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OFFENSIV/101: Lehren aus Niederlagen


offen-siv 3/2012
Zeitschrift für Sozialismus und Frieden

Lehren aus Niederlagen
Reform und Restauration des Sozialismus in der marxistischen Kritik

Von Hermann Jacobs


INHALT

Redaktionsnotiz

Lehren aus Niederlagen
Hermann Jacobs: Lehren aus Niederlagen -
Reform und Restauration des Sozialismus in der marxistischen Kritik

Anhang
- Die VI Thesen der KPdSU von 1988 / Zur Theorie des Neuen Denkens
- Hermann Jacobs: Brief an Gen. Kurt Hager, 2.1.89
- Hermann Jacobs: Aus einem Brief an Gen. Otto Reinhold 4.1.89
- Hermann Jacobs: Zur Reaktion der DDR auf das Abrüstungsabkommen
 vom 8. Dezember 1987 zwischen der UdSSR und den USA
- Erklärung Erich Honeckers

Raute



REDAKTIONSNOTIZ

Die Frage nach der Vergangenheit ist die Frage nach der Zukunft. Die Parole: "aus der Geschichte lernen!" ist eigentlich eine Binsenweißheit. Wir haben uns immer darum bemüht, möglichst argumentative, belegte, grundsätzliche und konkrete Analysen über die Frage nach den Ursachen der Niederlage des Sozialismus in Europa zu veröffentlichen. Damit gerieten wir in Widerspruch zu Mainstream-Sprachregelungen wie "Licht und Schatten", "innere und äußere Ursachen" oder "noch genauestens aufzuarbeitende Defizite, Entstellungen und Verbrechen" des Sozialismus.

Dieser Widerspruch ließ und lässt sich nicht verhindern, denn wir schwören dem Sozialismus nicht ab, wir wollen, von seinen Grundlagen ausgehend, die Gründe für seine Niederlage im internationalen Klassenkampf mit dem Imperialismus begreifen.

In die Linie unserer Veröffentlichungen zu diesen Fragen reiht sich auch dies Sonderheft von Hermann Jacobs ein. Es verbindet historische mit aktuellen Einschätzungen und zeigt im Anhang ein Schlaglicht auf den Stand der Diskussionen Ende der achtziger Jahre in der DDR.

Wir halten die Thesen, die Hermann Jacobs hier aufstellt, für sehr interessant und für würdig, in die redliche, die wissenschaftliche Diskussion aufgenommen zu werden; dazu wünschen wir uns Reaktionen von Euch, unseren Leserinnen und Lesern.

Es ist selbstverständlich nichts Neues, wenn wir darauf hinweisen, dass Zeitungmachen Geld kostet. Aber wir müssen es immer wieder tun, denn wir sind von Euch abhängig, ohne Eure Unterstützung geht nichts.

Für die Redaktion: Frank Flegel


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Raute

LEHREN AUS NIEDERLAGEN
Hermann Jacobs: Lehren aus Niederlagen - Reform und Restauration des Sozialismus in der marxistischen Kritik

In der nachstehenden Arbeit befasse ich mich mit den beiden Fragen, die für den Sozialismus im Laufe seiner Geschichte existentiell geworden sind. In der einen Frage ging es um das ökonomische System des Sozialismus (oder auch Kommunismus), d.h. um den Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft im faktischen Sinne, also nicht nur im Sinne einer politischen Herrschaft - diese Frage bezeichne ich als ungelöst oder nicht bis in alle Konsequenz gelöst, denn es wurden immer zwei Systeme zur Debatte gestellt; sie brachte dem Kommunismus eine Geschichte dauernden inneren Kampfes, der Sozialismus/Kommunismus blieb ungesichert, zum Teil auch unverstanden. Um sein wirkliches Verständnis muß noch immer gerungen werden. - In der anderen Frage ging es darum, den Gefahren des Kalten Krieges, der zwischen den beiden großen Gesellschaftssystemen unserer Zeit ausgebrochen war, zu entgehen. Und entgehen hieß, der Möglichkeit, dass dieser Kalte Krieg in einen atomaren Waffengang münden könne mit den Resultat der Vernichtung der Menschheit, zu entgehen. Dazu ließ sich die letzte sowjetische Parteiführung eine Politik einfallen, die Politik des NEUEN DENKENS. Sie enthielt aber eine Konsequenz: die mögliche Opferung des Sozialismus als System. So war es denn auch. Es ist nicht allgemeines Wissen, dass es um eine Konsequenz aus einer bestimmten Form der Friedenspolitik ging/geht, die zum Ende des Sozialismus führte. Es überwiegt das Denken, der Sozialismus sei aus Gründen seiner Lebensunfähigkeit "zusammengebrochen". - Der Kommunismus/Marxismus ist in der Pflicht, sich diesen beiden Fragen zu stellen - um geschichtlich noch einmal beginnen zu können... um zwei Erfahrungen wirklicher Geschichte reicher.

In einem Anhang mache ich auf VI Thesen der KPdSU zum Neuen Denken aus dem Jahre 1988 aufmerksam, und auf eine damalige Reaktionen von mir: einen Brief an Kurt Hager und einen zweiten an Otto Reinhold.

*

Zunächst die allgemeine Frage, ob sich mit dem Ausscheiden des sowjetischen Faktors aus der Geschichte auch die kommunistische Frage aus ihr verabschiedet hat. Ich will so antworten:

Die kommunistische Frage verschwindet nur a) wenn die gewisse gesellschaftlich-formatorische Konsequenz aus den Kämpfen gegen den Kapitalismus verschwindet und b) wenn die Theorie der kommunistischen Gesellschaft nicht anhand der geschichtlich schon entstandenen sozialistischen Länder geprüft und vervollständigt würde. So dass wir einerseits gelassen die kommende Geschichte des Kapitalismus angehen sollten, d.h. diese Geschichte wird die kommunistische Frage immer wieder von Neuem auf die Tagesordnung setzen, andererseits in theoretischer Hinsicht aber etwas tun müssen: Klarheit hineinbringen in die inneren, vom Kommunismus selbst aufgeworfenen Fragen - mit dem Ergebnis, genauer über Inhalt, Formen und Wege des Kommunismus Bescheid zu wissen. Es wäre also falsch, bezüglich des Kapitalismus in eine rein reformatorische Haltung zurückzukehren oder in eine solche überzugehen und bezüglich des Kommunismus vollständig neu anfangen, noch einmal von vorn anfangen zu wollen. Aber wenn beides erhalten bleibt

- der kommunistische Faktor im Kapitalismus
- und das theoretische Erbe der bisherigen gesellschaftlichen Geschichte des Kommunismus,

dann avanciert der Marxismus/Kommunismus wieder über die Theorie zu einer Frage der Praxis, dann wiederholt sich der Marxsche Ansatz einer Kritik am Kapitalismus und einer Option für den Kommunismus, nun allerdings auf der Basis einer Realität - über die Marx ja nicht verfügte, über die aber der Marxismus neu verfügen kann. Er wird/würde jetzt ein Marxismus durch Kommunismus sein.

Die Anforderungen an ihn sind allerdings "erschreckend" hoch. Und "erschreckend" heißt hier, dass er sich an seinem zweiten historischen Anfang - um den würde es ja gehen - auch mit der Wirklichkeit eines ersten geschichtlichen Endes befassen müßte, denn gesellschaftlich existiert er nicht mehr - wir haben, allen Unkenrufen zum Trotz, davon auszugehen, dass Sozialismus/Kommunismus gesellschaftlich schon existierte, aber letztlich gerade so nicht mehr existiert.(1) Er existiert wieder in der Form, in der er vor der russisch-osteuropäischen Revolution existierte - politisch. Dass er im Moment nur noch politisch existiert, darf aber nicht so gesehen werden, dass er außer politisch zu existieren nicht existieren könnte, also gesellschaftlich ab jetzt immer als scheiternd betrachtet werden muß und wofür das Ende der Sowjetunion/des Sozialismus in Osteuropa schließlich den Beweis erbracht hätte. Dafür war dieses "Ende" dann doch zu merkwürdig.

Gewiss: Zu den Gründen seiner Möglichkeit gesellt sich die Frage nach den Gründen seiner "Unmöglichkeit", also seiner Wiederaufhebbarkeit. Aber ob in der Wiederaufhebung des Sozialismus sich nicht dennoch das Moment seiner Wiederholbarkeit verbirgt, ist die Frage an die Geschichte. Denn die Aufhebung des Sozialismus führt in den Kapitalismus zurück, aber der Kapitalismus - wirft die Frage des Kommunismus auf. Dieser ganze Wendeprozess aus der Position des Kapitalismus betrachtet, ist die Geschichte nur auf den Punkt zurückgeworfen, an dem sie wieder von vorn anfängt, und nicht, wo sie einen grundsätzlich anderen Verlauf annimmt, in dem ein Kommunismus nicht mehr vorkommt. D. h. die kommunistische Frage stellt der Kapitalismus, nicht der Kommunismus. So dass des Kommunismus starke Hälfte noch immer der Kapitalismus ist, noch nicht der Kommunismus selbst.

Es ist aber wichtig, einen Unterschied von politischer und gesellschaftlicher Existenz des Kommunismus zu treffen und sich der Frage zu stellen, warum denn der real schon existierende Sozialismus/Kommunismus erst einmal ein Ende gefunden hat. Von Niederlage zu sprechen, ist eine Feststellung, aber keine Erklärung für diese.

*

Wir sprachen von der Wiederaufhebbarkeit des Sozialismus/Kommunismus, wir müssen von dem Grund sprechen, der zur Wiederaufhebung des Sozialismus führte. Dieser ist ein besonderer. Dem Ende des Sozialismus ging voraus eine Wende in der Politik des führenden Landes des osteuropäischen Sozialismus, der Sowjetunion. Diese Politik wurde bezeichnet als Politik (oder auch Theorie) des Neuen Denkens. Wir müssen uns mit dieser Politik, deren Paradigmen auch in gesellschaftlicher Hinsicht, intensivst beschäftigen. Aber zunächst die Frage: Gab es denn vor seinem formellen Ende einen Zweifel am Sozialismus, in dem seine Wiederaufhebung anklang? Diese Frage muß bejaht werden. Es gab auch ein relatives Ende/Beendigen des Sozialismus als Gesellschaft, d.h. dem realen oder absoluten Ende der Sowjetunion bzw. des Sozialismus in Europa ging eine lange Debatte um das ökonomische System des Sozialismus voraus. Viele Jahre, ja Jahrzehnte schien es, der reale Sozialismus werde eher einer Reform seines ökonomischen Systems unterworfen, als dass das Land an eine Restauration der bürgerlichen, also kapitalistischen Art geriete. Zu diesem anderen Prozess ist es aber real gekommen, er ist der augenscheinlichere, der uns rein formell natürlich mehr beschäftigt. Aber der relative der ökonomischen Form der inneren Kritik an ihm zählt auch mit als Faktor. So dass man von zwei Prozessen sprechen muß: einem inneren, den realen Sozialismus nur relativ aufhebenden Prozess, und einem äußeren, den Sozialismus letztlich absolut aufhebenden Prozess, die jeweils für sich einen Gegenstand des Marxismus oder der kommunistischen Bewegung von heute ausmachen. Dies also mein erster Vorschlag oder sagen wir auch meine Reflektion auf die "dramatischen Ereignisse" (Erich Honecker) von 1985 bis 1991 (in denen die Aufgabe des Sozialismus in der Sowjetunion den wesentlichen, wichtigsten Teil ausmacht, das Ende der DDR nur einen abgeleiteten, daher sekundären Faktor darstellt): Die innerökonomische Kritik hat einen eigenen Grund oder Gegenstand und die gesellschaftliche Aufhebung der Sowjetunion/des Sozialismus in Europa hat einen; auch wenn sie zuletzt beide zusammen auftraten, ist der letztere aber ein anderer.

Welcher ist nun der wichtigere für den gesellschaftlichen Anspruch der Arbeiterbewegung?

Es mag angesichts der realen Entwicklung eigenartig klingen, aber die Frage einer inneren Reform, eines Sozialismus anderen ökonomischen Prinzips, also die nur relative Kritik an ihm, ist für den Marxismus problematischer, denn sie ist geschichtlich gesehen keine objektive Frage, d.h. das sozialistische ökonomische System ist - wie eben das auch anderer Formen gesellschaftlicher Ordnung - als solches gegeben, es kann den Sozialismus nicht zweimal geben; ein zweiter Sozialismus würde nur eine Revision des einzig möglichen ergeben. So dass man nur an den falschen gelänge (machte man den "zweiten").(2) Die Lage ist aber so, dass der zweite Entwurf des Sozialismus, dem ersten entgegengestellt, von sich behauptet, dieser sei der falsche und er nur der richtige. Man kann also Sozialismus falsch machen, ist man geneigt zu fragen. Aber: Kann man auch Kapitalismus (Feudalismus, die Ordnung der Sklavenhalter, schließlich ... die Urgemeinschaft der Menschen) falsch machen? Ausgerechnet beim Sozialismus, der Ablösung des Privateigentums wieder durch eine ökonomische Gemeinschaft der Menschen, "kann man das"?(3)

Mitnichten. Es handelt sich - meine Meinung - bei der inneren Kritik am Sozialismus um eine Erscheinung an sich des Reformismus/Revisionismus in der Arbeiterbewegung, der eine besondere Art der Anpassung dieser Bewegung an das kapitalistische ökonomische System erst im Sozialismus selbst ist. Dass sie auftrat, war historisch unvermeidlich! Es ist unvermeidlich, dass im Sozialismus, der ersten Phase des Kommunismus, ein Sozialdemokratismus der besonderen Art auftritt. Es ist seine, des Sozialdemokratismus, ökonomische Form. Kurz gesagt: Die Klasse wechselt - insofern Sozialismus, aber das Verhältnis bleibt - insofern Kapitalismus; Kapitalismus dem Verhältnis nach ohne Kapitalisten der Person nach - ein letztes Bekenntnis rein subjektiver Art zum Kapitalismus, eine Hommage der ersten Klasse der Arbeit in der Geschichte an die letzte Klasse des Privateigentums in der Geschichte.(4) Was ist denn nun kritisiert am Kapitalismus, wenn die Person kritisiert, nicht das Verhältnis? Es käme, änderte man das erste, gefundene ökonomische System des Sozialismus, eines der zentralen Verfügung über die Produktion, in diesem Sinne, eine andere Art der Kritik am Kapitalismus heraus und eine andere Art der Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus - oder dann "Sozialismus".

Man muß das ökonomische Prinzip einer Klasse an der Klasse bestimmen. Was also ist die Arbeiterklasse? Nun, das Verhältnis der Arbeiterklasse ist zum geschichtlich vorausgesetzten Verhältnis des privaten Eigentums ein eigentumsloses, aber im Verhältnis zur Arbeit, der sie gegenwärtig (und zukünftig) unterworfen ist, ein gesellschaftliches. Die Eigentumslosigkeit des Lohnarbeiters wird geboren auf dem Boden einer neuen Form der Arbeit - gesellschaftlichen; Arbeit ist als Gesellschaft zu verstehen. Die Ökonomie der modernen Arbeiterklasse muß als eine aus den beiden Komponenten, hier der Eigentumslosigkeit und dort der Gesellschaftlichkeit, sich bestimmende verstanden werden. Im Begriff der Eigentumslosigkeit ist ausgedrückt, dass die moderne Arbeiterklasse nicht mehr am Eigentumsbegriff des Privateigentums - weder inhaltlich noch formell - teilhat, sie ist diesem Eigentum entfremdet, sie ist dem Privateigentum entfremdet - was gut (!) ist, ergo ist sie frei für ein neues Verhältnis zur Arbeit - gemeinsames, gleiches. Im Begriff der Gesellschaftlichkeit ist ausgedrückt, dass die Arbeit als solche ihren privaten Charakter aufgegeben hat und einen allseits zusammenhängenden gesellschaftlichen Charakter angenommen hat; diesem Charakter entspricht der moderne Arbeiter objektiv. Die allgemeine ökonomische Grundlage des Proletariats/Kommunismus ist eine eigene, neue in der Geschichte, insofern ist es falsch, den gesellschaftlichen Anspruch aus "Widersprüchen des Kapitals/Kapitalismus" zu begründen, sagen wir Ausbeutung, Krisen, Kriegen etc. Nicht, weil der Kapitalismus "schlecht", ist der Kommunismus gut, muß er sein. Er muß sein auch ohne dass es den Kapitalismus, d.h. die letzte Periode des Privateigentums an der Arbeit, je gegeben hätte. Vom Kapitalismus nimmt der Kommunismus nur die Arbeit - die auch als Entwicklung ohne das Verhältnis, in dem sie sich entwickelt hat, zu denken ist.

Im Begriff der "Eigentumslosigkeit" und in dem der "Gesellschaftlichkeit" ist eine Wende von der vermittelten (über das Eigentumsprinzip Wert vermittelten) Aneignung zur unmittelbaren Aneignung (nach dem Gebrauchswert) ausgedrückt. Es galt das Prinzip der allgemeinen und ganzen Aneignung aller Güter in einem direkten Zugriff. Aber direkt angeeignet heißt eben nicht, dass die Aneignung an eine Zentrale fiele und damit nicht an die Individuen(5), sondern heißt in der Form der Güter, also konkret angeeignet. Der ökonomische Revisionismus ist daher gegenstandslos in seiner Kritik am gesellschaftlichen Sozialismus, indem er die Wende im Objekt der Aneignung nicht wahrhaben will.

Wir verhalten uns zur Frage des ökonomischen Revisionismus, der letzten Form des Sozialdemokratismus, dann richtig, wenn wir die Auseinandersetzung mit ihm als geschichtlich völlig überflüssig bezeichnen. Der Revisionismus in seiner ökonomischen Form versteht den modernen Lohnarbeiter als jemanden, der sein Eigentum verloren hat und bei dem es im Sozialismus darum gehen soll, sein Eigentum wiederzuerlangen. Welches denn? Das ... "eigene". Aber die Arbeit ist doch eine gesellschaftliche geworden! Wir erkennen hier, dass der Revisionismus im zum Lohnarbeiter gezwungenen Arbeiter den früheren Warenproduzenten, die geschichtliche Voraussetzung zum modernen Lohnarbeiter erkennen will; der Revisionismus will die geschichtliche Voraussetzung des zum Lohnarbeiter gewordenen Warenproduzenten wiederherstellen, d.h. die Geschichte umdrehen, indem er sie noch einmal von vorn beginnen will. Sein Sozialismus gründet auf einem falschen geschichtlichen Ansatz.

Er will quasi von einem Warenproduzenten ausgehen, der nicht in den Gegensatz von Kapitalist und Lohnarbeiter spaltet, sondern der sich des drohenden Gegensatzes der kommenden Geschichte mit einer Art höheren Bewußtseins nähert: Warenproduktion im Kollektiv, oder kollektives Privateigentum. Nicht Einzelne, äußere private Eigentümer der Arbeit (zum Arbeiter äußere Eigentümer) sollen zur Kapitalisierung der Wertform übergehen, sondern Arbeiter schließen sich zu Arbeits-Kollektiven zusammen und gehen zur ... Kapitalisierung der Wertform über.(6)

Warum hat eigentlich mit dem Übergang der Warenproduzenten zum Lohnarbeiter und der Lohnarbeiter zur Eigentumslosigkeit (im Sinne des Verhältnisses zur Arbeit) das Verhältnis des Privateigentums nicht geendet? Spannende Frage, warum die Warenproduktion nicht mit dem Lohnarbeiter endete, obwohl sie doch für ihn endet. Antwort: Weil sie an einen äußeren Eigentümer geriet, den ... Geldkapitalisten (Geldwarenproduzenten). Er ist es, der die "Waren"produktion geschichtlich fortsetzt, während sie für den modernen Arbeiter, die moderne Arbeit endet. Der Eigentumsbegriff ist weder für ihn noch für die Arbeit wieder herzustellen. Der Lohnarbeiter bzw. der moderne Proletarier muß also einen Gesellschaftsbegriff ohne Eigentumsbegriff gebären!

