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MARXISTISCHE BLÄTTER/632: Markt, Wettbewerb und Medizin


Marxistische Blätter Heft 1-17

Markt, Wettbewerb und Medizin

von Hans-Ulrich Deppe


Weltweit gibt es ... kein Gesundheitswesen, das rein marktwirtschaftlich organisiert ist. Es geht hier allenfalls um ein Mehr oder Weniger. Der Staat, das politische Gemeinwesen, hat überall bei der Gestaltung und Organisation des Umgangs mit Krankheit und Gesundheit letztlich die Verantwortung, selbst bei der Entscheidung darüber, welche Teile des Gesundheitswesens dem Markt preisgegeben werden. Warum? Es hat sich herausgestellt, dass der Kern von Gesundheit oder Krankheit keinen Warencharakter(1) annehmen kann. Waren sind nämlich Arbeitsprodukte, die für den Markt und damit den Verkauf hergestellt werden. Das hängt u.a. mit folgenden Besonderheiten zusammen:

- Gesundheit ist sowohl Voraussetzung als auch Resultat menschlichen Lebens. Gesundheit und Krankheit prägen die Art und Weise wie Menschen ihr Leben gestalten. Gesundheit ist ein lebensnotwendiges Gut. Es hat den Charakter eines Gebrauchswerts zur Befriedigung individueller existenzieller Bedürfnisse ähnlich wie Atemluft, Trinkwasser, Bildung oder Verkehrs- und Rechtssicherheit. Der daraus entstehende gesellschaftliche Bedarf wird in allen europäischen Ländern als öffentliche Aufgabe anerkannt und sozial abgesichert. Deshalb sollte bei der Förderung der Gesundheit und der Versorgung von Krankheit niemand von der Nutzung der dafür durch politische Entscheidungen bereitgestellten Leistungen ausgeschlossen werden.

- Die Herstellung von Gesundheit oder ihr Verbrauch erzeugt überdies einen Nutzen, der über den unmittelbaren Konsumnutzen des Einzelnen hinausgeht und einen kollektiven Nutzen erbringt.(2) Letzterer lässt sich nur gesellschaftlich und nicht betriebswirtschaftlich regulieren. Es geht dabei in der bürgerlichen Gesellschaft wesentlich um die Qualifikation der Ware Arbeitskraft. Diese besteht nicht allein in dem, was dem jeweiligen Individuum persönlich hilft und nützt, sondern auch und vor allem in einer Qualifizierung, die die Verwertung der Ware Arbeitskraft im Prozess der Kapitalakkumulation verbessert.(3)

- Auf Krankheit kann nicht wie auf bestimmte Konsumgüter oder Dienstleistungen verzichtet werden.

- Krankheit ist oft nicht zeitlich befristet. Insbesondere im Alter ist sie häufig Leben begleitend. Zudem können Spätfolgen auftreten.

- Der Patient weiß nicht, wann er krank wird, an welcher Krankheit er leiden wird. Er hat in der Regel nicht die Möglichkeit, Art, Zeitpunkt und Umfang der in Anspruch zu nehmenden Leistungen selbst bestimmen zu können. Krankheit ist ein von den Individuen kaum steuerbares Ereignis. Es ist ein allgemeines Lebensrisiko (soziales Risiko), das mit einem hohen Grad an Unsicherheit(4) verbunden ist.

- Der Patient befindet sich durch sein Kranksein in einer Position der Schwäche, Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Dies ist nicht selten verbunden mit Angst, Schmerz und Scham. Der Patient bedarf deshalb eines besonderen Schutzes.(5)

- Das Arzt-Patient-Verhältnis ist keine gewöhnliche Produzenten-Konsumenten-Beziehung. Es gibt kein Gleichgewicht von Anbietern und Nachfragern. Der nachfragende Patient wird mit dem "Monopol" des ärztlichen Wissens konfrontiert. Er weiß nicht, durch welche Zielsetzungen die Handlungen seines Arztes motiviert sind. Es besteht Anbieterdominanz.

- Die Nachfrage ist in vielen Fällen angebotsinduziert. Sie erfolgt zunächst unspezifisch und wird erst durch die Kompetenz eines medizinischen Experten spezifiziert und definiert. Der Arzt diagnostiziert, berät über Art und Umfang der Leistung und führt diese in vielen Fällen selbst durch. Dabei können Anreize bestehen, die Behandlungsleistungen anhand anderer Parameter zu optimieren. Aufgrund der begrenzten Wissenschaftlichkeit der praktischen Medizin hat der Arzt überdies einen breiten Ermessensspielraum bei seinen diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen (Indikationsstellung). Evidence-based Medicine, die strikte Anwendung wissenschaftlich gesicherter Forschungsergebnisse, könnte hier Richtung weisend sein.

