eine Million Menschen, 12% der irischen Bevölkerung, starben. Zwei Millionen wanderten aus. Marx untersucht sehr detailliert[26] die Entwicklung und ihre Folgen. Zersplitterte Produktionsmittel, die den Produzenten selbst als Beschäftigungs- und Subsistenzmittel dienen, ohne sich durch Einverleibung fremder Arbeit zu verwerten, seien ebensowenig Kapital, als das von seinem eigenen Produzenten verzehrte Produkt Ware ist. Wenn mit der Volksmasse auch die Masse der in der Agrikultur angewandten Produktionsmittel abnähme, so habe die Masse des in ihr angewandten Kapitals zugenommen, weil ein Teil früher zersplitterter Produktionsmittel in Kapital verwandelt werden sei. "Das außerhalb der Agrikultur, in Industrie und Handel angelegte Gesamtkapital Irlands akkumulierte während der letzten zwei Dezennien langsam und unter beständiger großer Fluktuation. Umso rascher entwickelte sich dagegen die Konzentration seiner individuellen Bestandteile. Endlich, wie gering immerhin sein absolutes Wachstum, relativ, im Verhältnis zur zusammengeschmolzenen Volkszahl, war es angeschwollen."[27] Die Hungersnot habe 1846 über eine Million Menschen erschlagen, aber nur arme Teufel. Das habe dem Reichtum des Landes nicht den geringsten Abbruch getan. Die landwirtschaftliche Produktion war gemindert, auch die Menge an Vieh nahm ab. Dennoch stiegen mit dem Bevölkerungsschwund fortwährend Bodenrenten und Pachtprofite, denn die Konzentration von Pachtland und die Umwandlung von Ackerland in Viehweide verwandelte einen größeren Teil des Gesamtprodukts in Mehrprodukt. Folglich dezimierte der nachfolgende zwanzigjährige und stets noch anschwellende Exodus nicht, wie etwa der Dreißigjährige Krieg, mit den Menschen zugleich ihre Produktionsmittel.


Relative Übervölkerung

Und 1867 war die relative Übervölkerung so groß wie vor 1846, der Arbeitslohn ebenso niedrig, die Arbeitsplackerei größer. "Die Revolution in der Agrikultur hielt Schritt mit der Emigration. Die Produktion der relativen Übervölkerung hielt mehr als Schritt mit der absoluten Entvölkerung."[28]

"Hier entrollt sich also, unter unsren Augen, auf großer Stufenleiter, ein Prozeß, wie die orthodoxe Ökonomie ihn nicht schöner wünschen konnte zur Bewähr ihres Dogmas, wonach das Elend aus absoluter Übervölkerung entspringt und das Gleichgewicht durch Entvölkerung wiederhergestellt wird."[29]

Was hat es mit dem Begriff "relative Übervölkerung" auf sich? Die Übervölkerung ist relativ, weil Arbeiter und Angestellte im Verhältnis zur Verwertung des Kapitals und seiner wachsenden organischen Zusammensetzung überflüssig werden. Der Anteil des variablen Kapitals sinkt. Arbeitskräfte werden aus der Produktion gedrängt und fungieren im zyklischen Verlauf des Produktionsprozesses als industrielle Reservearmee. Wir sagen heute Arbeitslosigkeit dazu. Die beträgt, wenn man alle tatsächlich Arbeitsuchenden wieder in die Statistik hineinrechnet, in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig 5 Millionen. [...]


Schlussgedanke

Es ist ziemlich genau 10 Jahre her, da veröffentliche die Rheinische Post, 3. Juni 2006, ein Foto mit der Erläuterung: "Drama auf den kanarischen Inseln. Ein erschöpfter Afrikaner kriecht auf den Strand von Gran Tajaral auf Fuerteventura, während sich im Hintergrund Urlauber sonnen."

Eine ähnliche Konfrontation schildert sehr viel früher ein Asylant, einer der bekannteren von damals schätzungsweise 20.000 Deutschen im Pariser Exil:

... ohne zu wissen wie, befand ich mich plötzlich auf der Landstraße von Havre, und vor mir her zogen, hoch und langsam, mehre große Bauerwagen, bepackt mit allerlei ärmlichen Kisten und Kasten, altfränkischem Hausgeräte, Weibern und Kindern. Nebenher gingen die Männer, und nicht gering war meine Überraschung als ich sie sprechen hörte - sie sprachen deutsch, in schwäbischer Mundart. Leicht begriff ich, daß diese Leute Auswanderer waren, und als ich sie näher betrachtete, durchzuckte mich ein jähes Gefühl, wie ich es noch nie in meinem Leben empfunden, alles Blut stieg mir plötzlich in die Herzkammern und klopfte gegen die Rippen, als müsse es heraus aus der Brust, als müsse es so schnell als möglich heraus, und der Atem steckte mir in der Kehle. [...]