Eigentum - nach bisherigem geschichtlichem Verständnis als Verhältnis zu einer besonderen Arbeit - wieder herzustellen, darum geht es in der marxistischen Kritik der Geschichte gar nicht. Der Kommunismus will nichts wieder herstellen, er will für die Arbeiter Neues herstellen: Allgemeine Ökonomie, unmittelbare Ökonomie ohne jeden Eigentumsbegriff außer in der letzten, höchsten Form: der der allgemeinen, ganzen Individualität, also Individualität aller Individuen. Eigentum für alle, das ist Kommunismus. Er will die organische Trennung der Arbeiter von der (warenproduzierenden) Arbeit, die mit der industriellen Arbeit historisch einsetzt, so verstehen, dass die Individual-Ökonomie zu einer Ökonomie gesellschaftlichen Charakters übergeht; in ihr ist der Prozess der ständigen Produktivierung der Arbeit verbunden mit einem ständigen Prozess der Lösung auch der Arbeiter aus dem Produktionsprozess, so dass die Aneignung der Arbeit als allgemeine sich nicht mehr herleiten ließe aus einer Rolle/einem Recht in/aus der Arbeit, sondern nur noch zu begründen wäre in der Form eines allgemeinen auf die Arbeit geltend gemachten Rechts, also auch äußeren Rechts. Der Gesamtprozess der Arbeit, alles, was Erscheinung der Arbeit ist, ist zur Arbeit hin gesehen zu berechtigen. Die Entlassung/Freisetzung aus der Arbeit erscheint hier ebenso als ein Prozess oder Produkt der Arbeit wie die "Ware"/das Gut, und ist gesellschaftlich, qua Verhältnis der produktiven Arbeit gleichzustellen. Freie Arbeit, arbeits"lose" Arbeit ist der nichtfreien oder notwendigen produktiven Arbeit, also dem arbeitenden Arbeiter gleichgestellt! (Der Arbeitsbefreite kann ja nichts für seine Arbeitsbefreiung, nicht er bewirkt sie, sondern die Gesellschaft (als Moment) in der Entwicklung ihrer Arbeit.) Die Gleichstellung geht nur, wenn mit der produktiven Arbeit nicht länger das Recht auf Arbeit verbunden ist.

Die Zukunft der Menschheit kann nicht so verstanden werden, dass der eine, stetig abnehmende Teil das "ursprüngliche Recht auf Arbeit" wahrnimmt, und der andere, stetig steigende Teil der Menschheit, der außerhalb dieser produktiven Arbeit bzw. des "ursprünglichen Rechts" erscheint, dieses Recht maximal mit einer "Steuer" belasten darf.

Der proletarii muß als eigentumslos im Sinne eines ursprünglichen Rechts auf Arbeit verstanden werden und als gesellschaftlich in einen neuen Zustand der Arbeit übergehend, als eine neue Gesellschaftsform des Lebens erzeugend betrachtet werden. D.h. er setzt geschichtlich das Wertverhältnis (des "ursprünglichen" Warenproduzenten) nicht mehr fort und die Gesellschaft, die er schafft, beruht zwar auf Arbeit, ist aber nicht mehr eine nur der Arbeit (Arbeit hier als produktive verstanden), sie stellt eine Gesellschaft neuen Typs dar. Der neue Kapitalist (als die neue Form des Privateigentümers von Arbeit) dagegen bastelt nur an der steten Vergrößerung des Eigentumsverhältnisses, er gibt dem Wertverhältnis als einem Aneignungsverhältnis der besonderen Art, das er fortsetzt, nur stets größeren Rahmen/Raum - und schafft so ungewollt dem Arbeiter bessere Voraussetzung, seinen Umwandlungsprozess vollziehen können: Nationen, Internationen etc. Wir haben es beim Kapitalisten und beim Lohnarbeiter mit zwei Schöpfern gesellschaftlicher Zustände zu tun, aber beim Lohnarbeiter nicht mit einem verkleideten Sozius des Kapitalisten.(7)

Die glatte Aufhebung des Sozialismus dagegen, also das Problem einer Konterrevolution bzw. bürgerlichen Restauration des Sozialismus, muß an sich oder abstrakt theoretisch (zunächst oder auf den ersten Blick, d.h. noch ohne exakte Analyse der wieder bürgerlichen Restaurierung des Sozialismus in Europa) als eine normale Möglichkeit der Geschichte genommen werden; alle Revolutionen in der Geschichte sind wieder aufhebbar - es kommt nur auf den Zeitpunkt an, wo mit einer solchen Möglichkeit noch zu rechnen ist. Und das war in der 70jährigen Sowjetunion nicht mehr der Fall!(8) Man muß sonst schon auf die absurde Idee kommen, den Drang zu einer kapitalistischen Restauration aus der zum Kapital gegensätzlichen Klasse, der Arbeiterklasse zu erklären. (Im Verratsvorwurf geschieht das übrigens auch, der "Verräter" wird in den eigenen Reihen gesucht.) Die "russische Konterrevolution" ist aber eine ungewöhnliche und es kommt darauf an, den historisch andersartigen Grund zu erkennen, der sie begründet, dann ist sie erklärt.

Der Marxismus verhält sich dann richtig, wenn er von einer außergewöhnlichen Situation in der Geschichte der Menschheit spricht. Die russische Konterrevolution ist aus den normalen geschichtlichen Kämpfen, die Klassen - gestürzte und aufstrebende - gegeneinander führen, bereits nicht mehr erklärbar - auch das ist neu für den Marxismus und damit seine Herausforderung.

Ergo: Bei der inneren Kritik am Sozialismus haben wir es mit einem Mißverständnis der Dialektik des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus zu tun, und bei der absoluten Kritik am Sozialismus, d.h. seiner Wiederaufhebung, mit einem ungewöhnlichen Vorgang in der Geschichte der Menschheit zu tun.

*

Sicher war der Beginn des Kommunismus umkämpft, umkämpfter noch als der Beginn der Geschichte von der Urgemeinschaft zum Privateigentum. Die Geschichte des Privateigentums ist ja noch nicht zu Ende, sie scheint sogar erst ihrem Höhepunkt zuzulaufen. Faktisch kam es zu Parallelentwicklungen beider Gesellschaften. Der Kommunismus hat früh begonnen, partiell begonnen, in Ländern erst gering entwickelten Privateigentums begonnen - was auch einen Grund hat(9), und er hat in Ländern begonnen, in denen die Bedingungen für die Ausprägung eines gesellschaftlichen Charakters der Arbeit noch nicht gegeben waren. D.h. diese mußten erst im Sozialismus entwickelt werden. So dass im Grunde für den ersten Sozialismus gilt, dass erst im Sozialismus die objektiven Bedingungen für den Sozialismus geschaffen werden mußten. Das brachte für ihn einen eigenartigen politischen Vorlauf vor seinem ökonomischen Lauf. Der sowjetische Kommunismus war stark politisch geprägt, gering erst ökonomisch, aber das macht keinen Frühsozialismus, der stürzbar war weil er ein schwacher Sozialismus oder auch zum Falschen, zur Deformation neigender Sozialismus war, sondern macht höchstens den Sozialismus früh. Und der muß nicht stürzbar sein. D.h. die Rückkehr zum Kapitalismus in Rußland muß nicht aus einer Schwäche der Sowjetunion erklärt werden, das führt in die Irre. Das ist nur der Versuch, die bürgerliche Restauration in der Sowjetunion aus inneren Gründen des Sozialismus zu erklären, sie also geschichtlich auch normal zu erklären (Stärke noch der überwundenen Klasse, Schwäche der sich schon erhebenden Klasse).

Wir brauchen aber die unnormale Erklärung, die keine innere ist! Nur sie erklärt - ungewöhnliche Geschichte.

Kommen wir zunächst zur Frage eines möglichen Verhältnisses zwischen relativer und absoluter Kritik/Aufhebung der Sowjetunion, des Sozialismus in Europa. Nehmen wir noch einmal die Frage des Revisionismus, der innerökonomischen Kritik am realen Sozialismus. Und hier das Wichtigste: War sein Erscheinen, Auftreten Ursache für die Aufhebung des Sozialismus? Nun, wenn das so wäre, dann war wohl der Revisionismus stärker als der Marxismus/Kommunismus? Nein, diese Antwort, eine allgemeine Schuldzuweisung an den Revisionismus für den Fall des Sozialismus, wäre zu einfach. Was hinderte den Marxismus, stärker zu sein als der Revisionismus? Er hatte doch die Macht, der Revisionismus nicht, nein diese Bedeutung hatte der Revisionismus - in seiner zweiten historischen Entfaltung, seiner ökonomischen - nicht. Man muß die Frage des Revisionismus von der Frage der Aufhebung des Sozialismus trennen.

Wer das Ende des Sozialismus in der Sowjetunion mit dem Revisionismus (in ökonomischer Hinsicht) erklären will, geht an der Frage vorbei, dass das Ende des Sozialismus im Machtzentrum der Sowjetunion vorbereitet und durchgesetzt wurde. Während der Revisionismus wie eine Frage an den Sozialismus zu verstehen ist, muß die Aufhebung des Sozialismus wie eine Antwort an den Sozialismus verstanden werden, d.h. wie eine Resultierende. Die Aufhebung des Sozialismus ist wie ein Abschluß eines langen Denkprozesses zu verstehen, in dem in der Sowjetunion Potentiale des Erhalts mit Potentialen des Nichterhalts einander abgewogen wurden - und das in einer bestimmten Frage, die aber nichts mit der innerökonomischen Kritik am System seiner Produktionsverhältnisse zu tun hatten, jedenfalls nicht unmittelbar. D.h. aus diesen zu erklären sind. Und das heißt, dass das eine, Revision, nur ständig in Aussicht gestellt wurde, das andere, Restauration, aber eine wirkliche Politik wurde. Es mochte sich bei beiden Formen der Infragestellung der Sowjetunion formell um einunddieselbe politische Führung handeln, sie begründete sich aber jeweils verschieden.

Doch muß - bei einer Frage nach dem Verhältnis von relativer und absoluter Kritik am Sozialismus - auch diese Frage erlaubt sein: Gab es den Marxismus schon in Bezug auf den realen Sozialismus? So daß in Bezug auf eine Schwäche hier eine relative Stärke des Revisionismus (um nur diesen zu nehmen) dort erscheint - die er aber gar nicht vom Objektiven her, d.h. vom Angebot eines anderen ökonomischen Systems her, besaß. Umgekehrt, ausgehend vom realen Sozialismus selbst muß man den Marxismus, wenn man ihn schon verteidigen und den Kommunismus im Nachhinein vom Revisionismus reinigen will, mit dem "realen Kommunismus" konfrontieren; er hat die für den Marxismus ungeklärten Fragen/Kämpfe hinterlassen. Es geht - in dieser Frage des ökonomischen Systems des Sozialismus - nicht um eine Stärke des Revisionismus, sondern eine Schwäche (noch) des Marxismus.

Bei dieser Überlegung geht es um die Notwendigkeit, zu einem linken Marxismus überzugehen, d.h. zu einem solchen Marxismus, für den die Frage des ökonomischen Kommunismus wieder zu einer klar beantworteten Frage geworden ist. Man durfte sich nicht jahrzehntelang mit immer derselben Frage herumplagen: Haben wir oder haben wir uns nicht richtig vom Kapitalismus gelöst? Das wird immer übersehen. Es kämpfte nicht auf der einen Seite der Revolutionär, dem auf der anderen Seite der Reformist/Revisionist gegenüberstand, aber es geht um eine geschichtliche Wertung des Kommunismus durch den Marxismus, aber durch den um die Praxis des Kommunismus entwickelten Kommunismus. Was denn nun: Planwirtschaft ja oder Planwirtschaft nein?

Natürlich kann es auch darum gehen, welchen Grad an Überzeugung Gesellschaften, die geschichtlich beginnen, denn schon schaffen können. Dann könnte der entwickelte Marxismus nur ein theoretischer Vorlauf vor einem künftigen Kommunismus sein. Das müßte dann auch sein.

Es fehlt an Initiativen der theoretischen Art, in denen der Sozialismus zunächst so wie er war, eine Anerkennung findet. Erst nach dieser Heerschau kann die Kritik einsetzen. Es ist das große Problem aller revisionistischen Kritik am realen Sozialismus/Kommunismus, dass erst ein Standpunkt außerhalb des realen Sozialismus aufgesucht wird - das ist in der Regel ein "ganz anderer Sozialismus", und von dem aus wird dann der wirkliche beurteilt. Das Resultat ist/muß sein seine Verurteilung. Umgekehrt der eigentliche Marxismus. Er muß sich ja der Gesamtheit eines ersten Sozialismus/Kommunismus wieder in der Geschichte der Menschheit stellen, er ist nicht Auswahl; sich positiv stellen heißt also sich allen seinen Erscheinungen zu stellen. Theoretisch sind kommunistische Initiativen in gerade diesen Fragen völlig ungenügend, es gibt keine klaren Aussagen, wohin welche Initiative in Bezug auf welchen künftigen Kommunismus zielt. Insofern haben kommunistische Initiativen nach meinem Verständnis nur Sinn, wenn sie sich viel stärker und gründlicher als bisher den Ursachen dafür stellen, warum es zu diesem Ende und zu diesen unterschiedlichen Auffassungen über den Kommunismus im Laufe seiner Geschichte gekommen ist. Wobei man ruhig über das hinausgehen kann, was die KKE dazu gesagt hat.(10) Warum kam es nicht zur Klarheit über den Kommunismus durch den Kommunismus selbst - ich bemühe mich mal um eine eigene Antwort zu den beiden genannten Fragenkomplexen -; wir kämpfen doch ungekämpfte Kämpfe aus. Es mangelt nicht an kommunistischen Parteien oder kommunistischem Gedankengut, aber es mangelt an solchen Gedanken, die die Wissenschaft, also den Marxismus, in den bisherigen Kommunismus hineinbringen.

Dieser Anspruch ist ein Anspruch auf eine wieder allgemein gültige Wahrheit.

Das könnte neue Probleme aufwerfen oder ein altes Problem neu aufwerfen: Brächte der Anspruch, dass es doch eine richtige Antwort auf das Ende/Beenden des Sozialismus gäbe - und nicht viele "richtige" -, eine Art geistiger Disziplinierung in die Debatte hinein? Soll man es zunächst nicht bei einer Form des Pluralismus, der Meinungsvielfalt im Marxismus belassen, zu der inzwischen gekommen ist, statt schon sofort wieder auf den einen und wirklichen/"wahren" Marxismus zu insistieren?

Nein, Wissenschaft diszipliniert nicht - Marx hat nie diszipliniert -, nur praktischer Kommunismus, also Politik für den Kommunismus kann disziplinieren. Wissenschaft erkennt man entweder an, oder man begnügt sich mit halben Antworten - das ist jedem selbst überlassen. Wir befinden uns sowieso in einer (wieder) politischen Phase des Kommunismus und damit in Bezug auf den Kommunismus als Ordnung in einer theoretischen Phase des Kommunismus. Da erübrigt sich Disziplinierung an sich.

Den Kommunismus durch Disziplinierung in seiner ersten Praxis aufgebaut zu haben und ihn durch geistige Disziplinierung zu verteidigen, hat sich zwar als möglich erwiesen und könnte sich weiterhin als machbar erweisen - ich befürchte es sogar -, aber erstens hat sich die Basis gewandelt, auf der die Disziplin praktiziert wird (sie ist ja eine äußere gegen den Kommunismus geworden - wir bewerten den Kommunismus aus dem Kapitalismus heraus, ohne jede reale Verantwortung für den Kommunismus zu haben; wir können uns also erlauben, alles Mögliche über ihn zu sagen und sagen es auch) und zweitens bringt das keinen Erkenntnisgewinn entgegen der Disziplin, über die Disziplin hinaus, also kein höheres Wissen über den Kommunismus. Der disziplinierende "Marxismus" ist der Marxismus des frühen, noch unbekannten Kommunismus, er ist eigentlich weniger ein Marxismus als ein besonderer Kommunismus. Dieser "Marxismus" drückte Unvollständigkeit, Unvollkommenheit des Kommunismus in seiner Praxis aus, die durch ein Übermaß im bekennenden Subjekt "vervollständigt" wurde; der Kommunismus erschien dadurch relativ vollkommener als er es seiner Praxis nach war. Seine relativ kurze Erscheinung in der Geschichte ist wieder vorbei, er macht ja auch nur Sinn angesichts einer gesellschaftlichen Praxis. Es kommt jetzt wieder auf den wissenschaftlichen Charakter des Kommunismus an, und er besteht noch nicht. Insofern macht der bloße Appell an die Einheit der sich zum Kommunismus bekennenden Kräfte nur abstrakt Sinn, er wird angesichts der realen Unterschiede, die entstanden sind, nichts bewirken.

Die Einheit des Kommunismus besteht nicht mehr gegenüber der eigenen gesellschaftlichen Praxis - und so kann der Marxismus noch gegenüber vergangenen Formen von Kämpfen bestehen, nicht aber gegenüber den selbst in der Geschichte initiierten. Er kann immer noch Altes beantworten - und durchaus richtig, weniger gut und richtig die neue Geschichte, wesentlich seine eigene; das wirkt sich auf den Anteil der Jugend und der Intellektuellen in der kommunistischen Bewegung aus. Sie kann Beides nicht mehr in ausreichender Größenordnung in sich vereinigen. Der kommunistischen Bewegung ist damit auch formell ihr Zukunftscharakter verlorengegangen. Denn wer nicht Geist und Jugend auf sich zieht, hat die Zukunft nicht.

Aber was muß das Ziel sein - und hier meine ich den wissenschaftlichen, also vom Objektiven, Materiellen ausgehenden Charakter des Marxismus? Nun, was immer sein Ziel war: Gesellschaftliche Geschichte zu markieren bis zur Voraussicht der heute schon einsehbaren.

Es gilt: Ohne Klarheit über den Kommunismus in seiner eigenen Praxis kein Kommunismus, keine ideelle Bewegung mehr hin zu ihm, jedenfalls keine nennenswerte - wie sich ja auch zeigt. Der unintellektuelle Kommunismus, wie ich ihn mal nennen möchte, wartet auf die "revolutionäre Situation" in der Geschichte. Er füllt die Lücke bis dahin aber nicht mit der gedanklichen Revolution aus, die immer möglich ist und jetzt dringend notwendig wäre. Es kommt gerade in unserer Zeit, der Zeit nach einer ersten Geschichte der Revolution, darauf an, richtig zu kämpfen. Und das heißt, auch im Bewußtsein eines Sozialismus, den es real nicht mehr gibt, dessen Geschichte abgebrochen worden ist, der keine Entwicklung hatte schon (!) in seinem Innern zur Klarheit über sich zu gelangen, richtig zu kämpfen. Das gegenwärtige revolutionäre Bewußtsein ist ja durch ein Ende des Sozialismus herausgefordert, mehr geht nicht, um als kommunistische Initiative herausgefordert zu sein.

Sagen wir so: Wir können ein kommunistisches Subjekt nicht mehr so wie früher ausschließlich am Gegensatz zum Kapitalismus bestimmen, wenn es bereits ein am Kommunismus bestimmtes kommunistisches Subjekt gab. Man wird die Geschichte nicht mehr los. Wer sich nicht auch am kommunistischen Erbe bestimmt, kann kein Kommunist mehr sein. Dazu zählen auch die Probleme des Kommunismus, denen man sich zunächst wie zu Fragen an sich selbst stellen muß, noch nicht wie zu Antworten an andere. Alle Antworten haben sich bisher als falsch, ungenügend oder einseitig erwiesen. Haben dürfen wir nur noch durch eigene gesellschaftliche Praxis bestimmte kommunistische Subjekte (Mitglieder oder Anhänger), und dazu muß man um die sozialistische Praxis wissen. Die heutigen Anforderungen an ein Parteimitglied sind historisch höher gestellt. "Mit Marx" überzeugt nicht mehr angesichts einer 70jährigen Praxis.