- Die Konsumentensouveränität(6) ist im Gesundheitswesen deutlich eingeschränkt. Der Patient ist nämlich in der Regel nicht in der Lage, die ärztliche Tätigkeit fachkundig beurteilen oder kontrollieren zu können. Es besteht ein erhebliches Informations- und Kompetenzgefälle zwischen ihm und dem sachverständigen Arzt. Entscheidungen von Patienten sind deshalb von Defiziten, "sachfremden" Kriterien und Unsicherheiten geprägt. Informationen über die Qualität eines Arztes sind unzureichend und resultieren in der Regel aus informellen Hinweisen von Laien.

- Der Patient befindet sich im Augenblick der Nachfrage häufig bis regelmäßig in einer Situation, in der ihm die Beobachtung des Marktes nach geeigneten Leistungen und Anbietern sowie das Aushandeln von Leistungen und Preisen nicht zugemutet werden kann. Insbesondere bei ernsthaften akuten Erkrankungen, bei psychiatrischen Krankheiten oder im hohen Alter ist er in einem Zustand, der rationale Entscheidungen reduziert. Auch ist umgekehrt der rationale Zugang zum Patienten nicht immer gewährleistet.

- Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen ist darüber hinaus nicht preiselastisch, d. h. dass sie mit sinkenden Preisen steigt bzw. mit steigenden Preisen sinkt. Entscheidungen über Innovationen, Produktion, Versorgungsstrukturen, Mengen und Preise in der Krankenversorgung können nicht wie auf Gütermärkten im Wege individuell konkurrierender Suchprozesse nach dem jeweiligen ökonomischen Nutzenprinzip getroffen werden. Geht es doch bei einem großen Teil der Nachfrage - und gerade bei lebenswichtigen - um ärztlich verordnete bzw. veranlasste Leistungen. In der therapeutischen Situation wird das medizinisch Notwendige nicht verkauft, sondern verordnet.

- Und schließlich: In der Regel haben diejenigen Patienten den größten Bedarf an Gesundheitsleistungen, die aus den unteren Sozialschichten kommen und über die geringsten finanziellen Ressourcen verfügen.(7) Sie haben übrigens auch die niedrigsten Lebenserwartungen.

Schon die Beschreibung des Verhältnisses von Markt und Patient macht deutlich, dass hier öffentliche Schutz- und Sicherungsfunktionen wahrgenommen werden müssen. Und die meisten der aufgeführten Argumente gelten nicht nur für den Patienten, also den bereits Kranken in medizinischer Behandlung, sondern auch für den noch gesunden Versicherten. Die subjektive Einschätzung von Krankheit und Gesundheit hängt nicht selten von dem jeweiligen Zustand eines Menschen ab. Ist er gesund, so überschätzt er gerne seine Gesundheit und unterschätzt das Krankheitsrisiko. Im Krankheitsfall ist es umgekehrt. Es muss damit gerechnet werden, dass Menschen negative Zukunftserwartungen verdrängen und optimistisch in der Gegenwart leben. Durch die Minderschätzung künftiger Lebensereignisse wird vielfach die richtige Zukunftsentscheidung verhindert.

Es spricht viel dafür, dass die Versorgung von Krankheit sich nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage unterwerfen lässt, denn Märkte reagieren nur auf Kosten, die sich in Preisen ausdrücken. Reflexive Konzepte, die davon ausgehen, dass marktwirtschaftlich erzeugte Defizite sich auch durch marktwirtschaftliche Steuerung im Sinne einer "Selbstheilung" beheben lassen, können offensichtlich nicht auf die Krankenversorgung, ohne Schaden zu erzeugen, übertragen werden. Dagegen spricht auch die Geschichte ihrer Institutionalisierung. Das Gesundheitswesen gilt deshalb als ein Beispiel für die Theorie des Marktversagens.(8) [...]