"Und warum habt ihr denn Deutschland verlassen?", fragte ich diese armen Leute. "Das Land ist gut, und wären gern dageblieben", antworteten sie, "aber wir konnten's nicht länger aushalten -"

Nein, ich gehöre nicht zu den Demagogen, die nur die Leidenschaften auflegen wollen, und ich will nicht alles wiedererzählen, was ich auf jener Landstraße, bei Havre, unter freiem Himmel, gehört habe über den Unfug der hochnobelen und allerhöchst nobelen Sippschaften in der Heimat - auch lag die größere Klage nicht im Wort selbst, sondern im Ton, womit es schlicht und grad gesprochen oder vielmehr geseufzt wurde. Auch jene armen Leute waren keine Demagogen; die Schlußrede ihrer Klage war immer: "Was sollten wir tun? Sollten wir eine Revolution anfangen?"

Ich schwöre es bei allen Göttern des Himmels und der Erde, der zehnte Teil von dem, was jene Leute in Deutschland erduldet haben, hätte in Frankreich sechsunddreißig Revolutionen hervorgebracht und sechsunddreißig Königen die Krone mitsamt dem Kopf gekostet.

"Und wir hätten es doch noch ausgehalten und wären nicht fortgegangen", bemerkte ein achtzigjähriger; also doppelt vernünftiger Schwabe, "aber wir taten es wegen der Kinder. Die sind noch nicht so stark wie wir an Deutschland gewöhnt und können vielleicht in der Fremde glücklich werden; freilich, in Afrika werden sie auch manches ausstehen müssen."

Diese Leute gingen nämlich nach Algier, wo man ihnen unter günstigen Bedingungen eine Strecke Landes zur Kolonisierung versprochen hatte. "Das Land soll gut sein", sagten sie, "aber wie wir hören, gibt es dort viel giftige Schlangen, die sehr gefährlich, und man hat dort viel auszustehen von den Affen, die die Früchte vom Felde naschen oder gar die Kinder stehlen und mit sich in die Wälder schleppen. Das ist grausam. Aber zu Hause ist der Amtmann auch giftig, wenn man die Steuer nicht bezahlt, und das Feld wird einem von Wildschaden und Jagd noch weit mehr ruiniert, und unsere Kinder wurden unter die Soldaten gesteckt - was sollten wir tun? Sollten wir eine Revolution anfangen?"


Heinrich Heine, Paris, den 17. Oktober 1833[30]


Klaus Stein,
Köln, Lehrer i.R., Mitherausgeber der Marxistischen Blätter


Anmerkungen

[1] IOM 2015.

[2] UN DESA 2014.

[3] UN Habitat 2009.

[4] Angaben der UN, zitiert nach Frauke Kraas/Tabea Bork "Urbanisierung und internationale Migration: Versuch einer Standortbestimmung", Baden-Baden 2012, S. 14f.

[5] Kraas/Bork, S. 15.

[6] MEW 23, 373.

[7] MEW 23, 742 f.

[8] MEW 23, 741.

[9] MEW 23, 744.

[10] Siehe: Jürgen Wagner, Imperialer Neoliberalismus: Syrien und die Europäische Nachbarschaftspolitik. IMI-Studie Nr. 12/2012 vom 3.8.2012.

[11] Wagner, S. 5.

[12] Wagner, S. 8.

[13] Wagner, S. 8.

[14] MEW 23, 745.

[15] MEW 23, 746.

[16] MEW 23, 752.

[17] MEW 23, 752.

[18] MEW 23, 757 f.

[19] MEW 23, 760 f.

[20] MEW 23, 761 f.

[21] MEW 23, 765.

[22] MEW 23, 764, Anmerkung 22 1a.

[23] Siehe: Helmut Schmahl, Auswanderung aus Rheinland-Pfalz im Netz,
http://www.auswanderung-rlp.de/das-projekt.html.

[24] Gerhard E. Solbach: Reise des schwäbischen Schulmeisters Gottlieb Mittelberger nach Amerika 1750-1754. Wyk auf Föhr 1992, S. 36.

[25] Massimo Livi Bacci, Kurze Geschichte der Migration, Berlin 2015, S. 101.

[26] MEW 23, 728 ff.

[27] MEW 23, 731.

[28] MEW 23, 732.

[29] MEW 23, 731.

[30] Heinrich Heine, Werke und Briefe, Berlin und Weimar 1980, Band 4, S. 587 ff.

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 5-16, 54. Jahrgang, S. 59-70
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2016

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