Es gilt sowieso: Am Kommunismus sind nicht die Parteien und ist nicht die Bewegung zu ihm hin das eigentlich Interessante, Wichtige, sondern diese Bewegung als reale Gesellschaft. Seit es den Kommunismus real gibt, bestimmt er das Bild, was Kommunismus ist. Seit es eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft gab, will ich nur von dieser wissen, was Kommunismus ist. Das kann bis zur Überforderung des Kommunismus gehen, denn er ist ja, wie jede Gesellschaftsordnung vor ihm - Beispiel Kapitalismus - einer Entwicklung unterworfen. Wo man mit dem Kommunismus "fertig" beginnen will, will man aber diese Entwicklung nicht, sondern nur deren Beginn, und diesen Beginn gleich wie ein Resultat, das für alles steht, was Kommunismus ist oder sein kann. Und das geht eben nicht. Das ging beim Kapitalismus nicht und das kann nicht beim Kommunismus gehen. Dass eine Partei wieder in die Brüche geht, ist ein kleiner Verlust gegen den, dass dem Kommunismus seine Gesellschaft wieder verlustig gegangen ist. Dieser Umstand rüttelt an der Grundfrage der kommunistischen Bewegung: Hat sie ihren geschichtlichen Sinn verloren? Hat, was wir Konterrevolution nennen, den Sinn der Revolution aufgehoben?

Wer sich als kommunistisch aus dem Kapitalismus bestimmt, wird Nein sagen, aber wir bestimmen jetzt den Kommunismus aus dem Kommunismus heraus; dieser Unterschied ist ein geschichtlicher. Er schafft auch andere Kommunisten; der eine verhält sich unverständiger, unversöhnlicher, "ungesellschaftlicher", der andere verständiger, versöhnlicher, "gesellschaftlicher". Der eine ist der reine Kommunist, der andere der, der gelernt hat, mit allen Menschen "ins Gespräch" zu kommen. (Er muß es ja auch, denn nur dieser Kommunist baut eine Gesellschaft auf.) Die Lage ist so, dass, während die Begründung des Kommunismus aus dem Kapitalismus ungebrochen weitergeht, die Begründung aus dem Sozialismus gebrochen, abgebrochen ist, das ist doch das Problem. Und das hat dazu geführt, dass ein Gegensatz zwischen Kommunisten, die sich aus dem Kapitalismus begründen und Kommunisten, die sich aus dem Kommunismus begründen, entstanden ist. Die einen machen weiter oder möchten weitermachen, begründen sie sich doch aus ihrem Kampf gegen den Kapitalismus, und die anderen hören auf oder haben aufgehört und "stören" nur die einen. Das kann zur Gründung kommunistischer Initiativen auf alte, also disziplinierende Art führen, bzw. hat zu ihr geführt. Das kann - im Sinne der geschichtlichen Ansprüche - aber nur ein Ersatz für das eigentlich zu Gründende sein.

Wir können nicht verhindern, dass auf sehr ungewöhnliche Geschehnisse in der Geschichte der Menschheit auch sehr gewöhnlich reagiert wird, zunächst sogar nur einfach. Eben "prinzipiell"; es wird nicht registriert, was da im Sozialismus passiert ist. Dann geht der Kampf statt "kompliziert", d. h. durch die neuen Fragen gefüttert weiter, auf die "einfache Art" weiter. Die einfache Weiterführung des Kommunismus sucht sich aus dem Kommunismus die "klarste Zeit" oder die "klarste Person" aus; indem sie diese zum Maß erhebt, wird sie Gegensatz zu allem an Kommunismus, was danach kam oder was ein Problem wurde. Er war/wurde ja ein Kommunismus der unklaren Zeit, der unklaren Personen, ungelöster Probleme.

Dagegen nun die Frage, dass wir es aber mit einer Konterrevolution zu tun haben, darauf kann der Kommunismus doch nur "einfach", d.h. grundsätzlich wie eh und je antworten. Das neue Bekenntnis zur Prinzipienfestigkeit wird doch durch diese Infragestellung des Kommunismus auf bürgerliche Art - gleich Konterrevolution - herausgefordert.

Vielleicht zur Verwunderung Vieler: Diese Konterrevolution nicht, die russische ist eine besonderer Art. Und eine an sich bürgerliche Konterrevolution kann den Kommunismus sowieso nicht herausfordern; die andere Klasse kann nicht den Sinn der eigenen Klasse aufheben, die Klasse des Kapitals nicht den Sinn der Klasse der Arbeit.

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Das Besondere an dieser Konterrevolution, die die Sowjetunion getroffen hat, war, dass sie nicht eine durch das Bürgertum, sondern eine durch Kommunisten war. Womit wir dann beim ersten Thema für den Marxismus - oder kommunistische Initiativen der nicht einfachen Art - wären. Das ist ja überhaupt der ganze Witz an der Sache, dass den Sozialismus eine Aufhebung getroffen hat, die von Kommunisten, von der führenden kommunistischen Partei der Welt inszeniert worden ist. Wie soll das eine "bürgerliche Konterrevolution" sein?

Sie ist eine Konterrevolution besonderer Art. Man könnte beinahe sagen: Wie alles in der Sowjetunion von "besonderer Art" ist, denn die sowjetische sozialistische Revolution war eine nationale (national wie besondere) Revolution, die sich zwar als internationale, d.h. allgemeine schon verstand, aber sie war noch keine internationale/allgemeine(11) der Tat, d.h. der Ökonomie nach, die sich nur noch national durchzusetzen hatte. Und hier über die Sowjetunion hinaus. Ich will damit nur ausdrücken, dass nur dann, wenn der innere Internationalismus oder die innere Allgemeinheit des Kommunismus verstanden ist, sie ins Nationale umgesetzt werden kann. Bis dahin gilt: In Rußland (Rußland wie Nation) siegt alles, Kapitalismus wie Kommunismus, nur, wenn Rußland siegt, d.h. wenn die Nation als Staat besteht. Sich überhaupt erst als Staat zu behaupten, macht das Wesen der russischen Politik aus, egal welcher Klasse, egal welcher "Gesellschaftsordnung". Erst internationale gesellschaftliche Systeme werden den Sozialismus national sichern, eindeutig und unverfälscht. Rußland hat ja seinen sowjetischen (besonderen) Internationalismus abgeworfen, das sagt alles.

Was aber den Grund der russischen Konter-Revolution, also Revolution zum russischen Nationalstaat hin, betrifft: Man muß die Erklärungen und politischen Aktionen, die im Vorfeld der dann realisierten Konterrevolution einsetzten, ernst nehmen, beim Wort nehmen. Es war eine Konterrevolution im Gepäck des Neuen Denkens, das damals um sich griff. Dieser Begriff ist sofort in die Sprachregelung aller kommunistischen Parteien der Welt eingegangen. Dadurch, dass das Neue Denken nicht auf die KPdSU beschränkt blieb, wir es aber in der Tat mit einer Konterrevolution, d.h. Restauration im bürgerlichen Sinn in den Verhältnissen zu tun haben - auch wenn sich das erst später so richtig herausstellte, war die Konterrevolution de fakto eine durch die Kommunistische Bewegung im Maßstab der Welt initiierte, gebilligte. Nicht direkt, denn niemand sprach von Konterrevolution, aber jeder sprach von einem Neuen Denken, nicht nur über den Sozialismus/Kommunismus, sondern auch über den Kapitalismus, über das Verhältnis von Sozialismus und Kapitalismus. Man konnte die real kommende Konterrevolution aus den Paradigmen des Neuen Denkens herauslesen. Der Weltkommunismus hat den Kommunismus gestürzt - allerdings, muß man hier noch einmal betonen, in der Art einer Konterrevolution des Neuen Denkens.

Und dies wäre die eigentliche Frage an eine kommunistische Initiative, eine Konterrevolution - und wenn nach Art des Neuen Denkens - durch Kommunisten zu erklären. Denn bürgerlich zu erklären, wäre zu einfach (überforderte den Marxismus, die Wissenschaft), man müßte dann mit einer Klasse erklären, die in der kommunistischen Gesellschaft gar nicht mehr existierte. Es wäre pures kapitalistisches Interesse, jetzt zu sagen: Dann aus der arbeitenden Klasse selbst erklären; die Arbeiter hätten sich zum Kapitalismus zurückgesehnt. Die Arbeiter können sich aber nur zu einer Realität "zurücksehnen", nicht einer Irrationalität. Wenn also zu einem Kapitalismus, dann nicht russischen.

Doch wenn nicht durch eine direkt bürgerliche Klasse zu erklären, dann vielleicht durch eine indirekt bürgerliche Klasse, also durch eine neue Art des Reformismus/Revisionismus, der mitten im Kommunismus entstanden ist? Hier taucht noch einmal der Gedanke des Revisionismus - oder Reformismus - im Sozialismus auf.

Nun, der Gedanke ist sehr verführerisch, denn wir haben es ja auch mit dem anderen Problem des Kommunismus zu tun: der inneren Zerrissenheit in der Frage seines ökonomischen Systems. Und weil sich hier ein Gegensatz auftat, könnte die weitere Entwicklung - zurück zu einer Form der bürgerlichen Restauration - zur Logik der ökonomischen Form des Revisionismus gehören: Von der Revision (des Sozialismus) zur Restauration (des Sozialismus). Aber auch das ist zu einfach, denn der Reformismus/Revisionismus "mitten im Kommunismus", seiner ersten, sozialistischen Phase, hatte eine Form. Und um die ist es ja gar nicht gegangen in dieser Konterrevolution. Die Frage des Revisionismus muß in ihrer Bedeutung für die Aufhebung des Sozialismus/der Sowjetunion relativiert werden, d. h. auf den zweiten Rang verwiesen werden, wenn für den Grund dieser Aufgabe des Sozialismus, oder des Wechsels der gesellschaftlichen Ordnung in Rußland, ein anderer Grund ausgemacht werden kann wie ausgemacht werden muß.

Und was bleibt dann noch vom Platz des Revisionismus?

Revisionismus im ökonomischen Denken - ich nenne ihn so -, mit ihm hatten wir es durchaus im Sozialismus zu tun. Insofern ist der Kampf gegen den Revisionismus in seiner entwickelten Form Pflicht im Kampf kommunistischer Initiativen, aber er war nicht die Ursache der Konter-Revolution, und die Konter-Revolution war auch nicht sein Ziel - welch neue Überraschung! Gegen den neuen Revisionismus in der Ökonomie-Frage muß anders gekämpft werden als gegen den alten Revisionismus in der Staatsfrage: innersozialistisch statt innerkapitalistisch.

Der alte Revisionismus in der Staatsfrage bedeutet ein Überlaufen der Arbeiterbewegung in eine andere, real existierende bürgerliche Klasse; dazu muß es den bürgerlichen Staat, oder das Kapital als Staat, geben!

Ein ökonomischer Revisionismus aber wandelt die Arbeiterklasse selbst in eine "bürgerliche", er kann nur das bürgerliche ökonomische Verhältnis für die Arbeiter beleben, der "Verrat" ist ein innerer in derselben Klasse. Und die Wiederbelebung des bürgerlichen ökonomischen Interesses kann für Arbeiter vom Objektiven her nur in einer Gesellschaft geweckt werden, in der der Kapitalist als Person verschwunden ist und die Arbeiter die Verantwortung für die Arbeit übernommen haben.(12) D.h. nur wo die Arbeiter Eigentümer sind, kann für Arbeiter die Reform des Eigentums Sinn machen - wenn es auch ein falscher sein mag. Womit die Frage beantwortet ist, warum der ökonomische Revisionismus nur im Sozialismus entstehen kann. Nur wo die Arbeiter Ökonomie sind, kann für sie die Frage einer Revision, des Übergangs in eine andere Ökonomie aufgeworfen werden. Nur unter der Bedingung von Herrschaft der Arbeiter kann man Arbeiter in die Irre führen, verraten! Dann allerdings nur relativ, nie absolut. D.h. nur als anderes ökonomisches System, nie als Ende des Sozialismus.

Die Frage ist immer, was die Arbeiterklasse, soweit sie politisch herrscht, also als Staat existiert, dazu sagt, dass sie ein "bürgerliches Interesse" in ihre Ökonomie einziehen sieht; diese Frage ist ja offen (so wie es bei der ersten Form des Revisionismus offen ist, was die bürgerliche Klasse als ökonomisch herrschende dazu sagt, dass sie politisch den Einzug der "Arbeiterbewegung" (Sozialdemokratie) in den bürgerlichen Staat erlebt.) Jeder Revisionismus in der Staatsfrage fällt in den Kapitalismus, und jeder Revisionismus in der Ökonomie-Frage in den Sozialismus; wieweit der eine den bürgerlichen Staat änderte - und die bürgerliche Ökonomie nicht, und der andere die sozialistische Ökonomie änderte - und den sozialistischen Staat nicht, ist in der bisherigen Geschichte nur zum Teil geklärt worden, also durchaus noch nicht bis zuletzt beantwortet. Doch was die wirkliche, die realisierte Re-Revolution des Sozialismus betrifft, so ist sie eine durch Kommunisten unter der Bedingung der Entfernung der Kommunisten von der Macht im Staat. Ich betrachte noch immer die Sowjetunion/Rußland als typisch für diesen Prozess.

Der geschichtliche Widersinn kann gar nicht größer sein; Kommunisten entfernen sich selber von der Macht, sie sind durch nichts - was historisch logisch - gezwungen, aber sie zwingen sich. Was kann Grund dafür sein, dass sich Kommunisten aus der Macht zwingen?

Der (mögliche) Gegensatz von Kommunismus/Kommunisten im Staat und wieder privatem/besonderem Eigentumsprinzip in der Ökonomie stellte sich gar nicht. Die Restauration - in der UdSSR - war eine der politischen Herrschaft im Staate, und die Ökonomie, die sich dadurch ergab, war eine direkt das Privateigentum wieder herstellende, der Arbeiter ist wieder von der Ökonomie entfremdet - wenn auch der Prozess noch nicht beendet ist. Das ist also zu erklären.

Womit wir mitten in der Theorie für den einen der beiden genannten Gesichtspunkte wären. Vom Standpunkt der gesellschaftsformatorischen Logik handelt es sich bei der bewußten Aufgabe des sozialistischen Gehalts der Sowjetunion um einen Verrat an der geschichtlichen Logik. Aber: Verrat (zu sagen) ist nicht falsch, aber auch nicht richtig - wenn es sich um eine andere Sachlichkeit handelt, die der Aufgabe des Sozialismus in der Sowjetunion zugrunde lag.

Man muß bereit sein (die Politik muß bereit sein), auch einen anderen als gesellschaftsformatorischen Gesichtspunkt in der Geschichte wirken zu lassen, Geschichte muß auch aktiv Partei ergreifen können zugunsten solcher anderer Faktoren. Wir, die wir von der formatorischen Logik ausgehen, müssen uns doch fragen: Warum ist der Verrat an der Logik stärker als die Logik? Warum wirkte denn der Kommunismus so hilflos in einem Augenblick, als er gesellschaftlich in Frage gestellt wurde? Die Antwort: Weil er schlecht gegen seine eigenen Argumente in anderer sachlicher Hinsicht angehen konnte. Er konnte sich nicht infrage stellen angesichts eines Wechsels, der wie ein Wechsel in der Politik ­... derselben Gesellschaft wirkte. Aber es wurde ein Wechsel der Gesellschaft. (Die Sowjetunion hat ihre Politik begleitet, als sie ihre Gesellschaft wechselte. Unmöglich? - Dann erklärt anders.) Ohne einen wieder objektiven, aber bislang unbekannten Faktor in die Geschichte einzuführen, geht das nicht. Hier also marxistisch antworten zu können, d.h. mit einer Wiederaufnahme des Kampfes um den Kommunismus antworten zu können, kommt einer Relativierung der Aufgabe des Sozialismus, und damit einer Relativierung der Konterrevolution gleich: der Sozialismus ist aufgegeben und nicht aufzugeben zugleich. Beides ist gleichermaßen objektiv! Das ist das Phänomen unserer Geschichte, dass Länder Systeme aufgeben können (und aufgeben), ohne eine Politik aufzugeben, ohne eine Bewegung aufzugeben. Wir haben es - bei der Aufgabe des Sozialismus in der Sowjetunion - mit einem nichtlogischen objektiven Faktor für die Politik, das geschichtliche Subjekt zu tun. Wäre Nichtsozialismus und Sozialismus nicht zugleich gegeben, wäre das das Ende des Marxismus und der Arbeiterbewegung. Daher lohnt - um auf unser Verhalten zur Geschichte von Heute zurückzukommen - der Appell an den disziplinären Faktor in der Arbeiterbewegung, aber ... er reicht nicht aus angesichts ihrer nur relativen, aber nicht absoluten Infragestellung. Massen gewinnt man in der Phase der Ohnmacht nur auf der Basis einer Theorie, die erneut Überzeugung schafft. In diesem Fall in Bezug auf ein "Ende".

Die Dialektik, die hier dem Denken angeboten wird, ist nicht einfach. Verständlich. Wie soll man eine Notwendigkeit der Aufgabe des Sozialismus aus ganz anderem Grund als dem des kapitalistischen Gegensatzes zum Sozialismus oder inneren "defizitären" Gründen des Sozialismus auch verstehen? Bloß, man hat keine andere Wahl. Gilt dieser andere Grund (als der des Gegensatzes und des "defizitären" Sozialismus) nicht, stünde der Sozialismus als Gesellschaftsordnung selbst zur Debatte. Das heißt, dann würde alles eine Frage der Gesellschaft sein. So ist sie das nicht.

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Andererseits hat die so genannte innergesellschaftliche Kritik am realen Sozialismus breiten Zuspruch gefunden. Welchem Problem können Kommunismus-Initiativen, die sich den beiden Fragen in der Geschichte des Sozialismus/der Sowjetunion stellen, selbst anheimfallen? Dass sie mit einem äußeren, einem lediglich durch Kapitalismus geprägten Verständnis an den Kommunismus herangehen. In diesem Verständnis erscheint alles als Verrat, was "da im Kommunismus passiert" ist. Sie fühlen sich letzten Endes um ihren Kampf für den Kommunismus, all die Opfer, die sie für diesen Kampf erbracht haben, betrogen. Wir müssen aber vom Kommunismus her an die Frage - wieder kommunistischer Initiativen - herangehen. Und erklären müssen nicht nur die Neuen kommunistischen Initiativen, sondern jede traditionell bestehende Partei kommunistischen Charakters. Auch die Parteien, die nicht vom praktischen Prozess ihrer Aufhebung betroffen worden sind, müssen sich jetzt für den Sozialismus verantwortlich fühlen, was historisch neu für sie ist; das sind also alle kommunistischen Parteien, die im Kapitalismus existierten und existieren. Es geht - jetzt - nicht um Verteidigen, sondern um Erkennen (bevor es um Verteidigen geht). Sie dürfen das Gedenken/Denken an den real existierenden Sozialismus nicht achtlos wegwerfen - einerseits, sondern zur Substanz für ihr entwickeltes Bild vom Kommunismus machen - dies andererseits, sonst löst sich der Kommunismus für lange geschichtliche Zeit in einen - vielleicht noch liebenswert bedachten - Gedanken auf.

Kommunistische Initiativen, die sich nicht als theoretische Initiativen verstehen, sind daher keine Initiativen im Sinne des jetzigen geschichtlichen Anspruchs. Man muß es so sagen. Ich will damit nicht den subjektiven Faktor herabwürdigen. Es kommt mir darauf an, welches Verhältnis er zur objektiven Situation des Kommunismus einnimmt. Die kommunistischen Initiativen in Deutschland führen keine theoretische Debatte. Das kann früher oder später zu ihrem Problem werden. Richtig kämpfen, sauber denken - gut und schön, sicher kann auch da noch vieles besser gemacht werden, aber ernst genommen wird jetzt eine kommunistische Initiative durch eine theoretische Initiative.