Die Ergebnisse, die die Verteilungskräfte des Marktes, die "invisible hands" (Adam Smith), hervorbringen können, sind also hier offensichtlich insuffizient. Sie werden allerdings nicht selten von interessierter Seite zur Befriedigung kommerzieller Ziele genutzt. Der Staat, das Gemeinwesen, hat deshalb wichtige Aufgaben wahrzunehmen. Er hat strukturbedingte Widersprüche zu kompensieren. Richtungweisende Entscheidungen und Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen müssen in einer Demokratie politisch gefällt, im Vertrags- und Leistungsrecht formuliert und finanziell gefördert werden. Gleichwohl kennen wir Gesundheitssysteme, in denen Märkte - Teilmärkte und Quasi-Märkte - existieren, die die Grundlage für Wettbewerb bilden. Es macht deshalb Sinn sich einmal anzuschauen, wie sich wirtschaftliche Konkurrenz im Gesundheitswesen auf die Art der Krankenversorgung bis in die intimen Beziehungen zwischen Arzt und Patient hinein auswirkt.

Wirtschaftliche Konkurrenz und Krankheit

Der Markt ist also die Voraussetzung für die Ausübung von Konkurrenz. Erst dann kann um das günstigste Angebot gehandelt werden. Gemeinhin heißt es: "Konkurrenz belebt das Geschäft". Angst vor dem Verlust der materiellen Existenzgrundlage oder das Streben nach Gewinn als Triebkraft individuellen Handelns erzwingt persönliche Initiative und Kreativität. Selbstbestimmte Lebensformen entstehen zwar so nicht, aber für die Nachfrager und Konsumenten wird eine Vielfalt von Wahlmöglichkeiten geschaffen. Diese können jedoch nur sinnvoll genutzt werden, wenn der Markt transparent ist und ständig beobachtet wird. Dabei kommt es nicht selten zu erheblichen Unübersichtlichkeiten. Die Konkurrenz ist freilich kein Naturphänomen, sondern entspringt Beziehungen, die Menschen bewusst unter spezifischen Bedingungen miteinander eingehen. Sie ist historisch vermittelt und folglich veränderbar. Sie ist die Grundlage des Zwangs zur Akkumulation in der kapitalistischen Gesellschaft. Konkurrenz ist ein Gesellschaftsprinzip. Mit Recht heißt es deshalb: "Wettbewerb ist in der Marktwirtschaft das Wetteifern der einzelnen am Wirtschaftsprozess beteiligten Subjekte mit dem Ziel des größten Gewinns. Einen 'solidarischen Wettbewerb' wird es nicht geben".(9) Bei Strafe des Untergangs ist das einzelne Wirtschaftssubjekt auf dem glatten Parkett des Wettbewerbs dazu gezwungen, den Eigennutz zur handlungsleitenden Maxime zu machen - bis hin zum sozialdarwinistischen Prinzip des "Survival of the fittest" (Herbert Spencer).

Mit welchen Auswirkungen ist also infolge einer um sich greifenden Konkurrenz zu rechnen?

Wettbewerb individualisiert und stellt den Eigennutz über das Gemeinwohl. Er kann Gesellschaft zerstörende Potenziale entfalten.

- Mit der Expansion und Intensivierung des Neoliberalismus hat sich Wettbewerb sogar zur "hypercompetition" entwickelt.(10) Sie zeichnet sich durch die ständige Initiative aus, Vorsprung und Vorteil zu verteidigen. Was in diesem Umfeld zählt, ist der Bruch mit dem status quo durch permanente Aggressivität. Und die Unternehmen wissen, wenn sie es nicht tun, machen es ihre Konkurrenten. Die Kassenärzte haben dieses Phänomen bereits 1996 und in den Jahren danach als "Hamsterradeffekt" erfahren müssen.

- Wettbewerb korrespondiert generell - aber insbesondere in der gegenwärtigen Phase der Umgestaltung des Öffentlichen Sektors - mit der Metapher vom "Rosinenpicken" oder "Absahnen". Als Steuerungsinstrument wirkt Wettbewerb deshalb sozial selektiv und polarisierend. Er ist damit gegen Solidarität gerichtet und zerstört soziale Kohäsionen. Das Resultat von Konkurrenz ist immer: Gewinner und Verlierer. Und die Verlierer sind die Schwachen.

- Wettbewerbsbedingte Risikoselektion ist immer auf die guten Risiken gerichtet. Bedenkt man, dass in westlichen Gesellschaften etwa 30 Prozent aller Leistungsausgaben auf die teuersten 1 Prozent der Versicherten und etwa 80 Prozent aller Leistungsausgaben auf 10 Prozent der Versicherten entfallen,(11) so wird deutlich, welchen finanziellen Nutzen eine Krankenkasse daraus ziehen kann, wenn es ihr gelingt, den Anteil dieser Gruppe an ihrem Versichertenkreis möglichst niedrig zu halten. Auf diesem Weg können viel wirksamer Kostenvorteile gegenüber den Konkurrenten erzielt werden als etwa über die Schaffung neuer Versorgungsstrukturen. Daher behindert der Kassenwettbewerb eher notwendige Innovationen, als dass er sie fördert. Insbesondere gilt das für die erforderlichen Verbesserungen bei der Versorgung chronisch Kranker. Nach dieser Logik können nämlich Krankenkassen kein Interesse daran haben, kostenintensive Versorgungsstrukturen für chronisch Kranke aufzubauen und dafür zu werben, weil sie damit Gefahr laufen, die teuren Versicherten anderer Kassen anzulocken. Besonders deutlich wird das bei der Umsetzung von Modellen der Prävention und Gesundheitsförderung. Diese Erkenntnis führte 2002 zur Änderung des Risikostrukturausgleichs zwischen den Kassen.

- Unter einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive - und dabei denke ich auch an das Gesundheitswesen - wirkt Konkurrenz verteuernd und ist unwirtschaftlich. Am offensichtlichsten treibt sie die Verwaltungs- und Werbungskosten in die Höhe (siehe USA). Auch das ist nicht neu. Dazu schrieb schon Karl Marx 1867: "Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem individuellen Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, neben einer Unzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen."(12)

- Wettbewerb ist auf Expansion angelegt. Das Sozialgesetzbuch spricht indessen für die Leistungen der Krankenversicherung von einem "Wirtschaftlichkeitsgebot".(13) Dieses widerspricht im Grunde einer Wettbewerbsorientierung. Wirtschaftlichkeit erfordert nämlich Beschränkung auf das Notwendige.(14) Die Herstellung von Gesundheitsgütern soll nicht maximiert werden, sondern zweckmäßig und ausreichend sein. Hier provoziert existentieller Wettbewerb die Überschreitung des medizinisch Notwendigen. Und im Gesundheitswesen sind Innovationen auch nicht um jeden Preis gefragt, sondern nur solche, die die Qualität der Versorgung verbessern oder die Kosten ohne Qualitätsverlust senken.

Wirtschaftlicher Wettbewerb im Gesundheitswesen um den Versicherten (aus der Sicht der Krankenkassen) und den Patienten (aus der Sicht der Leistungsanbieter) ist keine abstrakte Konkurrenz, sondern ist immer konkreter Wettbewerb um den rentablen Versicherten oder Patienten. Und das, was rentabel ist, bemisst sich zuerst an dem einzelwirtschaftlichen Interesse der jeweiligen Institution:

So sind die Leistungserbringer an der Zahlungsfähigkeit des Patienten interessiert, also dem Umfang seines Versicherungsschutzes, weiter an der Art (Pauschale, Einzelleistung etc.) und Höhe ihrer Honorierung und nicht zuletzt auch daran, wie stark die von ihnen erbrachten Leistungen fachlich kontrolliert werden. - Welcher Logik muss beispielsweise der kaufmännische Direktor eines Krankenhauses folgen, wenn er feststellt, dass 10 Prozent der Patienten 40 Prozent der Kosten verursachen, während auf 50 Prozent der Patienten nur 15 Prozent der Ausgaben entfallen?(15)

Die Krankenversicherungen sind unter dem Gesichtspunkt der Rentabilität daran interessiert, Erwerbstätige mit hohen Einkommen und einem möglichst geringen Krankheitsrisiko zu versichern. - Wie muss demnach der leitende Betriebswirt handeln, wenn er weiß, dass 10 Prozent der Versicherten für 80 Prozent der Leistungsausgaben verantwortlich sind?