Es fehlt der theoretische Impetus überall dort, wo der praktische dominiert. Er fehlt, aber er darf auch nicht nur durch die "guten Jahre" geprägt sein und nicht nur durch das "schlechte Ende". Die Neue Theorie des Marxismus, um die es jetzt geht, muß die Konterrevolution erklären können - und weit über sie hinausgehen. Jahrzehntelang schien es keine Frage zu sein, richtig zu kämpfen, denn es hatte sich - nach der Oktoberrevolution - doch mehr oder weniger die Auffassung herausgebildet, der künftige Weg der Arbeiterbewegung würde durch die Sowjetunion gewiesen; insbesondere nach dem 2. Weltkrieg hatte sich diese Überzeugung durchgesetzt. Aber ein erster Einbruch in diese Phalanx an ideologischer Gewissheit, so will ich sie einmal nennen, ergab sich 1956, mit dem 19. Parteitag der KPdSU, der die Welt mit einer vehementen Kritik an der bis 1953 führenden Person des Kommunismus, J.W. Stalin überraschte. Von da ab nahm aber nicht nur die Kritik an seiner Person - durch die Kommunisten der Sowjetunion selbst - zu, sondern auch das gesellschaftliche System des Sozialismus, das unter seiner Führung entstanden, geriet mehr und mehr in die Kritik. Das hatte zwei Seiten; die eine Seite war nur die allmähliche Wende in den Paradigmen der Außenpolitik, die andere war die der beginnenden und dann immer stärker um sich greifenden Kritik am ökonomischen System des Sozialismus. D.h. das Verhältnis zum Kapitalismus, insbesondere zu den USA erfuhr - zunächst in den allgemeinsten Fragen - eine Umbestimmung, und das Verhältnis zum Sozialismus in seiner ökonomischen Form geriet quasi an eine Neubestimmung - dichter an den Kapitalismus heran. Das sind also zwei Verhältnisse von weitreichender Bedeutung, aber nur der Paradigmenwechsel in der Außenpolitik bzw. im Verhältnis des Kommunismus zu den weiter bestehenden kapitalistischen Staaten scheint bis zum Punkt Konterrevolution verfolgt werden zu können! Das kann aber auch nur ein Schein sein, d.h. dieser Punkt wäre noch zu klären. Die Sowjetunion schien auf jeden Fall immer weniger Ausdruck eines Brechens mit dem kapitalistischen Systems oder eines konsequent konkurrierenden Systems mit dem Kapitalismus zu sein. Es bedurfte nur noch eines letzten Schlussstrichs, der ab 1985 einsetzte. 1991 schließlich folgte die bürgerliche Restauration (besonderer Art) der Sowjetunion, der Sozialismus in Osteuropa zerbrach. Das alles sind aber sachliche Prozesse, denen man sich in der marxistischen Theorie stellen muß und wo die Reaktion nicht an sich ein Appell an "das revolutionäre Bewußtsein" sein kann.

Der subjektive Faktor, in der Regel als ein disziplinierender verstanden, war eine notwendige Bedingung in der Arbeiterbewegung, als die geschichtliche Aufgabe, deretwegen sie geboren, geklärt war. Solange es nur um die Frage der revolutionären oder reformistischen Orientierung ging: ob eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft das Ziel, oder Anpassung an den Kapitalismus, also Kapitalismus das Ziel sein soll, machte die Einforderung von Disziplin einen Sinn. Gegenüber einer gelösten Frage - durch die Arbeiten von Marx und Engels gelösten Frage - die Disziplin einzufordern, d.h. gegenüber der Logik die Disziplin einzufordern, geht, gegenüber einer ungelösten, umkämpften, wieder in Frage gestellten Lösung (durch die Revolutionäre selbst) den disziplinären Faktor in den Vordergrund zu rücken, ist ein Widerspruch. Sofern eine Sache umkämpft ist (und die Sache konnte nicht umkämpfter sein), fordert man die Disziplin immer für eine Minderheit. Sieg erfordert aber die Mehrheit, und die setzt die Überzeugung, also nicht das bloße Subjekt, sondern das denkende und, in einem 2. Schritt, das zum Wissen gelangte Subjekt voraus. Disziplinierung in der Ideologie erzeugt immer nur den Schein einer Mehrheit, die Überzeugung, die sie schafft, ist äußerlich und wird auch bei der ersten besten Gelegenheit aufgegeben. Im Moment ist die Lage im Kommunismus so, dass man erst einmal alles schön durchdiskutieren, aber nicht schon wieder eine "absolute Wahrheit" hören will. D.h. auch wenn es eine Wahrheit schon wieder ist/gibt, muß sie bereit sein, um ihre Anerkennung zu ringen. Wenn es also schon ein subjektiver Faktor sein soll, der zu aktivieren wäre, dann ein solcher, der "undiszipliniert" - in Bezug auf gewohnte Erkenntnisse, bekannte Wahrheiten - sich bewegt. Sein Maß ist das Neue, das Dazugekommene, das ... Unbekannte.

Demnach ist eine "unlogische Sachlichkeit" entstanden. Das Ende der Sowjetunion, mit dem wir alle konfrontiert sind, ist eine absolute sachliche Herausforderung für den Kommunismus. Und sie ist im Sinne der historischen Logik, also der gesellschaftsformatorischen Logik, unlogisch, daher nicht zu messen am gesellschaftsformatorischen Faktor der Geschichte. Ich gebe das zu bedenken; sonst wäre ja alles einfach, wir hätten es mit einer einfachen Konterrevolution - oder einfach mit einer Konterrevolution zu tun und die reißt den Marxismus/Kommunismus nicht aus seinen Betten. Eine freiwillige Aufgabe wieder des Sozialismus aber ist in keiner der bisherigen Fragestellungen der Arbeiterbewegung, damit des Marxismus, vorgesehen. Und nicht nur nicht vorgesehen, weil eine Konterrevolution gegen den Kommunismus im Marxismus etwa nicht vorkommen könnte. Natürlich kommt sie "vor". Es ist die freiwillige Aufgabe der Sowjetunion, die alle Maßstäbe sprengt. Es muß einen kommunistischen Grund für sie geben, wenn ein normaler Grund, also bürgerlicher, für sie nicht mehr in Frage kam! Sie ist damit eine absolute Unmöglichkeit im Sinne der logischen Geschichte, aber eine mögliche im Sinne einer nichtlogischen! Als logisch käme sie einer Infragestellung der Arbeiterbewegung an sich, des Marxismus als solchen gleich. Als nichtlogisch berührt sie den Marxismus nicht einmal, im Gegenteil, könnte sie ihm entsprechen. Das sprengt natürlich alle Rahmen des gewohnten Denkens, die die historische Entwicklung als logische unterstellen - sowohl in der positiven Richtung, als Aufbau einer alternativen, kommunistischen Gesellschaft, als auch in der negativen, als deren Wiederaufhebung durch eine zum Kommunismus gegensätzliche Klasse. D.h. auch der Verratsfaktor erklärt nichts.

Sich das Büßerhemd überzustreifen, ist falsch. Jetzt in einen "sicheren Kommunismus" zurückzuflüchten als eine Schutzburg vor dem Heranrollen der Imponderabilien der Geschichte, ist falsch, es sind reine Willensreaktionen, rein subjektive Kommunismusbekenntnisse.

Worin sind in der heutigen Bewegung rein subjektive Verhaltensweisen zu den Problemen zu erkennen? Indem sich das revolutionäre Subjekt entweder ganz an den Anfang des Werdens von Bewußtsein setzt - das sagen wir wieder "bei Marx anfängt", oder indem man sich in der Kette der geschichtlichen Kämpfe in jenes Glied zurückbegibt, in dem der Kampf noch "klar war". Es gibt ein übersteigertes Marx-Bekenntnis und es gibt ein übersteigertes KPD-Bekenntnis (in der deutschen Arbeiterbewegung). Aber das sind Schutzbekenntnisse. Man greift in der Regel in jene Zeit zurück, als der ganze Kampf noch lediglich dem Kapitalismus galt (allerdings früheren), noch nicht dem Sozialismus. Aber erst ab dem Sozialismus, der eigenen gesellschaftlichen Praxis, fingen in der revolutionären Bewegung die Kämpfe an, mit denen wir es heute zu tun haben. Kommunistische Initiativen, die heute im Kapitalismus gegründet werden, um den Kampf "richtig" zu führen, haben es aber, wenn es um die Probleme geht die der Bewegung bereitet wurden, mit dem Sozialismus zu tun, nicht dem Kapitalismus. In den "sicheren Marxismus" der frühen Kämpfe zurückzukehren, kommt einer Flucht aus der Realität des Sozialismus gleich.

Im Sinne der Theorie ist die Rückkehr des revolutionären Denkens in die "frühere Zeit" falsch. Es ist ein Reflex rein der Praxis, d.h. wesentlich einer solchen Praxis, die noch nicht an die Bedingungen eines Sozialismus als einer Gesellschaft geraten war. Es wird einfach der von der Gesellschaft noch freie Kampf für den Sozialismus belebt. Also eine äußere Form. Wir müssen aber die innere Form für ihn wieder beleben, seine gesellschaftliche Form. Wenigstens dem Verständnis nach. Der theoretische Reflux muß auf die Fragen des Sozialismus gebannt bleiben. Wir brauchen also - in den jetzigen praktischen Bewegungen - einen Spagat. Einerseits kehren wir in den Kapitalismus zurück - und antworten auf die Fragen, die er aufwirft, andererseits bleiben wir auf dem Boden des Sozialismus und antworten - richtig, immer besser - auf die Fragen, die der Sozialismus aufgeworfen hat. Immer Sozialismus bleiben, immer auf den höchsten Stand beharren, den die Bewegung je erreicht hat - das ist die theoretische Seite des Spagats. Und den praktischen Kämpfen gerecht zu bleiben, die andere Seite. Bzw. wenn wir es doch wieder mit den früheren Kämpfen zu tun haben, so aber nur aus dem Grund, weil sie jetzt einen anderen Stellenwert zu bekommen scheinen, da wir aus dem Sozialismus in den Kapitalismus zurückgekehrt sind. Unsere Zeit enthält auch das Problem, dass sich die Frage von Revolution und Reform, revolutionärer Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, noch einmal stellt, nachdem sie geschichtlich schon einmal zugunsten des revolutionären Teils der Arbeiterbewegung gelöst schien.

Weder ist dem Kommunismus der Rücken zu kehren, noch das Gesicht der Sozialdemokratie zuzukehren. Es gibt neben der Rückkehr zu einem bekenntnishaften Kommunismus eine Umkehr des einst revolutionären Kommunismus zu einem sich nun aber sicheren Sozialdemokratismus - und natürlich eine Wiederkehr der Auseinandersetzung mit ihm. Unter Sozialdemokratismus verstehe ich die evolutionäre Anpassung in der Arbeiterbewegung an die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft - die ja nicht geendet hat, als der Sozialismus begann; d.h. die Sozialdemokratie operiert mit einem sozialistischen Sankt-Nimmerleinstag - wenn überhaupt noch. Es macht einen Unterschied, ob der Sozialdemokratismus vor dem Sozialismus, also unter rein kapitalistischen Bedingungen beginnt - da wird ihm die ganze Wucht des revolutionären Bewußtseins, der "ganze Marx/Marxismus" entgegengeschleudert, oder ob er ein zweites Mal geboren wird, angesichts eben der "Probleme des Sozialismus", und es wie eine Flucht auch aus dem Sozialismus erscheinen kann, dass sich der revolutionäre Teil in den evolutionären Teil der Bewegung zurückbegibt. Mit revolutionärem Bewußtsein ist ihm da schlecht begegnen. Er verfügt ja "über Material", das er gegen das revolutionäre Bewußtsein anwenden kann. Man kann der zweiten Geburt des Sozialdemokratismus nicht mehr mit dem alten Wissen und Bewußtsein von der Überwindung des Kapitalismus antworten, sondern muß ihm, weil er "vom Sozialismus bestätigt" worden ist, mit einem höheren Wissen vom Sozialismus widerstehen. D.h. der gegenwärtigen Geschichte, die durch weniger Kommunismus der Praxis nach geprägt ist als das 20. Jahrhundert, muß man im 21. Jahrhundert begegnen mit einem Kommunismus, der durch mehr Theorie geprägt ist.

Die gegenwärtige Zeit ist gekennzeichnet durch einen sich wiederherstellenden revolutionären subjektiven Faktor - schwächer als er vor der sozialistischen Revolution bestanden, d.h. geschwächt durch seine eigene unbewältigte Gesellschaft, und ist gekennzeichnet durch einen sich wiederherstellenden sozialdemokratischen Faktor - stärker als er vor der sozialistischen Revolution bestanden, d.h. jetzt bestätigt - von mir auch "bestätigt" - durch die sozialistische "Gesellschaft".

Aber sie muß in der nahen Zukunft gekennzeichnet sein durch einen viel stärkeren theoretischen Faktor, durch ein viel höheres Verstehen des Kommunismus als es im Kommunismus selbst bestanden hat?

Ja, das ist die Realität. 1. ein geschwächter, sich in seiner eigenen Gesellschaft unsicher gewordener Kommunismus, der in ein disziplinäres Element flüchtet - das hat die genannten Erscheinungen übermäßiger Treue, Bekenntnis auf der Basis Alten, Bekannten -, 2. eine Rückkehr aus dem Kommunismus in die Sozialdemokratie - als die Erscheinungsform, mit der ein gewisser Teil der revolutionären Arbeiterbewegung auf die bürgerliche Restauration des Sozialismus reagiert. Aber letztlich, und dies 3., eine Wiedereinkehr in das kommunistische Denken, diesmal über den Kommunismus, den wir hatten. - Im Punkt 1 hat sich die uralte Spaltung der Arbeiterbewegung erneut ergeben. Es hat sich, wenn man insgesamt von dieser Bewegung wie von einer Wiederherstellung der geschichtlichen Ausgangssituation, d.h. wie von einem Neuanfangen sprechen darf, erneut die Spaltung in ihren inneren Gegensatz ergeben: einerseits Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft, andererseits Anpassung an den revolutionären Beginn. Was einerseits geschichtlich gut ist, ist andererseits geschichtlich aber nicht dasselbe (dasselbe wie einst). Es erscheint ja - wenn schon aus dem Sozialismus zurück - logischer zur Sozialdemokratie zurückzukehren als zum revolutionären Kommunismus, die Anpassung an die bürgerliche Evolution scheint vernünftiger, lehrreicher zu sein als die Wiederholung der revolutionären Ausgangssituation - in einer schlechteren Variante als je zuvor. Die einen haben wieder eine Gesellschaft, die zwar die bürgerliche ist, aber sie bekommt nach einer bürgerlichen Restauration des Sozialismus natürlich einen anderen Stellenwert. Die anderen haben ihre Gesellschaft verloren - sie scheinen auf ein reines Subjekt reduziert. Das waren sie vor der sozialistischen Revolution nicht! Es macht einen Unterschied, ob man eine sozialistische Gesellschaft noch nicht hat, oder ob man sie wieder verloren hat; beide Male hat man sie nicht. Aber was für ein Unterschied: Die objektive Lage des revolutionären Subjekts hat sich verschlechtert. Jetzt sind die Sozialdemokraten Gesellschaft, und die Kommunisten Idee. Doch damit kann man sofort etwas setzen: Wissen der Idee vom Kommunismus über den wirklichen Kommunismus.

Nun ist die Voraussetzung dieser Umkehrung im Verhältnis von Kommunisten und Sozialdemokraten (dass die Kommunisten von Gesellschaft sind und der Sozialdemokratismus nur ein feiner Glaube) doch die, dass die sozialistische Gesellschaft auf bürgerliche Weise wieder aufgehoben worden ist. Man muß doch nicht die Auffassung teilen, dass ihr dieses Schicksal blühen mußte? Also die Frage: Ist denn die Konterrevolution in der Sowjetunion wirklich eine bürgerliche Konterrevolution?

Sie scheint beantwortet, aber im Moment eben dennoch nicht endgültig beantwortbar, also woraufhin es keine marxistische Prognose geben kann. So viel ist klar: Ein ganz anderer Charakter der Konterrevolution als der unterstellte würfe alle geschichtlichen Prophezeiungen, die jetzt über die Arbeiterbewegung angestellt worden sind, über den Haufen. Es fehlt einfach noch das Ende der Konterrevolution. Deshalb ist ihre geschichtliche Wertung noch immer offen. Denn um Revolutionen als auch Konterrevolution wirklich erklären zu können, müssen sie in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang gestellt werden, sagen wir in einen solchen von über 100 Jahren. Erst dann können wir sicher sagen, was Revolutionen wie aber auch Konterrevolutionen geschichtlich sind bzw. wirklich bewirken. Auch Konterrevolutionen haben ihre Geschichte bzw. werden ihre Geschichte haben. Bis jetzt wissen wir sicher von ihr nur, was sie aufgehoben hat oder was Rußland war (70 Jahre lang), nicht aber, was sie wird. Bisher sind noch alle Konterrevolutionen in der Geschichte - wir studieren dieses Objekt allerdings maßgeblich an der bürgerlichen Geschichte - revidiert worden, und dass revidiert heißt, dass sie auf ihre geschichtliche Ausgangssituation zurückgeworfen wurde: die Konterrevolution also auf die Revolution, in diesem Falle auf den Faktor, der zum Kapitalismus führen muß. Die Konterrevolution (!) wiederholt die Revolution (ein - in den Grenzen der Konterrevolution - schwaches Rußland, also schwaches bürgerliches Rußland, würde die Revolution/oder die Sowjetunion wiederholbar machen, und zwar rasch). D.h. die sozialistische Revolution ist wiederkehrbar. Ist sie das, war die Konterrevolution kein absolutes Muß der Geschichte. Sie muß damit nicht eine Taktik gewesen sein, sie hatte schon einen Grund, aber welchen? Das ist die Frage - die wir aber schon jetzt beantworten können, die wir sogar immer beantworten konnten. Darum ist nie ein Geheimnis gemacht worden. Ich spreche hier das Neue Denken an. Angesichts der Politik des Neuen Denkens stellt sich die Frage, ob die Konterrevolution überhaupt ein Gegensatz zum Sozialismus war, d.h. ob der Grund der Konterrevolution einzig der war, den Sozialismus aufzuheben. Ob die Aufhebung des Sozialismus Grund war, ist die Frage! Als Mittel (des Neuen Denkens) wäre die Aufgabe des Sozialismus relativiert.

Darüber muß Klarheit sein: Der sozialistische Charakter Rußlands, damit die Sowjetunion, ist aufgehoben worden - das ist eine Tatsache, aber es machte einen Unterschied, ob die Aufhebung des Sozialismus aus innerem Grund, d.h. aus Gründen des Sozialismus selbst erfolgte - dann muß man sich mit der sozialistischen Frage auseinandersetzen inklusive der Möglichkeit der Rückkehr zu einer bürgerlichen Gesinnung mitten im Sozialismus selbst, oder eben aus ganz anderem, ebenso "gewichtigen Grund" erfolgte, und dann erscheint im Verhältnis zu diesem Grund die Aufgabe des Sozialismus nur als ein Mittel zu einem Zweck ganz anderer Art. Dass also in der Stellung zwischen dem Neuen Denken und dem Sozialismus der Sozialismus eine Abwertung erfährt die bis zu seiner Aufhebung führt, muß dennoch in unserem Denken über sie als eine Umwertung im Verhältnis zur Konterrevolution, muß als eine Neu- bzw. Wiederbesinnung auf den Sozialismus - dieser Prägung - genommen werden. Wir müssen dann zugeben, dass sich unser ganzes Denken über den Sozialismus, die Konterrevolution und das Neue Denken auf eine neue Grundlage stellt je nachdem ob etwas Zweck, oder nur Mittel in diesem Prozess war.

Wenn "der andere Grund" überwichtig, wichtiger als der gesellschaftliche Grund, dann wäre jede Gesellschaft gestürzt worden, egal welche, der Kapitalismus als auch der Sozialismus. Dann hätte die gesellschaftliche Stärke gar keine Rolle gespielt. Wichtig, oder geschichtlich, wäre dann nur "der andere Grund" gewesen. Notwendig wäre dann nur gewesen, dass sich an der Spitze der Gesellschaft jene Personen befunden hätten, die von der größeren Wichtigkeit jenes anderen Grundes überzeugter gewesen wären als von der Wichtigkeit der Gesellschaft, in diesem Fall der sozialistischen Ordnung des Landes. Und das war ja offensichtlich der Fall. Nur dadurch, dass sich solche Personen an der Spitze des Sozialismus befanden, die "plötzlich" anders, d.h. in anderen Kategorien dachten als in gesellschaftlichen, konnte die Aufhebung des Sozialismus - der jetzt der unwichtigere Grund war - gelingen. Noch einmal: Die Konterrevolution war ein Spitzendenken, war ein Denken von Kommunisten - der Sowjetunion, der Führung der KPdSU -, aber die Frage ist - angesichts des Denkens aus "anderem Grund", ob es dann der klassische Verrat war, den eine Konterrevolution "aus gesellschaftlichem Grund", ausgehend von den eigenen Reihen, bedeuten würde. Zwei mögliche Gründe für ein Ende des Sozialismus verwandelt unser Denken über das Ende des Sozialismus in eine Frage an die Geschichte; die letzte Antwort ist in die Zukunft verwiesen, die Antwort ist - dann - keine der Gegenwart.