Resultat: Der ideale Versicherte bzw. Patient ist derjenige, der die höchste Rentabilität verspricht, das geringste Krankheitsrisiko mit sich bringt und die großzügigste Versicherung hat. Trotz des Versuchs, solche Zielorientierungen in der deutschen Gesundheitspolitik abzuschwächen (Risikostrukturausgleich, Härtefallregelungen), hält der Druck an, alte und chronisch kranke Patienten aus den unteren Sozialschichten oder auch "Härtefälle" auszugrenzen oder sie mit unwürdigen Mitteln abzuwimmeln. Es sind also gerade jene großen Gruppen, die medizinischer Hilfe am dringendsten bedürfen. Und das ist nicht eine Frage "bösen Willens" oder fehlender ethischer Grundsätze, sondern das ist Ausdruck des Prinzips des wirtschaftlichen Wettbewerbs. Denn dieser bedeutet per se Selektion. Dieser Zusammenhang ist inzwischen - leider sehr spät - auch in der deutschen Ärzteschaft angekommen. So heißt es in ihren Leitsätzen aus dem Jahr 2007: "Konsequenz dieser wettbewerblichen Struktur wird implizite Rationierung sein, weil die Marktteilnehmer sich im Wesentlichen um die lukrativen Prozeduren werden kümmern müssen und die verlustbringenden Prozeduren entsprechend nicht verhalten werden. Risikoselektion wird das Ergebnis sein."(16)

Um derartige Reaktionen zu unterbinden oder zu begrenzen, müssen verbindliche Regelungen erlassen werden. Die Erfahrung zeigt indessen, dass solche Regelungen häufig umgangen werden. Damit setzt sich eine Bürokratisierungsspirale aus immer neuen Ausweichreaktionen und immer neuen Regelungen und Kontrollen in Gang. Wer also vom Wettbewerb im Gesundheitswesen redet, sollte von der Bürokratisierung nicht schweigen.

Gemeinhin heißt es, Konkurrenz mache billiger, besser und senke die Verwaltungskosten. Diese These scheint sich im Gesundheitswesen nicht zu bestätigen. US-amerikanische Erfahrungen mit dem Neoliberalismus sprechen dagegen: Wir haben in den USA das weltweit teuerste Gesundheitssystem mit den höchsten Verwaltungskosten. Hinzu kommt die große soziale Ungleichheit. Auch bei der Qualität zeigen sich inzwischen erhebliche Probleme. Als ein Beispiel sei hier nur auf die unterschiedliche Sterberate in US-amerikanischen Krankenhäusern verwiesen: "Auf Gewinn ausgerichtete Kliniken scheinen ihre Patienten weniger gut zu versorgen als solche, die keine Aktionäre oder Investoren zufrieden stellen müssen. In den Vereinigten Staaten ist die Sterblichkeit der an profitorientierten Hospitälern behandelten Kranken jedenfalls vergleichsweise höher."(17) Also die These, dass Konkurrenz die Kosten senkt und gleichzeitig die Qualität verbessert ist äußerst fragwürdig.

Wie soll also der keineswegs geringe Anteil der Patienten versorgt werden, deren Behandlung nicht wirtschaftlich rentabel ist? Von der Beantwortung dieser Frage bleibt freilich auch die Moral einer Gesellschaft nicht unberührt. ... Man könnte es auch so formulieren: Sage mir, wie Du mit den chronisch Kranken aus den unteren Sozialschichten umgehst, und ich sage Dir, wie es um die Moral Deiner Gesellschaft bestellt ist. Und durch Kommerzialisierung wird moralischen Werten ihre verpflichtende Geltung entzogen, die sie erst zu moralischen Werten macht. Wettbewerb bestimmt die Qualität der Medizin: Mit der Konkurrenz um das wirtschaftlich günstigste Leistungsangebot ist notwendig das Problem der Einhaltung von verbindlichen Qualitätsstandards verknüpft. Unter dem Druck der Preiskonkurrenz wächst nämlich die Neigung, den Preis von Leistungen gegebenenfalls auf Kosten der Qualität zu senken.(18) So kann die kurzfristige Orientierung der Kassen auf Mitgliedergewinnung über Beitragssätze zu einer Qualitätsminderung führen. Trotz vielfältiger Anstrengungen sind die vorliegenden Instrumente öffentlicher Qualitätskontrolle noch unzureichend. Da Qualitätssicherung zunächst mit Kosten verbunden ist, haben die einzelnen Kassen aus Gründen der Konkurrenz kaum ein Interesse daran, ihre Erfahrungen, die sie mit innovativen, qualitativ hoch stehenden Versorgungsformen machen, in einen gesamtgesellschaftlichen Erfahrungsaustausch einzubringen und damit zu generalisieren. Darum ist das Engagement der MedizinerInnen im noch immer vernachlässigten Feld wie der Qualitätssicherung von eminenter Bedeutung. Die Patienten selbst sind vielfach nicht in der Lage, Notwendigkeit und Qualität medizinischer Leistungen einschätzen zu können oder nehmen diese allenfalls lange nach der ersten Inanspruchnahme wahr. Sie vertrauen sich deshalb dem fachlichen Urteil von Ärzten an, das auf einem breiten Ermessensspielraum beruht. Lohnt es sich überhaupt, einen hohen medizinischen Qualitätsstandard zu offerieren, wenn die Patienten nur sehr begrenzt in der Lage sind, diesen adäquat erkennen und honorieren zu können? Nicht zu vergessen ist, dass die Ärzte selbst insbesondere, wenn sie unternehmerisch arbeiten, Interessenten sind. Ein wettbewerbsbedingter Qualitätsverlust lässt sich nur durch den Ausbau bürokratischer Kontrollmechanismen verhindern. Diese verursachen allerdings erhebliche Kosten. Qualität kann auch zu einem Marketing-Faktor werden und orientiert sich dann an dem, was Versicherte aus Laiensicht unter Qualität verstehen. Die Verallgemeinerung der These, dass Wettbewerb die Kosten senkt und gleichzeitig die Qualität erhöht, ist äußerst fragwürdig. In Anlehnung an US-amerikanische Erfahrungen wird sogar davon ausgegangen, dass die Forderung des Wettbewerbs bestehende Fehlentwicklungen in der Leistungsstruktur und der Qualität der Medizin noch verstärkt wie: zuviel Technik und Medikamente bei zuwenig Kommunikation und zuwenig zeitaufwendiger psychosozialer Betreuung, zuviel Diagnose, aber zuwenig bzw. schlechte Therapie, zuviel Medizin und zuwenig bzw. zu schlechte Pflege.(19)