Das Phänomen, warum ausgerechnet die revolutionäre Klasse in diesem Verhältnis von Kapitalismus und Kommunismus zur Konterrevolution übergeht, die Revolution also die Revolution liquidiert, so dass die Konterrevolution gar nicht als Gegenrevolution der anderen Klasse erscheint, ist dann erklärt. Die Konterrevolution erscheint dann wie eine höhere Einsicht der revolutionären Klasse in die Geschichte (zu sagen: des Sozialismus scheint hier fast wie eine Nebensache obwohl sie eine dienliche Sache ist, denn an sich geht es ja nur um "Einsicht" als solche). Wenn sie nur Mittel, kann die Konterrevolution ebensogut der arbeitenden Klasse wie auch der kapitalistischen Klasse dienlich sein. Man darf nur nicht einen Fehler machen, jetzt den Sozialismus absolut zu verdammen - wie ihn eben eine Konterrevolution verdammen würde, die durch die gegensätzliche Klasse gemacht worden. (Beim Verrat/Verräter ist das natürlich unterstellt, weshalb das Erklären von Geschichte mit ihm relativ einfach ist - für die Wiederherstellung von revolutionärer Disziplin. Aber es geht wohl um mehr.)

*

Es geht jetzt um die Frage des Neuen Denkens in der Sowjetunion, das zwar in gewissen Grundsätzen schon vorher angedacht worden ist, aber erst mit der Epoche von Gorbatschow seine Krönung erreichte.

Es wird immer übersehen, dass das Neue Denken eine Philosophie ist, die von sich gesagt hat, dass sie mit jeder Gesellschaft zu verbinden sei, sie sei gewissermaßen übergesellschaftlich im Sinne eines Gegensatzes zwischen den Gesellschaften, in diesem Falle zwischen Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus. (Ich mache hier auf die Thesen aufmerksam, die seinerzeit der "Kommunist", das theoretische Organ des ZK der KPdSU, in seiner Ausgabe 7/1988 veröffentlicht hat (sie wurden auch in der DDR veröffentlicht; "Sowjetwissenschaft" 6/1988). Dort wird von einem Wissenschaftlerkollektiv des Lehrstuhls für Weltpolitik und internationale Tätigkeit an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU in sechs Thesen der übergesellschaftliche Charakter des Neuen Denkens betont; was nicht gesagt wurde, ist, dass die KPdSU, ihr maßgeblicher Teil, eine gesellschaftliche Aufgabe der Sowjetunion mit in Kauf nehmen würde - um in der Politik des Neuen Denkens zum Durchbruch zu kommen. Und wo? Offenbar im Kapitalismus - muß man jedenfalls annehmen.) Genaugenommen ist das Neue Denken eine Politik; Gesellschaften, die das Wesen dieser Philosophie angenommen haben, verwandeln in eine Politik, die Gesellschaft wird zu einer Nebensache. So seltsam, oder ungeheuerlich, das auch klingen mag, aber vom Standpunkt des Neuen Denkens ist es gleichgültig, ob Rußland sozialistisch oder kapitalistisch dem sozialen Verhältnis nach ist.

Was würde es bedeuten, wenn wir die ganze Geschichte des Sozialismus, ihre Verwandlung in eine Konterrevolution, unter dem Gesichtspunkt einer vom Wesen her übergesellschaftlichen Politik, d.h. Politik zweier Gesellschaftsformationen betrachten würden? 1. dass wir die Philosophie des Neuen Denkens betrachten/verfolgen müssen unter dem Aspekt der Außenpolitik Rußlands - seit jetzt 20 Jahren und weiter in der Zukunft, nur sie kann der Nachweis sein, dass das Neue Denken die Aufgabe des Sozialismus, aber nur zum Zwecke der Durchsetzung einer Politik im Kapitalismus war, und 2. dass der ganze Sozialismuskomplex keine Rolle spielen würde bzw. nicht mehr diese Rolle spielen würde, die er unter dem Aspekt einer Theorie der Neufindung des Sozialismus angenommen hat. Das Neue Denken wurde ja begleitet von einem Gerede über die Unfähigkeit und Unmöglichkeit an sich des Realen Sozialismus. Auf Basis dieses Geredes entstand eine "übermächtige" Sozialismus-Reform, diese wollte den Sozialismus übernehmen. Dieser ganze Neue Sozialismus ist dann falsch. D.h. unser Verhältnis zum Sozialismus könnte ein unverändertes bzw. weitgehend unverändertes bleiben, je nachdem wie wir den Charakter des Neuen Denkens einschätzen - ungeachtet der Aufgabe des Sozialismus. Angesichts einer Konterrevolution aus anderem Grund als gesellschaftlichen spielt der gesellschaftliche Bezug, um den sie begründet wird, de fakto keine Rolle. Man hängt das Niedergangsszenario dem Kommunismus zwar an, aber der Kommunismus brauchte diesen Aspekt - herangezogen zur Begründung für das Ende des Sozialismus - nicht zu beachten. Wir müssen die Kritik am Sozialismus aufgeben - oder müssen, wenn es um Kritik am Sozialismus geht, diese von einer Kritik an der Konterrevolution trennen. D.h. sie ist ein Extra-Thema des Kommunismus. Sie hört nicht auf, ein Thema des Sozialismus oder Marxismus zu sein - aber der Grund, weshalb wir uns mit dieser Frage beschäftigen, ist ein anderer: Der Sozialismus ist dann nicht zusammengebrochen, weil er schlecht, lebensunfähig, "deformiert" war, an eine "Stagnation" geriet, sondern weil sein Opfern zu einem Mittel einer bestimmten Politik wurde.

Das hat dann nichts mit der anderen Frage zu tun, ob der eigene Sozialismus nicht mehr überzeugte. Das ist das innere Problem, das im Laufe des Sozialismus entstand und das lange vor dem Neuen Denken einsetzte, also mit diesem auch nichts zu tun hatte: Es entstand keine Sicherheit (ich spreche von der geschichtlichen Sicherheit, man muß sich einer Geschichte sicher sein, dann macht man sie) in Bezug auf den Systemcharakter der Sowjetunion, des Sozialismus in ihr. Warum das ökonomische System des Sozialismus, wie es ca. ab den 30er Jahren in der Sowjetunion begann und dann nach 1945 auf die neu entstehenden sozialistischen Länder übertragen wurde, zunächst weitgehend einer Kritik bis hin zur Ablehnung verfiel; ich betone: als sozialistisches System der Ablehnung verfiel. Dass es erst unter Gorbatschow zu einem Kulminationspunkt der Kritik kam, ist dann wieder ein anderes Problem. Hier trat der andere Zweck, oder das Mittel für den anderen Zweck in den Vordergrund. Aber schon lange zuvor wurde von einem anderen ökonomischen System als dem sowjetischen als sozialistischen gesprochen.

Das gilt bis heute, man betrachte nur die aktuellen Diskussionen in sozialistischen Medien. Noch bestehende kommunistische Parteien bzw. Plattformen in Parteien haben sich noch immer die Zweiteilung des Sozialismus zu Eigen gemacht. Das hat auch seinen Grund in der hilflosen Art, mit der die die Gesellschaft führenden kommunistischen Parteien, ihre personellen Führer, die Kritik am realen System des Sozialismus hinnahmen; sie fanden einfach nicht zu einer aktiven Form der Verteidigung gegen alle inneren, systemischen Angriffe auf das reale ökonomische System. So dass es de fakto zu einer Quasi-Zurverfügungstellung des Systems des Sozialismus kam, vielleicht nicht in der politischen Ebene, aber auf dem Gebiet der Ökonomie. Der "Revisionismus", das angedachte andere ökonomische System, feierte schon erste Triumphe. Und insofern ist wegen der Revisionismusfrage, dass sie im Sozialismus selbst aufgeworfen werden konnte, keine Einheit von Kommunisten gegeben und haben alle kommunistischen Initiativen in dieser Frage, ich meine in der Revisionismusfrage, bisher ihren Zweck verfehlt.

Schlimmer noch: Ich glaube, bis auf die griechische kommunistische Partei macht sich keine andere Partei mehr das ökonomische System der Sowjetunion zu Eigen. Die kommunistischen Parteien von Heute haben das Vertrauen in den bisherigen Weg des Sozialismus/Kommunismus sagen wir ab etwa den Jahren nach 1930 verloren. D.h. sie sind überwiegend antisozialistisch eingestellt, wenn man unter sozialistisch den Weg der Sowjetunion - bzw. den adäquaten Weg der anderen sozialistischen Länder nach 1945 - versteht.

Sobald man unter kommunistisch die Sowjetunion versteht, ist man nicht mehr kommunistisch, wenn man sich der anderen, zweiten Systemvorstellung vom Sozialismus zugewandt hat?

Ja.

Und wenn das aber alle noch namentlich kommunistischen Parteien betrifft mit der einen Ausnahme der KKE, dann hieße das, dass es keine kommunistische Partei mehr im Sinne des Sozialismus/Kommunismus der Sowjetunion gibt?

Ja, im Moment gibt es keine kommunistische Bewegung mehr, die sich in Eins/einig ist hinsichtlich ihrer Gesellschaftsauffassung vom Sozialismus/Kommunismus. Es gibt keine kommunistische Bewegung mehr im Sinne des Wortes. Es gibt keine, die ihre Spaltung richtig erklärt, und es gibt keine, die ihr Ende richtig erklärt.

Hat eine kommunistische Initiative jetzt eine Chance bzw. was wäre ihre Aufgabe?

Dass sie die kommunistische Bewegung wieder zu einer einheitlichen Auffassung über den Sozialismus/Kommunismus zurückführt. Sie muß die Antwort bringen, warum es zur bürgerlichen Restauration in der Sowjetunion usw. kam, und warum der gesellschaftlich konstituierte Sozialismus gespalten ist hinsichtlich seines ökonomischen Systems. Diese Antwort muß gefunden werden völlig unabhängig davon, dass diese Parteien/Initiativen einen aktiven Kampf gegen den Kapitalismus führen; sie sind also nicht entschuldigt, wenn sie aktiv gegen den Kapitalismus kämpfen, aber in Passivität gegenüber den Kämpfen des/um den Kommunismus verharren.

Können das die kommunistischen Initiativen?

Das ist nicht die Frage, ob sie das wollen, ob sie sich dieser Aufgabe stellen, ist die Frage. Wenn sie auch nur wieder ein Teil dieser eingetretenen Spaltung werden, sind sie keine Gründungen im Namen ihres Anspruchs: den revolutionären Charakter der Arbeiterbewegung wiederherzustellen.

Ohne dass wir eine reale Geschichte des Sozialismus gehabt hätten, hätte sich nicht dieses Problem - neben einer Konterrevolution auch die Frage eines doppelförmigen Sozialismus - ergeben. Man muß bezüglich der beiden Fragekomplexe in die Geschichte des Sozialismus zurückgreifen. Sodann aber muß man sich noch einmal der Marxschen Fragestellungen vergewissern. Wobei sie allerdings nicht reichen. Einerseits Marx (und Engels), andererseits aber die Praxis, zunächst die der Sowjetunion ab ca. 1930, denn erst ab da beginnt der Sozialismus, die erste Phase des Aufbaus des Kommunismus. Erst ab dem Jahr 1930 etwa kann von der Arbeiterbewegung gesagt werden, dass sie ihren gesellschaftsformatorischen Anspruch erreicht, d.h. sich als Gesellschaft umgesetzt hat. Erst ab da ist sie wirklich Geschichte. Vorher war alles nur Politik...

­... oder eben nicht beginnt - wenn man die andere Auffassung vom Sozialismus in Betracht zieht.

Man muß - wegen der Dimension des Problems - beiden Sichtweisen gerecht werden. Man muß den Unterschied zwischen beiden Auffassungen herausarbeiten. Es geht eigentlich nur um die Frage der Zentralität oder der Dezentralität. Was wird maßgebend für das ökonomische Verhältnis, nachdem der private Eigentümer der Produktionsmittel aufgehoben worden? Die Einheit, das Gemeinsame, das Gesamte - mit den entsprechenden Institutionen der Leitung der Gesellschaft aus einem Zentrum heraus, oder eben ein sogenanntes "unmittelbares ökonomisches Subjekt", das eben bestimmt werden muß. Was man "findet", sind in aller Regel die Betriebe der enteigneten Kapitalisten, deren Belegschaften nun als die Subjekte des ökonomischen Handelns. Wie aber sollen sie handeln? Sie können nur handeln wie ihre Herren zuvor. D.h. der Patron ist verschwunden, die Patronage bleibt. Es ist Erhalt der Warenproduktion, nichts anderes. Das ökonomische Verkehrsverhältnis des Kapitalismus bleibt, um nichts anderes geht es. Damit sind alle Interessen des Kapitalismus erhalten - nun "in der Hand der Arbeiter", und alle Verhältnisse erhalten, die diese Ökonomie dem Verhältnis nach verspricht. Oder machen "die Arbeiter", wenn sie auf bürgerlichen Ökonomismus machen, alles anders? Gibt es, ja kann es eine Warenproduktion durch Arbeiter geben, deren dritte historische Form? Wirklich andere ökonomische Verhältnisse - als die der Warenökonomie, oder auch innerhalb der Kategorien der Warenökonomie - können nur beginnen, sobald das einheitliche Eigentums Verhältnis zur Produktion gegeben ist, wobei ein solches Gesamtverhältnis des Eigentums immer auch das übergeordnete, eben zentrale Verhältnis gegenüber den ökonomischen Bereichen im Einzelnen ist. Was aber auch zu beachten ist: das ökonomische System des Sozialismus/Kommunismus ("Stalinsche System") wies noch immer nichtgelöste Teile auf; darunter verstehe ich insbesondere, dass der Lohn an die Arbeiter noch immer nicht aus einem gesellschaftlichen Fonds gezahlt wurde; erst wenn diese Bedingung gegeben ist, kann sich seine betriebliche Bezogenheit, damit also der Betrieb, das ökonomisch Einzelne, als ökonomischer Konstituens endlich in den Weiten der Geschichte verlieren. Denn ein gesellschaftlich gezahlter Lohn, der auch nicht mehr in den Preis aufgenommen ist, bedeutet die Aufhebung der kapitalistischen Kostenformel c + v + m. Sie erlaubt nicht die ökonomische Freiheit des Faktors v (Lohn), d.h. seine Freiheit gegen den Wert. Wir hätten gar keine Debatte über den Gewinn im Sozialismus führen können, wenn der Lohn als Kostenfaktor aus dem Preis ausgeschieden wäre, bzw. es hätte sich unter dieser Bedingung die Frage erst gestellt, ob und wie sich Gewinn darstellt bei lohnfreien Preisen: Logischerweise nur noch als Anwachsen der Preise den Summen nach, wobei dieses Summenwachstum nichts als ein Adäquat/anderer Ausdruck des Güterwachstums gewesen wäre. Siehe da, der Kommunismus blickte durch die "Wertform".

Vor diesem entscheidenden Schritt in der sozialistischen Ökonomie über die Warenproduktion hinaus der Form nach stand zwar die Sowjetunion bzw. der Sozialismus im Allgemeinen, aber scheute sie/er zurück. Wäre die Entlohnung für geleistete Arbeit in den sozialistischen Ländern bereits auf gesellschaftliche Form umgestellt gewesen, so hätte die bürgerliche Restauration mit einem sichtbaren Gegensatz, der Rückkehr der Lohnzahlung in den Betrieb und deren Abhängigkeit von der "betrieblichen Leistung" arbeiten müssen; so schien im Sozialismus noch immer alles so wie gehabt im Kapitalismus, und nur der Eigentümer wechselte, die Form nicht.

Ein Bruch mit dem Kapitalismus muß daher auch die kapitalisierte Wertform ergreifen, um ein wirklicher zu sein, es kann nicht mit ihr weitergehen bis zum Kommunismus, ohne dass nicht immer wieder Reminiszenzen an den Kapitalismus geweckt werden können. Die faktische, also gesellschaftliche Restauration des Kapitalismus in Rußland hat in der kapitalisierten Wertform immer eine formelle Voraussetzung gehabt, der Kapitalismus war nie ganz aus dem Sozialismus verschwunden.

Aber vom allgemeinen Wesen her heißt Kommunismus, dass Ökonomie nach innen, vom Gesamtverständnis an ökonomischer Bewegung ausgehend in das Einzelne hineingehend bestimmt wird; aus dem Verstehen aller Wünsche und Bedingungen er folgt die Umsetzung in das einzelne ökonomische Vorgehen, d.h. das "Gesamte" ist nicht mehr eine Summe einzelner Verhalten oder auch selbstständiger Vorgehensweisen aus dem Einzelnen heraus. Sondern ist das Gesamte (Denken einer Gesellschaft) umgesetzt im Einzelnen.

*

Sobald sich herausstellte, dass die Zentralität eine notwendige Bedingung des Sozialismus/Kommunismus ist, und ebenso klar ist, dass diese Zentralität unter Stalin - 1930 - begonnen wurde (wenn auch nicht vollendet wurde - insofern ist immer eine theoretische Initiative von "links" notwendig), ist die Person Stalins gesellschaftlich gedeckt, muß er in allen diesen Beziehungen gesellschaftlich gerechtfertigt werden und endet die Verurteilung Stalins als absolute. Er muß dann in all den Punkten, worin die sowjetische Gesellschaft eine bereits sozialistisch-kommunistische war, verteidigt werden. Die Verteidigung meint (wesentlich) das ab 1930 entwickelte ökonomische System. In ihm ging es um die Zentralität des Subjekts in der Ökonomie. Man muß aber immer System und Person als Einheit sehen. Ist die Zentralität als das notwendige Element in der Ökonomie des Kommunismus erkannt, dann ist Stalin gesellschaftlich gedeckt und als Person zu verteidigen.

Und wie wäre das nun bei Gorbatschow? Ist auch seine Person - als geschichtliche, historisch notwendige - gedeckt? Wie antwortet der um reale Geschichte entwickelte Marxismus?

"Gesellschaftlich nicht, politisch Ja."