Wettbewerb erhöht den Druck nach Ausweitung der Leistungsmenge. Das verschiebt medizinische Eingriffe in frühe Krankheitsstadien. Damit reduziert sich zwar in der Regel das Risiko des Eingriffs, aber die Gewähr für einen anhaltenden Erfolg ist damit nicht in jedem Fall gegeben. So kann die frühe Diagnose und der rechtzeitige operative Eingriff bei einer bösartigen Geschwulst lebensrettend sein, während die Herz-Katheder-Diagnostik zeigt, dass immer mehr Untersuchungen ohne therapeutische Konsequenzen bleiben. Es muss somit nach der Notwendigkeit für zahlreiche diagnostische Untersuchungen gefragt werden.(20) Und es hat sich gezeigt, wenn kostengünstigere und schonendere Verfahren zur Anwendung kommen, die Gefahr besteht, dass Indikationsgebiete ausgedehnt werden.(21) Oder in der Laboratoriumsmedizin: Aufgrund des Wettbewerbs ist es zu einer merkantilen Mengenausweitung mit einer häufig indikationslosen Massenproduktion von Laborwerten gekommen. Über die damit verbundene Kostenproblematik hinaus hat diese Entwicklung zu einer hohen Rate "falsch positivem Ergebnisse mit negativen klinischen Konsequenzen geführt."(22)

Wettbewerb bestimmt nicht nur die Qualität einzelner medizinischer Leistungen, sondern auch den Charakter der Medizin. Als wesentliches Strukturmerkmal der Medizin in internationalen Vergleichsstudien gilt, ob und wie weit sie präventiv und/oder kurativ ausgerichtet ist. Wie weit z.B. Prävention und Gesundheitsförderung in die Gesellschaft eindringen. Da Wettbewerb zunächst und vor allem auf den kurzfristigen Vorteil abzielt, denn investierte Ausgaben stehen unter dem Druck der schnellen Amortisierung, müssen Leistungen, die sich erst langfristig rentieren, aber gleichwohl gesundheitlich notwendig sind, aufgeschoben oder gar vernachlässigt werden. Besonders davon betroffen ist das mit viel Mühe in den 1980er Jahren in die gesundheitspolitische Debatte gebrachte Paradigma der Prävention und Gesundheitsförderung dessen Erfolge sich freilich nur langfristig realisieren lassen. Richten also einige Kassen im Gegensatz zu anderen aufwendige Präventionsprogramme ein, um später gesündere Versicherte zu haben, so kann es ihnen passieren, dass ihre Versicherten zwar die Präventionsprogramme in Anspruch nehmen, aber nach einigen Jahren die Kasse wechseln und damit der erwünschte Effekt den Konkurrenten begünstigt. Hinzu kommt, dass gerade die unteren Sozialschichten, also die Einkommensschwachen, einer gezielten Gesundheitsförderung bedürfen ...

Unter Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs gerinnt Gesundheitsförderung nicht selten zum Marketing für exklusive Versichertenkreise, verkommt zur Formel vom individuellen Fehlverhalten und vertut die Chance, zur Veränderung des Charakters der Medizin paradigmatisch beizutragen.

Da es sich bei der Gesundheitsförderung und primären Prävention um ein strukturelles Element eines Gesundheitssystems handelt, wird deren gesundheitspolitischer Stellenwert auch immer wieder zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzungen. So waren im Beitragsentlastungsgesetz von 1996 Entscheidungen gefallen, diesen zaghaften Ansatz wieder aus der paritätischen Beitragsfinanzierung herauszunehmen und auf ein Minimalprogramm zu reduzieren ... Diese Entscheidung wurde unmittelbar nach dem Regierungswechsel 1998 rückgängig gemacht.

Im GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde unter der Gesundheitsministerin Andrea Fischer der § 20 SGB V sogar noch erweitert. Danach sollen nun Krankenkassen in ihrer Satzung Leistungen zur primären Prävention versehen. Solche Leistungen sollen den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen. Darüber hinaus können Krankenkassen den Arbeitsschutz ergänzende Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung durchführen. Seit 2004 werden in den parlamentarischen Gremien Eckpunkte und Gesetzentwürfe für ein Präventionsgesetz diskutiert.(23) 2005 scheiterte die Vorlage eines Präventionsgesetzes im Bundesrat an der CDU/CSU-Mehrheit. Der zweite Anlauf in der Großen Koalition wurde im Oktober 2007 angehalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gesundheitsministerin ein Eckpunktepapier vorgelegt, das nicht auf die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stieß. Grund für das Scheitern war der Streit über die Organisation und Finanzierung kassenübergreifender Projekte zur Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. Nach dem Willen der Ministerin sollten Kranken-, Rente-, Unfall- und Pflegekassen sowie die private Krankenversicherung zwischen 280 und 350 Millionen Euro in einen gemeinsamen Finanztopf abführen, der u.a. Projekte zur Verbesserung der "Lebenswelten" finanziert.(24)

Inzwischen hat die Konkurrenz unter den Krankenkassen deutliche Spuren hinterlassen. Unübersehbar vollzieht sich eine tief greifende Veränderung im Sozialcharakter der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kassen wandeln sich in ihrem Selbstverständnis immer stärker zu Versicherungsunternehmen. Das gemeinsame Interesse am Erhalt der GKV als eines am Solidaritätsprinzip orientierten Gesamtsystem tritt hinter den individuellen Wettbewerbsinteressen zurück. Positionen zur Zukunft dieses Systems werden ausschließlich nach der eigenen Interessenlage formuliert. Mit der unternehmerischen Ausrichtung der Krankenkassen verändert sich auch die Beziehung zwischen Krankenkassen und Versicherten. So werden Krankenkassen ehemals Anwälte der Sozialversicherten gegenüber den Leistungserbringern im Krankheitsfall immer mehr zu Gegnern der Versicherten. Sie versuchen nämlich ihre Ausgaben unter betriebswirtschaftlichen Aspekten zu reduzieren -auch dadurch, indem sie nicht oder schlecht informierten Versicherten Leistungen vorenthalten.


Hans-Ulrich Deppe, Prof. Dr. Frankfurt am Main, Medizinsoziologe und Sozialmediziner, Gründungsmitglied des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte vdää


Kurzer Auszug aus: Hans Ulrich Deppe, Zur Kommerzialisierung der Krankenversorgung Solidarische Alternativen sind möglich!, Diskussionspapier April 2011:
http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/27716/Diskussionspapier2011-1-W.pdf


Anmerkungen

(1) Vgl. hierzu auch: SVRKAiG, Sondergutachten 1997, Ziffer 25ff.

(2) Vgl. F.-X. Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a.M. 1997, S. 37; H. Schui, St. Blankenburg, Neoliberalismus: Theorie, Gegner, Praxis, Hamburg 2002, S. 159-161.

(3) Vgl. H.-U. Deppe (Hrsg.), Vernachlässigte Gesundheit, Köln 1980, S. 111 und passim.

(4) K.J. Arrow, Uncertainty and the welfare economics of medical care, in: The American Economic Review, Vol. 53, No. 5, 1963, S. 941-973.

(5) SVRKAiG, Jahresgutachten 1992, Ziffer 352.

(6) H. Reiners, Ordnungspolitik im Gesundheitswesen, WIDO-Materialien, Bd. 30, Bonn 1987, S. 91.