Ich bin mir bewußt, wie schwer es für einen ausschließlich durch den gesellschaftlichen Kampf geprägten Kommunisten/Kommunismus ist, für diesen Gegensatz in der Aussage Verständnis zu zeigen, ja, überhaupt für eine solche Fragestellung aufgeschlossen zu sein. Gibt es denn das: Einen Gegensatz von Gesellschaft und Politik? Eine Politik, die nicht auf eine Gesellschaft festgelegt ist? Übergesellschaftliche Politik also? Statt: Politik für Alle durch allgemeine Gesellschaft? Wie der Marxismus bisher gelehrt hat. (Frage: Ist denn Rußland - 1991 - nur an eine Politik geraten, oder nicht auch/dennoch an eine Gesellschaft - und nun was für eine? So dass Politik über/oberhalb der Gesellschaft auch eine Phrase zu sein scheint.) Aber mit dieser Geschichte haben wir es zu tun und wir müssen sie zu- und einordnen: Gesellschaftlich kann es gar keine Rechtfertigung Gorbatschows geben, das weiß er selber. Aber er "steht ja darüber", er steht über der Frage der Gesellschaft, er (oder der "Gorbatschowismus", wie er ja auch genannt wird) versteht sich als Politik, er will ein Denken in Bezug auf eine ganz bestimmte Sache sein. Und das konzentriert sich jetzt auf nur noch eine Gesellschaft: den Kapitalismus. Wenn das Neue Denken eine notwendige Politik/Philosophie zum Erhalt der Menschheit gegen eine Politik/Philosophie der Vernichtung der Menschheit in einem mit atomaren Waffen geführten Krieg war bzw. ist und diese Politik die Politik des heutigen Rußlands ist, wie weiterer Länder, schließlich der großen Mehrheit der Länder, letztlich die Politik aller atomar bewaffneten Länder wird - Ja, dann ist er gedeckt. Dann wird man wohl dereinst davon sprechen, dass es ein größerer Gewinn war, den Kapitalismus von seiner Politik des militanten Antikommunismus herunterzuholen als es ein Verlust war, der Sowjetunion den Kommunismus zu nehmen. Wie gesagt: Dereinst, noch nicht jetzt; jetzt ist alles in der Schwebe und der Verlust an Kommunismus überwiegt. Gorbatschow hat eine Politik, die eine der sozialistischen Gesellschaft war, von dieser Gesellschaft gelöst, ob er sie, indem er (oder "sein" Land) sie auch unabhängig von dieser Gesellschaft verfolgt, als andere Gesellschaft verfolgt, wird darüber entscheiden, ob sich das gesellschaftliche Opfer zugunsten eines politischen Gewinns für die ganze Menschheit gelohnt hat. Wir müssen von einer Zukunftsantwort sprechen, denn als gegenwärtig beantwortete ist sie nur eine einseitig beantwortete, und zwar in ihrer negativen einen Seite; die positive, die auf den Kapitalismus beziehbare, und damit erst vollständige Antwort, fehlt (noch). Letztlich sind gesellschaftliche Ordnungen in der Menschheit nur relevant, wenn es eine Menschheit gibt. Insofern ist eine Politik des Erhalts der Menschheit schon eine notwendige Voraussetzung für eine kommunistische Gesellschaft. Andererseits muß man natürlich davon ausgehen, dass sie auch eine Politik durch die Sowjetunion, den existierenden Sozialismus war, d.h. die Sowjetunion war auch aktiv dabei, sich diese Voraussetzung zu schaffen. Gorbatschow ist nicht neu. Vom Standpunkt des Sozialismus wiederholt er nur, oder: setzt er auch nur fort. Ob Wiederholung, aber unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen, der Menschheit mehr bringt, zeigt die Zukunft. Nur sie. Die Frage kann nicht durch eine Aufgabe des Sozialismus entschieden werden, Gorbatschow ist nicht dadurch schon am Ziel, dass er dem Sozialismus eine Politik aufgezwungen hat, denn: nichts war einfacher als dem Sozialismus eine Politik des sicheren Überlebens der Menschheit "aufzuzwingen"; es war ja seine. Die Frage kann nur beantwortet werden dadurch, dass er dem Kapitalismus eine/seine Politik aufzwingt. Dieses Denken fällt entweder in den Kampf für den Sozialismus zurück - aus dem es sich im Übrigen nie gelöst hat -, oder das Neue Denken gewinnt eine solche Kraft, dass die eigentlichen Gegenkräfte des Neuen Denkens überwunden werden. Sie aber liegen und lagen immer im Kapitalismus, nicht im Kommunismus. Und was kommt danach, was kommt denn nach "einem allgemeinen Frieden auf der Welt" (wenn er denn kommt) - gesellschaftlich? Hier zeigt sich, dass ein Kampf für eine allgemeine Politik, oder eine allgemeine friedliche Welt, den Kampf für eine allgemeine Gesellschaft nicht aufhebt. Vielleicht aber verständlicher macht? Allgemeiner Frieden kann allgemeine Gesellschaft verständlicher machen - keine Gewissheit. Und so noch kein Trost für den, der sie verloren hat. Dennoch eine mögliche Antwort aus dem 21. an das 20. Jahrhundert. Wer sie geben wird? Die Kräfte des Neuen Denkens? Die Kräfte des alten Denkens? Oder ... beide? Der Geschichte steht eine "spannende Periode" ... des Kapitalismus bevor.

Was sind die nun notwendigen Initiativen des Kommunismus (oder auch Marxismus)?

Es sind: 1. Ein relatives (gelassenes) Verhältnis zur Politik Rußlands herauszukehren - und zu all jenen Initiativen, die als eine Form der Umsetzung der Politik des Neuen Denkens verstanden werden können, aber 2. ein absolutes (unversöhnliches) Verhältnis herauszukehren zu der Frage, was das objektiv richtige, notwendige ökonomische System des Kommunismus ist. Das eine ist eine Initiative in praktischer Hinsicht, das andere eine in theoretischer, also hier eine flexible, dort eine prinzipielle. Während in der einen Frage viele Kompromisse möglich und auch wahrscheinlich sind, es im Kapitalismus auch zu ganz neuen Formen des Kämpfens gegen den Kapitalismus, gegen nur bestimmte Seiten des Kapitalismus kommen wird, ist in der anderen Frage in letzter Hinsicht kein Kompromiss möglich - bis auf das eine: Eine vielleicht längere Diskussion mit der anderen Seite, die auch ein anderes als das auf entwickelten Zentralismus beruhende System für möglich hält, also ein wieder (oder noch einmal) dezentrales ökonomisches System. Dass dieses nicht möglich sein sollte, heißt hier, dass eine historische Entscheidung nicht hinausgezögert werden sollte - denn machbar ist ein anderes System zunächst schon. Es birgt aber in sich die Gefahr, dass sich die Widersprüche des letzten privaten ökonomischen Systems in der Geschichte wiederholen würden. Vom Kapitalismus zum Kommunismus ist logisch - und sagte Marx, vom privaten Kapitalismus zum kollektiven Kapitalismus aber ... ist was? Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, dass die durch das Neue Denken aufgeworfenen Fragen uns einen langen Kampf bescheren werden, während die durch den Sozialismus in seiner praktischen Realität aufgeworfene Frage - die einer ökonomischen Form der Revision des Sozialismus/Kommunismus - in einer relativ kurzen Zeit, mittels einer intensiven theoretischen Debatte, einer Lösung zugeführt werden kann.

Berlin, Oktober/November 2011


ANHANG
Die VI Thesen der KPdSU von 1988 / Zur Theorie des Neuen Denkens

Die Erklärung umfasst VI Thesen, ich spreche bewußt von Thesen der KPdSU, weil das Kollektiv der Wissenschaftler, das für ihre Ausarbeitung infrage kommt, doch ein sehr gewichtiges ist; es handelt sich um ein Kollektiv des Lehrstuhls für Weltpolitik und internationale Tätigkeit der KPdSU an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU. Es ist also kein offizielles Dokument der KPdSU, denn ein offizielles Dokument, worin die Politik des Neuen Denkens sowohl dargelegt als auch begründet worden ist, gibt es meines Erachtens gar nicht. Man muß sich Inhalt und Sinn dieser Politik also aus den verschiedenen Dokumenten oder Reden, die dazu in Betracht kommen, zusammensuchen. Hier aber soll es nur um dieses eine Dokument gehen, das ich allerdings wegen seines systematischen Charakters für sehr maßgebend bzw. Auskunft gebend halte.

Der unmittelbare Anlass, diese Thesen auszuarbeiten und eine internationale Debatte - insbesondere in den Reihen der kommunistischen Parteien und Länder der Welt - über sie zu entfachen, war der Abschluß des ersten Abrüstungsabkommen zwischen der Sowjetunion und den USA (Abkommen über die Abrüstung bei den Kurz- und Mittelstrecken-Raketen). Dieses Abkommen wurde als ein erster Sieg/Triumph des Neuen Denkens wahrgenommen und daher in den Thesen auch zum formellen Anlass genommen, die Politik des Neuen Denkens konzentriert vorzustellen. Die Veröffentlichung fand in der Nr. 7 der theoretischen Zeitschrift des ZK der KPdSU, dem "Kommunist", statt. In der DDR fand sie Verbreitung in der theoretischen Zeitschrift "Sowjetwissenschaft/Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge" Heft 6 im Jahr 1988.

Als ich den Text damals las, nahm ich ihn zum Anlass, einen Brief an Kurt Hager zu senden; dieser Brief im Anhang. Es folgte noch ein Brief an Otto Reinhold von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Aus diesem Brief ein Auszug.

Ich zitiere hier die These I nahezu vollständig, weil sie die entscheidenden Aussagen darüber enthält, dass die Politik des Neuen Denkens nicht schlechthin etwas Neues in der Geschichte der Menschheit erkennen will, sondern dieses Neue nur, indem es als eine Abkehr/Abgrenzung von einer Politik des Alten Denkens verstanden werden soll. Abkehr, Abgrenzung als Moment in der sowjetischen Politik ist also erschienen. Und wie weit das, was hier erst politisch/ideologisch Farbe und Form gewinnt, dann real-geschichtlich gedeihen kann und gediehen ist bzw. entfaltet werden konnte, wissen wir.

Bezüglich des Sozialismus kann wie muß man sagen, dass er ohne zuvor als Ideologie und Politik erst der Kritik, und dann der Abkehr ausgesetzt worden zu sein, nicht als Gesellschaftsordnung beseitigt werden kann. Nun mag das für alle gesellschaftlichen Ordnungen gelten, die auch aufgehoben worden sind, aber mir ist kein Fall in der Geschichte bekannt, wo das so konzentriert und bewußt betrieben worden ist. Das eigentlich Verblüffende sehe ich allerdings darin, dass diese Aufhebung in dem politisch so erfahrenen und geschichtlich mit allen Wassern gewaschenen Marxismus möglich war.

Der Leser soll sich zunächst selber ein Bild vom inneren Gedankengang der "neuen sowjetischen Politik" machen; deshalb die These I im (fast) vollständigen Wortlaut (die kurze Auslassung bezieht sich auf eine Einschätzung des Kapitalismus, dessen Fähigkeit zur inneren Entwicklung vom Marxismus/Sozialismus unterschätzt worden sei - ich lasse es dahingestellt sein, wer das so gesagt oder angenommen hat; nicht jeder, der sich zum Marxismus äußert, ist kompetent in Sachen Marxismus, manchmal ist eine richtige Antwort/Einschätzung auch erst über einen Suchprozess zu erlangen). Um es dem Leser zu erleichtern, worin ich die Abgrenzung oder auch Abkehr vom bisherigen Denken des Marxismus bzw. des Sozialismus/der Sowjetunion erkenne, habe ich die entsprechenden Stellen durch Unterstreichung markiert, sie sind also im Originaltext frei von diesen Markierungen. Die These I:

"Die Menschheit steht an einem historischen Wendepunkt. Zum ersten Mal in der Geschichte ist ein Dokument unterzeichnet worden, welches dem Wettrüsten Einhalt gebietet.(13) Zum ersten Mal hatten das neue politische Denken und die Logik der allgemeinmenschlichen Interessen ein so deutliches Übergewicht über die zentrifugal wirkenden eng verstandenen nationalen und Klasseninteressen. Die Vernunft war stärker als die zur Konfrontation drängende Elementarkraft dieser Interessen. Wenn sich nun die internationalen Beziehungen in dieser Richtung weiterentwickeln, beginnt dann damit nicht - auch angesichts zu erwartender großer Schwierigkeiten - eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit, eine Ära wirklich zivilisierter und humaner Beziehungen zwischen den Völkern, von Beziehungen, die sich darauf gründen, dass jedes Volk seinen Weg frei wählt und diese Wahl von allen anderen Völkern geachtet wird?

Wenn aber ein Bedürfnis danach herangereift ist, wenn die Realitäten der heutigen Welt die Menschheit dazu bringen, sich ihrer Ganzheitlichkeit bewußt zu werden, verändert sich dann nicht das bisherige Modell der Weltentwicklung in all seinen Aspekten? Dieser Frage muß sich die Wissenschaft stellen.

Die marxistisch-leninistische Theorie, die von der Idee ausgeht, die Welt auf der Basis der Erkenntnis ihrer objektiven Gesetze bewußt umzugestalten, befindet sich heute an einem entscheidenden Punkt ihrer Entwicklung. Es geht nunmehr nicht einfach darum, bestimmte neue Erscheinungen und Prozesse zu 'berücksichtigen' und in das System der bisherigen Vorstellungen einzufügen, sondern es ist eine weitaus kompliziertere Aufgabe zu lösen. Neue Bedingungen zwingen uns, die Entwicklung der internationalen Gemeinschaft eben als Ganzes zu sehen. Sie besteht darin, dass die weltweiten Bindungen fester geworden sind und allgemein-menschliche Ziele entstanden sind, die jedoch noch von Widersprüchen auf nationaler wie Klassen- und Gruppenebene 'zerrissen' werden, dass eine Lösung dieser Widersprüche mit militärischen Mitteln die Menschheit zu vernichten droht, aber auch ihr Weiterwirken verhängnisvoll wäre. Wir stehen heute vor der Tatsache, dass die theoretische und praktische Beantwortung der konkreten Fragen des Kampfes für Frieden und sozialen Fortschritt und die Lösung faktisch aller entscheidenden sozialpolitischen Probleme dadurch erschwert werden, dass das Wissen über die allgemeinsten Tendenzen, Möglichkeiten, Varianten und Gesetze der Entwicklung der Weltgemeinschaft der Menschen nicht ausreicht.

Die Partei hat, wie Michail Gorbatschow sagte, eine theoretische Arbeit in Gang gebracht, der ein neues Durchdenken des theoretischen Erbes zugrundeliegt, 'das von unseren Vorgängern ... geschaffen wurde, ein solches Durchdenken, das es ermöglicht, die neuen Realitäten exakt zu analysieren und zu optimalen politischen Schlussfolgerungen zu gelangen'. (Dies Zitat aus einer Rede von M. S. Gorbatschow auf dem "Treffen der Vertreter von Parteien und Bewegungen ...", Berlin 1988, Seite 25.) Es steht noch eine umfangreiche Arbeit bevor, und daran müssen sich alle Gesellschaftswissenschaftler beteiligen. [...]

Es ist zu klären, ob wir die neuen Aspekte des Zusammenhangs, der wechselseitigen Bedingtheit oder möglicherweise sogar der Einheit der Prozesse in Natur und Gesellschaft ausreichend berücksichtigen, aus denen folgt, dass man eine soziale Entwicklung, die zur Zerstörung der Natur führt, nicht mehr als Fortschritt bezeichnen kann. Haben wir den sozialen Fortschritt nicht zu eng aufgefasst, indem wir ihn nicht selten fast ausschließlich auf den Übergang von einer Gesellschaftsformation zu einer anderen reduzierten, während er auch bei lang anhaltender Koexistenz verschiedener Gesellschaftssysteme möglich und notwendig ist. Stellt sich uns nicht das theoretische Problem der tiefgreifenden Wandlungen im Kapitalismus und im Sozialismus im Verlauf ihres friedlichen Wettstreits und ihres Zusammenwirkens? Was ist heute das Hauptkriterium des sozialen Fortschritts und wie kann es sich in der Konkurrenz der beiden Systeme äußern? Ohne Anspruch auf erschöpfende Antworten wollen wir einige dieser Fragen ausführlicher erörtern, wobei uns klar ist, dass die Suche nach Antworten kollektiv erfolgen muß und offenbar ein recht langwieriger Prozess sein wird."(14)

*

Der Leser, denke ich, ist zu eigenen Schlussfolgerungen gekommen. Und durch die Unterstreichung gewisser Passagen ist es ihm auch - hoffe ich - etwas leichter gemacht, zu begreifen, was ich denn meine, wenn ich eine kritische Distanz zu erkennen gebe - und welche genau.

Ich will es kurz machen: Wenn das Neue Denken - das mit dem ersten Abkommen über Abrüstung erschienen - in Konfrontation gesetzt worden wäre mit allem, worin wir bisher den Imperialismus, die Politik des Kalten Krieges markiert haben, dann hätte man in der Tat von einem neuen Denken in der Geschichte der Menschheit sprechen können. Dann wäre das Neue das Neue im Kapitalismus. Wenn die Abgrenzung den Kapitalismus getroffen hätte, warum nicht, was wäre daran falsch gewesen. Aber so. Sie, die Sowjetunion bzw. deren Politik, deren Politiker sind zum Neuen Denken übergegangen, und dies in Abgrenzung, Abkehr und auch Gegensatz zur bisherigen Politik dieses Landes. Die Abgrenzung geht sehr weit, indem sie die theoretisch-ideologische Grundlage nicht nur der Sowjetunion, sondern einer Weltbewegung meint: die der arbeitenden Klassen der Menschheit. In den Metropolen des USA-Kapitalismus wird man sich die Augen gerieben haben, als man dies las. Noch einmal: Ich polemisiere nicht gegen die Hoffnungen, die in den Thesen zum Ausdruck kommen, nicht dagegen, dass sie auch Kämpfe ankündigen, die geführt werden müssen, dem Neuen das erschienen, mehr Raum, mehr Festigkeit zu verleihen; wogegen ich polemisiere ist, dass sie mit einem Abgesang an das "Alte" verbunden sind. So daß man sich fragt: Wem soll eigentlich gedient werden?

Lassen wir noch einmal passieren, was geschehen: Es ist ein Abkommen über Abrüstung zwischen der Sowjetunion und den USA abgeschlossen worden. Ein Abkommen, ein erstes, mehr nicht. Unsere Meinung: Gut, genau das Richtige. Aber: Schon ein historischer Wendepunkt, wie die sowjetische Politik behauptet? Ist das nicht zuviel, zu gut gemeint - der Partner auf der anderen Seite ist immer der amerikanische Imperialismus, der bisher im Kalten Krieg mit der Sowjetunion sich befand und ihr ein Wettrüsten aufzwang. Vernunft (hat Einzug gehalten in die Weltpolitik)? Ja, vielleicht, es scheint so, man kann von einem Anfang sprechen, möchte man hoffen. Aber dass hier bereits von "allgemein-menschlichen Interessen" die Rede sein kann, die dem Abkommen auf Abrüstung zugrunde lagen? Ist das nun nicht wirklich zu hoch, zu weit gegriffen? Zu sehr gewollt. Die sowjetische Politik artikuliert/postuliert etwas, woran sie bereits glaubt. Was sind "allgemein-menschliche Interessen"? Die Interessen aller Menschen, die Interessen aller Menschen ohne Unterschied ihrer sozialen Stellung in Gesellschaften? Wir, die wir die Geschichte so nehmen müssen wie sie ist, müssen ja verschiedene soziale Verhaltensweisen unterstellen; sie sind ja nicht verschwunden, nur weil da ein Abkommen besonderer Art unterzeichnet worden ist. Also nicht gesellschaftliche Gleichheit unterstellen, weil irgendwo ein Gemeinsames Interesse entstanden ist. Und trotzdem allgemeine Menschen, mit allgemeinen Interessen und Zielen? Zusätzlichen zu den bisherigen, ganz neue über die alten Interessen hinaus, diesen auch widersprechend? Wäre es so, "es wäre schön". Es wäre ein Gewinn, endlich, dass Vernunft einzieht in die bislang unterschiedlich bestimmten Menschen, dass etwas entsteht, bestimmte Sachgebiete, bestimmte Ziele in der Menschheit, worin Übereinstimmung erzielt werden kann über bisherige Gegensätze hinaus.

Aber: Erscheint das Neue, indem das "Alte" verschwindet? Erscheint es so, dass das "Alte" plötzlich seinen Sinn verliert, nicht mehr eine Geschichte bestimmt. Es ist ein Abkommen vereinbart worden - und die ganze bisherige Geschichte, das, was sie geprägt hat, ist vergessen, ist unbedeutend, nichtig geworden, so dass es auch nicht mehr lohnt, sich ihrer zu vergewissern, ihretwegen weiter Kämpfe zu führen. Ist das nicht zuviel Friede, solcher Friede, wie er auch einer Unterwerfung entsprechen könnte? Das Neue entsteht, gut, richtig. Aber entsteht es so, soll es so entstanden sein, dass das "Alte" nicht mehr gut und richtig ist, auch noch eine Bedingung, ein menschliches Interesse wert ist. Das Bekenntnis zum Neuen ist ein Verneinen des "Alten". Das ist doch das Problem der neuen sowjetischen politischen Intuition, dass sie das Neue dem Alten gegenüberstellt, das Neue das Alte auch aufheben will; zunächst so, dass dem "Alten" eine minderwertige Qualität zugeordnet wird: "Eng", "begrenzt", "konfrontativ", "gefährlich".