(7) A. Mielck (Hrsg.) Krankheit und soziale Ungleichheit, Opladen 1994; ders. Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Bern 2000; U. Helmert, Soziale Ungleichheit und Krankheitsrisiken, Augsburg 2003; H.-U. Deppe, Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems, Frankfurt/Main 2005, S. 151-158.

(8) Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1993, Investitionen in die Gesundheit, Washington 1993, S. 5ff. siehe hierzu auch: EM. Bator, The anatomy of market failure, in: Quarterly, Journal of Economics, Bd. 72, 1958, S. 351-379.

(9) R. Rosenbrock, Leistungssteuerung durch die Gesetzliche Krankenversicherung, Probleme und Optionen, in: IKK-Bundesverband (Hrsg.), 3. IKK-Forum, Soziale Krankenversicherung: Erfolgs- oder Auslaufmodell? Bergisch Gladbach, Mai 1994, S. 47.

(10) R.A. D'Aveni, R. Gunther, Hypercompetition, Managing the Dynamics of Strategic Manoeuvering, London 1994; E. Altvater, F. Haug, O. Negt u.a., Turbo-Kapitalismus, Gesellschaft im Übergang ins 21. Jahrhundert, Hamburg 1997. Ein Shareholder-Value-Denken hat sich durchgesetzt: Die Zeitspannen für den Kapitalrückfluss werden erheblich verkürzt. Investitionen sind nur noch dann attraktiv, wenn sie schon nach kurzer Zeit einen wirtschaftlichen Nutzen versprechen.

(11) O. Winkelhage u.a., Die personelle Verteilung von Leistungsausgaben in der GKV 1998 und 1999, in: Sozialer Fortschritt, H. 3, 2002, S. 61.

(12) K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1962, S. 552.

(13) § 12 SGB V.

(14) K. Redeker, Hemmnisse und Perspektiven für ein wettbewerbsorientiertes Krankenhaus aus rechtlicher Sicht, in: das Krankenhaus, Heft 7, 1997, S. 394.

(15) H. Brockmann, Why is less money spent for the elderly than for the rest of the population? Health care rationing in German hospitals, in: Social Science & Medicine, H. 55, 2002, S. 595.

(16) Bundesärztekammer, Gesundheitspolitische Leitsätze der deutschen Ärzteschaft, Diskussionsentwurf, Ulmer Papier-Version 4.0, vom 19. November 2007, S. 12.

(17) NV. Lutterrotti, Patienten in der Profitfalle? in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. April 2003

(18) Th. Gerlinger, K. Stegmüller, "Ideenwettbewerb" um Wettbewerbsideen - Die Diskussion um die "dritte Stufe" der Gesundheitsreform, in: H. Schmitthenner (Hrsg.), Der "schlanke Staat". Zukunft des Sozialstaates - Sozialstaat der Zukunft, Hamburg 1995, S. 170f.

(19) H. Kühn, Gesundheitspolitik ohne Ziel: Zum sozialen Gehalt der Wettbewerbskonzepte in der Reformdebatte, in: H.-U. Deppe, H. Friedrich, R. Müller (Hrsg.), Qualität und Qualifikation im Gesundheitswesen, Frankfurt a. M. 1995, S. 31. Vgl. auch: D.W. Light, Cost containment and the backdraft of competition policies, in: Intern. J. of Health Services, Vol. 31, H. 4, 2001, S. 681-708.

(20) J. v. Dahl, A. Sasse, R Hanrath, Leistungsentwicklung im stationären Bereich: Innere Medizin, in: M. Arnold, D. Paffrath (Hrsg.), Krankenhaus-Report '97, Stuttgart 1997, S. 61.

(21) SVRKAiG, Sondergutachten 1996, Punkt 257.

(22) M. Krieg, Laboratoriumsmedizin - Im Sog der Kommerzialisierung, in: Deutsches Ärzteblatt, H. 14, 1997, S. 902-906.

(23) G. Eberle, Konsens auf Kassen-Kosten? In: Gesundheit und Gesellschaft, H. 11, 2004, S. 14f.; dies., Mehr als ein zweiter Aufguss? In: Gesundheit und Gesellschaft, H. 11, 2007, S. 38-41.

(24) Koalition gibt Präventionsgesetz auf, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. März 2008

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Quelle:
Marxistische Blätter, Heft 1-17, 54. Jahrgang, S. 35-45
Redaktion: Marxistische Blätter
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2017

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