Damals, ab 1985, waren Abgrenzungen nur ideell bzw. politisch markiert. Zu bedenken bitte ich immer, was danach kam: der Abbruch des Sozialismus als Gesellschaftsordnung, die Auflösung der Sowjetunion. Gorbatschow sagte kürzlich, die "Auflösung der Sowjetunion sei ein Fehler gewesen". Aber wäre sie erhalten geblieben, wie hätte man ihr dann das neue politische und ideelle Antlitz verpassen können? Das wäre gar nicht gegangen. Eine Sowjetunion mit einer Kommunistischen Partei als einer Randerscheinung? Der Marxismus oder Leninismus als eine Orientierung unter vielen? Wer hier brechen wollte, mußte auch der Form nach brechen. Natürlich wird die neue Geschichte - Rußlands - auch Überraschungen bereit halten.

Aber wie ist es nun mit dem Marxismus, der allgemeinen Lehre von Klasse, Nation ... Menschheit?

Der Marxismus ist nicht nur "russisch", er ist auch "deutsch". Der Marxismus ist international. Um es einmal zu sagen: Auch eine Revolution im Sinne des Marxismus, und mag sie noch so bedeutend sein für den Beginn einer Geschichte neuer Art, ist nicht befugt, in einem unmittelbaren Sinn das Urteil darüber zu sprechen, was der Marxismus im Allgemeinen ist und sein soll. Dass das Neue Denken den Marxismus des Sozialismus überwunden hat, besagt nicht, dass es auch den Marxismus des Kapitalismus überwinden kann. Der internationale, der Marxismus im Eigentlichen, steht in der Verantwortung; zunächst in der, Geschichte richtig erklären zu können, auch die eigene, auch die eigene nicht nur in ihren Siegen, sondern auch in ihren Niederlagen Wir wollen uns nicht so leicht geschlagen geben, insbesondere dann nicht, wenn wir den Marxismus entwickeln wollen. Die Geschichte ist ein Maß. In diesem Falle müssen wir von einem doppelten Maß sprechen. Gemessen wird das Neue Denken sowohl an dem bisherigen Denken, als auch an der realen Geschichte, die dann kam. Nehmen wir den letzten der beiden Fälle, so spricht vom Neuen Denken heute kaum noch einer.(15) Die ersten, die vielleicht wieder davon sprechen sollten, die es ständig wach rufen und in Erinnerung behalten sollten, und dies nicht nur im Sinne von Niederlage, sondern von Lernen und neuem Bewähren, sind die ... "Marxisten/Leninisten" (die im Neuen Denken so schmählich wegkommen). Und gegen wen werden sie das Neue Denken anwenden? Sagen wir so: Gegen den Kapitalismus und ... gegen das neue Rußland. Und wie werden sie es anwenden? Wenn gegen den Imperialismus und gegen die falsche "Sowjetunion" angewendet, dann als eine Entwicklung des Marxismus/Leninismus. Wir haben doch überhaupt nichts gegen die Theorie von der Vernunft in der Politik, übersehen dabei aber gerade nicht, dass sie notwendigerweise auch konfrontativ laufen muß. Der Friede muß doch gegen den Krieg erkämpft werden, und nicht einfach "erkämpft werden".

Also: Der Marxismus/Leninismus reicht nicht aus, sagt das Neue Denken; er kann nicht durch neue Momente des Denkens bereichert, erweitert werden, denn er ist "eng, begrenzt, konfrontativ"; soll wohl heißen: immer auf Klassenkampf aus, nur auf dieses Eine. Der Marxismus wird - in dieser Eingrenzung, die nicht die seine ist, sondern die ihm hier verpasst wird - historisiert! Er gehört einer Zeit der Klassenkämpfe an, er ist Klassenkampf, mehr nicht. - Doch warum, warum soll der Marxismus, gerade der Marxismus, gerade der Marxismus der arbeitenden Klassen diesen Humanismus - keines Krieges, keiner Selbstvernichtung der Menschheit - nicht enthalten, nicht entwickeln? Warum bedarf es dazu eines neuen Denkens, aber nicht eines neuen Denkens schlechthin, sondern eines solchen, dass sich über altes Denken erhebt, so dass es zu diesem wie ein Gegensatz erscheint, weshalb man aus der Sicht dieses neuen Denkens das alte Denken, also das marxistische Denken, das Denken über Klassen und Gesellschaften von Klassen zurücklassen, hinter sich lassen muß?

Warum alles Neue plötzlich im Gegensatz zum Bisherigen? Das ist doch die Frage, die auftaucht.

Der Marxismus hat nie von sich behauptet, dass er - angesichts der realen Geschichte wie sie kommt - "ausreicht"; er hat sich immer als sich entwickelnde Wissenschaft empfunden. Dies allerdings: Wissenschaft zu sein, weil von den Gesetzen wissend - sagte er von sich. Den Gesetzen (menschlicher, gesellschaftlicher Entwicklung) wird im Neuen Denken ein "allgemeinster" Platz zugewiesen, aber nicht nur das. Das Wissen um das Allgemeine "erschwert" (!) das Konkrete. Wenn das kein "allgemeinster" Abgesang ist, dem Allgemeinen das konkrete Wissen (und Können) zu entziehen. Der Marxismus wird - in dieser Passage - um seine/eine Praxis reduziert! Und auf das Piedestal einer reinen Ideologie erhoben.

Woher dieser Horror vor dem Marxismus?

"Neues Durchdenken des theoretischen Erbes" - Marx/Lenin "neu durchdenken"? "Marx neu denken"?

Marx denken, sagte der bisherige ("ungeschulte") Marxismus. Ihn wirklich lesen und verstehen. Was kann denn mehr sein?

Mich würde mal interessieren, was die Gesellschaftswissenschaftler der KPdSU heute alles so treiben. Marx lesen, wäre nicht schlecht, aber vielleicht auch: das Neue Denken richtig lesen, wäre wohl zweckmäßiger.

Halten wir das bisher Gesagte fest: Das Neue Denken bzw. das "allgemein-menschliche Interesse" über das Klassen- und National-Interesse zu stellen geht nicht, ohne auch den Marxismus und den Leninismus "neu zu durchdenken". Es muß ein Denken/eine Politik nicht nur über den Sozialismus, über die Sowjetunion, sondern auch über Marx gestellt werden, d.h. nicht nur über eine ganze bisherige Politik und Geschichte der Sowjetunion, sondern auch über eine ganze bisherige Erkenntnis allgemeiner Gesetze in menschlicher gesellschaftlicher Geschichte. Denn was ist deren Wesen? Tatsächlich alles durch eine Gesellschaft zu beantworten, tatsächlich in der Politik im Konkreten eine allgemeine Bewegung, einen allgemeinen Gegensatz auch zu erkennen. Ist er gesellschaftlich - durch eine eigene Ordnung - ausgekämpft, dann müssen alle Fragen die geschichtlich aufgeworfen werden, darunter solche, die beide Gesellschaften berühren, auch nur durch diese Gesellschaften gelöst werden. Es gibt keine Lösung konkreter Fragen, die von Gesellschaften aufgeworfen worden, außerhalb dieser Gesellschaften. Die Lösung muß durch Gesellschaften erfolgen, wirkliche, reale, und nicht durch erdachte. Die Geschichte folgt dem Allgemeinen, aber sie löst ihre Kämpfe konkret. Und das heißt: durch konkrete Gesellschaften.

Aber im Neuen Denken geht es darum, etwas Allgemeines in jeder Gesellschaft zu entdecken. Und von diesem Allgemeinen (an Problemen, Aufgaben, vielleicht auch Verhältnissen) ausgehend wird angenommen, dass es die beiden Gesellschaften entweder zusammenführt - oder eine ganz neue gebiert, bis der Punkt erreicht ist, dass wieder eine konkrete Gesellschaft herauskommt. Ausgehend von allgemeinen Interessen zu einer Gesellschaft zu kommen heißt, absehend von allem bisher über Gesellschaft Gedachtem zu einer Gesellschaft zu kommen. Das Marxismuskritische dieser Denkweise ist nicht zu übersehen. Das Neue Denken ... experimentiert. Womit? Mit dem Klassengegensatz, und damit Gesellschaftsgegensatz in der Geschichte. Ihm seine Bedeutung nehmen bedeutet, dem Neuen Denken seine Bedeutung zu geben. Und, das geht? Das neue Denken ist ein Auf-Kosten-Denken.

Nur, die Sowjetunion, von der dieses "Neue Denken" ausging das eine Welt umwälzen sollte, gibt es nicht mehr, sie hat sich aufgelöst. Sie existiert nicht mehr als Kraft, Gedachtes umzusetzen. Apropos: Der Kapitalismus, dem dieses Neue Denken auch galt, hat sich nicht aufgelöst. Und so setzt das alte Denken ... im Kapitalismus sich fort, während das neue Denken, im neuen Rußland ... schweigt?

Wir sehen, wie schwer es ist ein Denken überhaupt aufrecht zu erhalten, überhaupt in den Rang einer Politik zu heben, wenn man a) eine Ideologie verlässt, b) eine Klasse/Partei verlässt, c) einen Staat verlässt und sich "Vernunft" erhebt, worin an Ideologien, Klassen, Staaten, reale Gesellschaften ... appelliert wird.

Es gibt nur einen rationalen Grund, warum die Sowjetunion zur Politik des Neuen Denkens übergegangen ist: Das ist der einer geschichtlichen Überlastung; ihr drohte tatsächlich der reale Zusammenbruch als Staat und damit als sozialistische Gesellschaft, und sie mußte, um diesem Schicksal, als Faktor aus der Geschichte verschwinden zu müssen, zu entgehen, sich eine Politik einfallen lassen: Sie mußte sich nur politisch aus der Welt verabschieden, als Sowjetunion, aber nicht staatlich, nicht als Rußland, und staatlich als neuer Staat, oder auch neue Gesellschaft, die sich im Neuen Denken im Voraus eine neue positive Ideologie verpasst haben - bürgerliche, aber anders bürgerliche. Die Ökonomie bürgerlich, das Denken ... nicht ganz bürgerlich, neu bürgerlich, so wie das Bürgertum noch nicht gedacht hat.(16) Das Neue Denken ist der Neuanfang eines anderen Staates. Dann wird das Neue Denken logisch. Und nun: wie auch praktisch erfolgreich. Das ist, oder wird, eben die Frage.(17)

Der Marxismus nimmt es gelassen. Er ... muß es.

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Die weiteren Thesen (II bis VI, deren Titel übrigens lautet: "Der soziale Fortschritt in der Welt von heute") befassen sich mit dem Problem der Zivilisationskrise, in die die Menschheit geriet/geraten ist, einzelnen Momenten dieser; sie postulieren, als Momente von Kapitalismus und Sozialismus - oder eben als Momente einer neuen Art von Gesellschaften, ein Gesamtsubjekt, das diese Krise überwinden soll. Diesen erkennen sie kommend im "technisch-wissenschaftlich entwickelten Arbeiter", und sie postulieren auch die Globalität der Welt, worin dies umzusetzen wäre, also "gleichzeitig in allen Gesellschaften formatorischer Art". Dies alles sind eher Wünsche an Realitäten als schon die Realitäten selbst.

Der Veröffentlichung der Thesen folgte damals eine internationale Diskussion, sehr lehr- und aufschlussreich. Die Diskussion zeigte, dass die Teilnehmer, meist Kommunisten verschiedener nationaler Parteien, nur bedingt verstehen konnten, was mit dem Neuen Denken, bis zur letzten Konsequenz getrieben, gemeint war. Auch darüber informierten der "Kommunist" und die "Sowjetwissenschaft".

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Nun die beiden angekündigten Briefe, die ich angesichts des Lesens der Thesen geschrieben - 1988, noch ohne Wissen, welche Stürme den Sozialismus - und die Theorie vom Neuen Denken - heimsuchen werden.

Raute

Hermann Jacobs: Brief an Gen. Kurt Hager(18), 2.1.89

Werter Genosse Hager,

lese soeben die Publikation der Akademie für GW [Gesellschaftswissenschaften] der KPdSU, die in "Sowjetwissenschaft/GW" Nr. 6/88 der DDR nachgedruckt ist. Das Falsche der sowjetischen Genossen ist, zu unterstellen, die Gefahr für das Überleben der Menschheit dringt aus dem Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen System des Sozialismus und dem gesellschaftlichen System des Kapitalismus; in der Grundlage heißt das, die Gefahr dringe aus dem Klassengegensatz von Lohnarbeiter und Kapitalisten, und sowohl der eine als auch der andere könne für diesen Gegensatz verantwortlich gemacht werden. Sie dringt aber aus dem Kapital selber, sie ist das Immanente des Kapitals als solchem, folglich das Immanente des Imperialismus. Um die Gefahr für das Überleben der Menschheit zu bannen, muß man eine politische Synthese der gegen den Imperialismus kämpfenden Kräfte und Gruppen anstreben - und dabei breiter und vollständiger vorgehen als je zuvor; aber man wird mit einer gesellschaftlichen Synthese zwischen Kapitalismus und Sozialismus nichts erreichen als das, dass mit der Aufgabe der jetzigen gesellschaftlichen Form des Sozialismus (die natürlich für sich gesehen entwickelt werden kann und muß) auch die Form des gesellschaftlichen Kampfes gegen das Immanente, Aggressive des Imperialismus aufgegeben wird, die als die führende, überhaupt gesellschaftliche Form des Kampfes gegen den Imperialismus qualifiziert werden kann. Es ist ganz falsch, den Kampf gegen den Imperialismus in einen schlechthin politischen Kampf zu verwandeln, und auf diese Weise das "breiteste Bündnis gegen den Imperialismus" zu erreichen, d.h. einen Kampf gegen den Imperialismus ganz "unbelastet durch die gesellschaftlichen 'Widersprüche' des Sozialismus". Es ist wohl die Absicht, den Kapitalismus in "einfache Warenproduktion" (Marktwirtschaft) zu verwandeln, und den Sozialismus gleich mit, damit weder in Bezug auf den Kapitalismus noch in Bezug auf den Sozialismus davon gesprochen werden kann, dass noch der "gefährliche Gegensatz", der das Überleben [Leben] der Menschheit in Gefahr bringt, erhalten ist. Leider lassen sich aus der Idee heraus keine Produktionsweisen und gesellschaftlichen Systeme gebären.

Viele Grüße, Hermann Jacobs

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Hermann Jacobs: Aus einem Brief an Gen. Otto Reinhold(19) vom 4.1.89

Sehr geehrter Genosse Reinhold,

entschuldige, dass ich Dich nicht in Ruhe lasse. Der Nachdruck der Thesen zum "sozialen Fortschritt in der Welt von heute" (und morgen) Eures institutionellen Pendants beim ZK der KPdSU (aus dem "Kommunist" 7/88 in "SW/GWB" 6/88) war wohl ein unvermeidlicher Tribut, den Ihr zahlen musstet? Oder gibt es jetzt mehr Garantien, dass uns die "Zeit der Verwirrung" (Castro) nicht mehr in ihrer unbeherrschten Form gefährdet? D.h. lassen sich die Erfinder der "Politik des neuen Denkens" mehr zu einer Diskussion der Grundlagen ihrer Wende herbei?

Dass Ihr die Polemik gegen Thesen dieser Art, den Kern ihrer Aussagen, aufgenommen habt, ist dem Kundigen unverkennbar. Insofern sehe ich einen Gegensatz zwischen Eurer Polemik und dem Nachdruck, ihrer formellen Freigabe für das Denken in der DDR. Was auch immer also die Gründe, ich will mich äußern...

Ich erinnere an die Passage meines Briefes vom 25.1.88 an Dich, wo ich schreibe, "Reformen, die den Frieden zum Gegenstand haben, würden auch Grenzen sein, die Reformen, die die Gesellschaftsordnung zum Gegenstand haben, nicht einschließen". D.h. weil wir über eine - neuere, höhere - Synthese in der Frage des Friedens, des Überlebens der Menschheit diskutieren, uns vereinbaren müssen, müssen wir nicht eine Synthese, Transformation, der beiden Gesellschaftsordnungen "diskutieren", vereinbaren. Die besagten Thesen der KPdSU enthalten aber Überlegungen, in denen diese Grenze überschritten ist. Gibt man die Gesellschaftsform auf, so gibt man eine Form des Kämpfens auf. Statt einen Gewinn zu ernten, erntet man einen Verlust. Auch wenn ich in Deinem Falle "Eulen nach Athen trage" oder "offene Türen einrenne": Es gibt keine gleiche soziale Verantwortlichkeit für den Klassenkampf, für die Antagonismen unserer Zeit beim Bourgeois und beim Arbeiter, beim Kapitalismus/Imperialismus und beim Sozialismus/Kommunismus. Die Vorstellung einer Synthese zu etwas Neuem, was "weder das eine noch das andere ist", die Akzentuierung eines "gemeinsamen, gesamtmenschlichen Subjekts" dieser Synthese, hat in dem gesellschaftlichen Gegensatz, wie er im Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit beginnt, und im Verhältnis von Sozialismus und Kapitalismus eine bereits gesellschaftliche Entgegensetzung und Lösung gefunden hat, keine Grundlage. Diese Synthese artikuliert ja, das wird gesagt, eine "dritte Gesellschaftlichkeit", die weder Kapitalismus noch Sozialismus ist, die so verschieden ist von Beidem, dass eben Beides zu diesem Dritten wie ein Gegensatz ist.

Was ist das? Ich will es Dir sagen: Es ist nichts als die alte kleinbürgerliche sozialistische Illusion von einer einfachen Warenökonomie, die die Stürme der modernen Produktivkräfte überdauert, deren Produktionsverhältnis "so universal" ist, dass es sogar seine Negation wieder niederzwingt. (Man bemüht nicht umsonst die "amerikanische Farm", den "Kleinbetrieb" Tschajanows und die leninsche NÖP, deren Dialektik, Dualismus, man nicht mehr wahrnimmt, womit man sich den Lenin vereinfacht, um "zu ihm" zurückkehren zu können!). Das Gemeinsame, welches den Antagonismus aus dem Verhältnis von Kapitalismus und Sozialismus vertreibt, d.h. nicht den Frieden zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern von Kapitalismus und Sozialismus bringt, soll also die Marktwirtschaft, die Austauschwirtschaft, die Konkurrenz zwischen der "westlichen" und der "östlichen" sein (ohne grundsätzliche nachteilige Folgen für beide, also ohne die Aufhebung der einen durch die andere).

Meine Meinung ist: Zwischen Sozialismus und Kapitalismus kann ökonomisch (bei Nichtantagonismus, nicht Antagonismus) nicht mehr sein als Warenaustausch, wobei das Problem darin liegt, dass nur einer die Preise diktiert (denn natürlich schlägt sich aller Antagonismus des Kapitalismus innerhalb eines Warenaustausches im Preise nieder). Aber darum geht es bei der "Synthese a la Thesen" nicht. Nicht das Zwischenverhältnis soll transformiert werden (das kann es nicht mehr, denn das ist bereits vom Wesen her realisiert), sondern das jeweils innere Verhältnis von Kapitalismus und Sozialismus soll zu einem solchen der Marktwirtschaft (der reinen und bloßen) transformiert werden. Die "Reformer des Sozialismus" unterstellen stillschweigend dem Kapitalismus "von heute", dass er noch eine Marktwirtschaft, d.h. eine Austausch- und Konkurrenzwirtschaft auf Basis des vielgerühmten Wertes ist. Sie unterstellen überhaupt den Gebrauchswert als Wesen des Interesses am Austausch, d.h. sie unterstellen im Warenproduzenten den vorweggenommenen Sozialismus. Die Transformation des Kapitalisten in den "Urzustand" scheint den Reformern keine Schwierigkeiten zu machen. Als der eigentliche Gegner erscheint der Reform der "dogmatische Proletarier". (Wobei in den Thesen der Proletarier dadurch umgangen wird, dass für ihn eine strukturelle Veränderung erkannt worden [ist]: Er transformiert real, materiell, vom einfachen zum technisch-wissenschaftlichen Arbeiter, man beweist ihm also sein Interesse am Wert dadurch, dass er von einem einfachen (industriellen) zum "wissenschaftlichen" Wert avancieren kann).

In der reformistischen Theorie scheint das Kapital den Wert nur zu "verletzen", aber die Verletzung ist durch "allgemeines Interesse" (und "allgemein" schließt nun das Interesse des Sozialismus ein) wieder in seine rechten Bahnen zu zwingen. (Hier scheint sogar der Marxismus nachzuhelfen: Beweist er doch, dass auch der Lohnarbeiter zu einem Wert (!) reproduzieren kann). Mehrwert machen kann man, so scheint's, nur auf dem Boden von Wert. (Aber der Schein trügt natürlich, denn Mehrwert zieht auch das allgemeine Kapital, das auf dem Boden keines Wertes steht, keiner besonderen Arbeit steht, sondern von der allgemeinen partizipiert). Aber der reformistischen Theorie scheint es, der Sozialismus durchbreche, zerstöre überhaupt das Prinzip des Wertes, weil er Wert - umverteilt, ohne den Schein des Preises zu wahren. Und warum trügt dieser Schein, resp. worin liegt jetzt die Ursache des "falschen Bewußtseins" des Reformismus? Ursache ist, dass der Reformismus den Erhalt des Wertprinzips nur an der gegenständlichen Form nachgewiesen sehen will. "Verletzung" der gegenständlichen Form und Aufhebung des Wertprinzips ist aber nicht ein und dasselbe. Man kann die gegenständliche Form verletzen, und das Wertprinzip dennoch nicht verletzen, wie in den gesellschaftlich unterschiedlichen Formen von Kapitalismus und Sozialismus bereits geschichtlich nachgewiesen ist.

[...]

Ich denke, dass die marktwirtschaftliche Reform im Sozialismus - die sich hier ganz überflüssigerweise und unsinnigerweise mit dem höchsten Interesse am Überleben der Menschheit begründet und "verbündet" (um sich endlich einmal "zukünftig" beweisen zu können) -, an den Arbeitern im Allgemeinen scheitern wird. Die "technisch-wissenschaftliche Entwicklung" des Arbeiters an Stelle der "einfach-industriellen" des Arbeiters, d.h. das Interesse des Arbeiters an seiner Entwicklung als "Wert der Arbeitskraft" ist einerseits auch eine Entwicklung des Charakters der Arbeit in konkreter Hinsicht (und hängt also von deren inneren Möglichkeiten ab, oder: ist nicht wie ein gesellschaftlich allgemein zu realisierendes Verhältnis wahrzunehmen - worauf es aber ankommt), und kompensiert andererseits nicht den Verlust an allgemeinem Verhältnis des Arbeiters überhaupt zur Form der konkreten Arbeit, den die Marktwirtschaft aber bedeutet. Man realisiert nicht Wert, weder in Form der Ware noch in Form des Lohnes (nur der Arbeitskraft), ohne Waren zu realisieren. Der Arbeiter realisiert überhaupt nicht sich, ohne den Gegenstand zu realisieren, dem er, dem seine Arbeit dient. Und das Maß, woran sich eine Ware gesellschaftlich bestimmt, ist nicht dem Maß identisch, woran sich der Arbeiter gesellschaftlich messen will und bestimmen muß.

Man spricht vom Antagonismus im Verhältnis von Kapital und Arbeiter - und vergisst dabei, dass der Antagonismus in diesem Verhältnis ausschließlich aus der Seite des Kapitals dringt; der Arbeiter ist durch diesen Antagonismus von seiner Arbeit entfremdet, aber der Klassenkampf von seiner Seite, überhaupt "seine" Seite in diesem Verhältnis des Antagonismus, enthält bereits alle Momente der Überwindung der Destruktion durch das Kapital. Alle Verkennung des Sozialismus, seine Belastung mit einer gleichen Verantwortlichkeit für die Antagonismen unserer Zeit wie für das Kapital (wobei das letztere im Reformismus schon besser wegkommt, weil ja das Kapital ideologisch gesehen den Erhalt seiner Voraussetzung vortäuscht, im Eigentlichen ideologisch also dadurch glänzt, dass es keine eigene Ideologie - der Wahrheit, der Offenheit - produziert, so dass automatisch alle Verantwortung ideologischer Art auf den Arbeiter fallen muß und wird (!)), hat in der Verkennung des gesellschaftlichen Unterschieds der beiden Seiten des kapitalistischen Antagonismus seine Grundlage. [...]

Ich finde es nur erstaunlich, wie sich die alte Schei... immer wieder von Neuem reproduziert, als hätte es Marx und Engels, ihre Bücher, ihre Erkenntnisse, nie gegeben. Man muß den Mangel (wie den Reichtum) im Sozialismus allgemein machen, damit nicht angesichts eines jeden Mangels, der die Menschen unterschiedlich trifft, das gesellschaftliche Verhältnis, insbesondere die allgemeine Planung und Leitung der Gesellschaft einem Zweifel und einem Reformierungsbestreben ausgesetzt sind. Das Verhältnis der sozialökonomischen Gleichstellung unumkehrbar zu machen, darin sehe ich das Wesen der eigentlichen Reform im heutigen Sozialismus.

Es grüßt Hermann Jacobs

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Hermann Jacobs: Zur Reaktion der DDR auf das Abrüstungsabkommen vom 8. Dezember 1987 zwischen der UdSSR und den USA

Über eine Reaktion aus der Sowjetunion über das damalige Abrüstungsabkommen zwischen der UdSSR und den USA - die Beseitigung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa betreffend - mit seinen weitreichenden Folgerungen, die in Bezug auf Verhältnisse der gesellschaftlichen Ordnungen sozialistischer und kapitalistischer Staaten gezogen worden sind, hatte ich in der vorherigen Anmerkung berichtet. Aber es gab auch andere, darunter eine aus der DDR. Wir wollen ja aus der Geschichte der Vergangenheit lernen. Und lernen heißt - in diesem Falle -, Vergleiche zwischen Reaktionen zu ziehen. Hier also die Erklärung, die damals, bereits einen Monat nach dem Abschluß des Abrüstungsvertrages, Erich Honecker im Namen der DDR abgab - veröffentlicht in der Januar-Ausgabe 1988 in der "Einheit", dem theoretischen Organ des ZK der SED.

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Erklärung Erich Honeckers

Der Vertrag über die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen, der am 8. Dezember 1987 vom Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, und vom Präsidenten der USA, Ronald Reagan, in Washington unterzeichnet wurde, findet in der Deutschen Demokratischen Republik uneingeschränkte Zustimmung und Unterstützung. In der Bewertung dieses Abrüstungsvertrages stimme ich mit allen überein, die in ihm einen historischen Meilenstein auf dem Wege zu einer kernwaffenfreien Welt sehen. Die Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen ist zugleich eine erste praktische Konsequenz aus der Einsicht, dass im Nuklearzeitalter mehr Waffen nicht mehr Sicherheit bedeuten.

Im besonderen Maße werden die Auswirkungen des Vertrages auf Europa spürbar sein. Mit der nun vereinbarten Vernichtung zweier Raketenkategorien wird einer gefährlichen Entwicklung, die in den 80er Jahren die nukleare Konfrontation in Europa verschärfte, Einhalt geboten.

Die DDR gehört bekanntlich zu den 8 Staaten, aus denen laut Abkommen nukleare Waffen entfernt werden. Wir haben nie ein Hehl daraus gemacht, dass die Stationierung zusätzlicher Kernwaffen in Ost und West bei uns keine Freude ausgelöst hat. Um so mehr Dank und Anerkennung zollen wir heute allen, die mit Realitätssinn und Kompromissbereitschaft dieses Abkommen in langwierigen, oft komplizierten, aber letztlich doch erfolgreichen Verhandlungen erreicht haben. Die Anstrengungen der Sowjetunion, die in einer konstruktiven Linie von Genf über Reykjavik bis zum jetzigen Vertragsschluss in Washington geführt haben, fanden stets unsere volle Unterstützung und unseren aktiven Beitrag.

Der sowjetisch-amerikanische Vertrag vom 8. Dezember 1987 ist das erste nukleare Abrüstungsabkommen; und wir sind dafür, dass es einen Durchbruch zu weiteren tiefgreifenden Abrüstungsschritten wird. Ich beziehe das vor allem auf eine 50prozentige Reduzierung der strategischen Offensivwaffen bei Beibehaltung des ABM-Vertrages, auf das Verbot der nuklearen Tests und der chemischen Waffen.

Das Abkommen von Washington und seine strikte Verwirklichung kann insbesondere in Europa die strategische Situation zum Guten wenden. Es verbessern sich die Voraussetzungen dafür, die Abrüstung auf weitere Felder auszudehnen - die taktischen Kernwaffen abzubauen, die konventionellen Streitkräfte und Rüstungen drastisch zu reduzieren, einen kernwaffenfreien Korridor beziehungsweise eine chemiewaffenfreie Zone in Mitteleuropa zu errichten, Maßnahmen zur Verhinderung von Überraschungsangriffen zu vereinbaren.

Die DDR ist bereit, zu all diesen Fragen den konstruktiven Meinungsaustausch und die Suche nach Lösungen weiterzuführen, die niemandes Sicherheit beeinträchtigen und der gleichberechtigten friedlichen Zusammenarbeit in der europäischen Politik den Vorrang geben. Sie weiß sich in diesem Bemühen einig mit ihren Freunden und Verbündeten.

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Soweit der Text Erich Honeckers, der DDR, zum ersten großen Abrüstungsschritt zwischen der Sowjetunion und den USA. Wie wir sehen, wird die Kontinuität in der Friedenspolitik der sozialistischen Länder betont, eine Hoffnung auf eine sichere Welt, auf ein friedliches Zusammenleben der Völker der Erde ausgedrückt, neue Schritte in der Abrüstung, Weitergehen auf dem einmal eingeschlagenen Weg gefordert. Das ist die eine Einschätzung.

Aber nirgendwo erscheint in diesen Überlegungen die Illusion, da entstünde eine andere gesellschaftliche Ordnung, die eine Abkehr von den bisherigen bedeuten würde.

Wir erkennen, wo bereits damals am Bruch mit der Kontinuität in der Geschichte des Sozialismus gearbeitet wurde. Die DDR - setzt fort, in der Hoffnung oder im Glauben, die Sowjetunion setze fort, aber in der Sowjetunion werden bereits die Weichen für eine andere Geschichte gestellt.

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Anmerkungen

(1) In dieser Aussage wird über eine Reihe von Ländern, in denen es zu einer sozialistischen Revolution kam, hinweggesehen: China, die VR Korea, Vietnam, Kuba. Der Grund ist, dass diese Länder - mit der Ausnahme von Kuba - über die politische Form einer sozialistischen Revolution nicht hinausgekommen sind bzw. auf dieses Stadium wieder zurückgefallen sind; d.h. sie sind noch ungeprägt um eine entwickelte ökonomische Form der Revolution, was man von der Sowjetunion, der DDR usw. eben nicht sagen kann. Diese im Sinne des Sozialismus schon entwickelten Länder sind aus dem Weltbild verschwunden und daher gemeint.

(2) Die These, dass der erste Sozialismus der falsche oder ein falscher gewesen sei, ist tief in die aktuellen Sozialismus-Debatten eingedrungen. Diese These kann man aber nur aufstellen, wenn man bereits über ein Bild des anderen (dann richtigen) Sozialismus verfügt.

(3) Dass man die Frage eines richtigen und eines falschen Sozialismus/Kommunismus aufwerfen kann, hat mit der Eigenart des Übergangs zu ihm zu tun; der Übergang erfolgt aus der Warenproduktion, einem privaten Verhältnis zur Ökonomie zunächst der allgemeinen Art; die Warenproduktion ist in ihrer ersten geschichtlichen Form Produktionsweise eines allgemein möglichen Subjekts. Daraus leiten sich alle Illusionen über deren anderen historischen Verlauf als einen kapitalistischen ab. Statt einem besonderen Subjekt anheim zu fallen - dem Kapitalisten, der mit großen Kollektiven von Arbeitern arbeitet, könnte das Verhältnis ebensogut an Belegschaften fallen, also den Warenproduzenten in der kollektiven Form. Aber der reale Kommunismus setzt überhaupt nicht bei der Frage an, welche der beiden modernen Klassen die Produktionsweise der Warenform fortsetzen könnte, setzt also gar nicht an bei der Kritik des kapitalistischen Produktionsverhältnisses, sondern setzt an bei der Arbeit, die als moderne entsteht. Durch den neu entstehenden gesellschaftlichen Charakter der Arbeit wird die private Grundlage der warenproduzierenden Arbeit aufgehoben. Dieser Umstand gilt als historischer Wendepunkt für den Kapitalisten wie den Arbeiter.

(4) Es ist eben die Eigenart dieser ersten Klasse der Arbeit in der Geschichte der Menschheit, dass sie von der letzten Klasse des Eigentums in der Geschichte geboren wird. D.h. sie wird vom Kapitalismus geboren.

(5) Die Zentrale, sagen wir eine Staatliche Plankommission, eine Staats-Regierung, eine Volks-Räteversammlung oder auch das Zentralkomitee einer Partei eignen ja nicht an, sondern sie sind die die Verteilung regulierende Organe, je nach historischer Entwicklung - an das Volk, also an die Allgemeinheit, und je nach Besonderheit von Bedürfnissen. Aber diese Organe besitzen nicht etwas Besonderes, das nur sie besitzen, wie der Kapitalist, sie sind also nicht Eigentümer in einem besonderen Sinn, aus dem sie "abgeben".

(6) Ich will hier keine vollständige Darstellung des Revisionismus in seiner ökonomischen Form geben, nur das Wichtigste: In der "kollektiven Warenproduktion" soll der Lohn nicht als ein Wert der Ware Arbeitskraft, also vom Prinzip her als ein ökonomisches Minimum bestimmt werden, sondern als ein Teil/Anteil am Gewinn - und hier bestenfalls nach "individueller Leistung". Noch im Kapitalismus - verbleibt dieser Sinn ein moralischer Appell an das Kapital, von dem man hunderte Jahre lang zehren kann = ewiger Sozialdemokratismus, schon im Sozialismus - würde diese Forderung, real umgesetzt, aller entwickelten Form der gesellschaftlichen Bestimmung der Löhne im Wege stehen, d.h. er bliebe örtlich, besonders ("betrieblich") bestimmt; vom Sinn her ist "Lohn nach Gewinn" nichts als die Umkehrung, oder besser Übernahme, des Gewinnstrebens des Kapitalisten in den Lohn. Wie dieser den Gewinn, soll nun der Arbeiter den Lohn steigern können "wie den Gewinn". Damit ist die gesellschaftliche Grundlage (die Gesellschaft oder die Gesamtarbeit als Grundlage - und auch Grenze) für die Bestimmung sowohl der Akkumulation als auch des Lohnes unbegriffen. Der Revisionismus begreift an der ganzen Geschichte nur das Verhältnis/Verhältnisse, und ist so ohne Verständnis der Arbeit. Er ist scheinobjektiv, indem er Verhältnisse konserviert, nicht objektiv, indem die Arbeit. Und die Verhältnisse dann nach dieser.

(7) Es liegt auch - beim neuen Revisionismus - ein Unverständnis der politischen Form der proletarischen Revolution vor. Die politische Revolution ist verhältnisbildend. Sie ist nicht nur staatsbildend, sondern ist auch als die Durchsetzung eines über die gesamte Arbeit der Gesellschaft gerichteten Verhältnisses der Inbesitznahme zu verstehen. Die politische proletarische Revolution beendet mit einem Schlag die ganze Wirrnis der kapitalistischen Geschichte, in der es nur (!) um immer größere Rahmen für kapitalistisches Eigentum geht. Wobei kapitalistisch verstandenes Eigentum immer vom Besonderen ausgehendes Eigentum ist.

(8) Kommunisten, die ebenfalls wie ich davon ausgehen, dass der Ansatzpunkt einer gegensätzlichen Klasse nicht mehr gegeben war, neigen deshalb dazu, das Ende des europäischen Sozialismus in inneren Mängeln des Sozialismus selbst, also der herrschenden Arbeiterklasse zu suchen. Da die Logik ausgeschlossen, lassen sie sich zu einer Unlogik verführen.

(9) Der 1. Weltkrieg, als solcher eine allgemeine Zerstörung des Kapitalismus in Europa durch alle europäischen Kapitalisten, war auf spezifische Weise eine Zerstörung russischen Kapitalismus durch deutschen, wobei es aber nicht zur wirklichen Eroberung Rußlands durch Deutschland kam; das machte den Weg frei für die geschichtlich alternative Klasse. An seinem Beginn "taumelt/springt/zerstört" der Kapitalismus, er öffnet sich Märkte für seine Expansion, und dies per Gewalt. Er expandiert, indem er geschichtliche Voraussetzungen zerstört, zunächst eher auf politischem Wege als schon ökonomischem. Weil er expandiert durch Zerstörung, schafft er historisch früh Raum wie Verständnis für sein Gegenteil: den Kommunismus. Man muß zwischen einer überwiegend politisch-militärischen Form und einer überwiegend ökonomischen Form des imperialen Vorgehens in der Gesamtgeschichte des Kapitalismus unterscheiden. Vor der vorwiegend zweiten Form stehen wir bzw. diese erleben wir aktuell.

(10) Bisher gibt es nur von der Kommunistischen Partei Griechenlands eingehendere Wertungen der Geschichte der KPdSU oder der Sowjetunion. In ihnen sind Fragen angesprochen worden, die für die Entstehung einer inneren Abwendung vom Sozialismus und schließlich die Gründe seiner jähen Aufgabe 1989-1991 herangezogen werden müssen. Aber dabei ist es geblieben. Positionen der KKE sind nicht diskutiert, nicht übernommen worden, es gibt keine Zustimmungserklärungen seitens einer anderen kommunistischen Partei, auch nicht seitens neuer Gründungen einer Initiative für den Kommunismus.

(11) Darunter verstehe ich eine nationale Revolution, die den Internationalismus, d.h. den Sozialismus in jedem Land, schon ökonomisch zu garantieren in der Lage war. Für ein Land, das noch vor dem Internationalismus in ökonomischer Hinsicht steht, ergibt sich immer wieder die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit, in die Sicherung der nationalen Revolution zurückzufallen - und hier um jeden Preis.

(12) Womit auch die Frage beantwortet ist, warum im Kapitalismus das Aufwerfen der Frage eines anderen ökonomischen Subjekts im System als des direkt kapitalistischen durchaus einen Sinn machen kann - wenn es unmittelbar gegen den Kapitalisten gerichtet ist (auch wenn der Genossenschaftsgedanke nicht allgemein durchsetzbar ist), aber dieselbe Reform im Sozialismus eine reaktionäre Forderung ist, weil sie das ökonomische System des Sozialismus aufheben würde.

(13) Gemeint ist das Abkommen über die Begrenzung der Kurz- und Mittelstreckenraketen zwischen der Sowjetunion und den USA von Ende 1987.

(14) Alle Zitate aus "Der soziale Fortschritt in der Welt von heute", in: "Sowjetwissenschaft/Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge", Berlin/DDR, Heft 6/1988, Seite 563/564

(15) Ich will damit sagen, dass es zu weiteren Schritten auf dem Gebiet der Abrüstung kam, auch zwischen den USA und dem neuen Rußland - man könnte direkt von einem Weiterwirken von Vernunft in der Politik zwischen Staaten, Nationen, Klassen und allgemein-menschlichem Interesse sprechen -, aber es kam auch zu weiteren Schritten der Aufrüstung, ja, jetzt endlich/erst zu einer neuen Welle von Kriegen des USA-Imperialismus und weiterer Imperialismen - und das schlägt dem Neuen Denken direkt ins Gesicht und konterkariert im Nachhinein die Politik der letzten Parteiführung der KPdSU bzw. allen Theorien, die damals, ab 1985, ins Gespräch gebracht wurden und den Sozialismus - deformierten. Der Friedenskampf ist Weltfaktor, ja, aber ohne den sowjetischen/sozialistischen Unterbau. Und das merkt man allenthalben.

(16) Und diesen Gegensatz kämpft das heutige Rußland auch ständig aus. Die aus der Ökonomie hervordrängenden Kräfte wollen den Staat endlich richtig bürgerlich haben, die den Staat (noch) beherrschenden Kräfte wollen über den Staat das Neue Denken in der Welt verbreiten. Das Neue Denken in Rußland besagt eigentlich, dass sich das Land in ständigem Gegensatz zwischen seiner Innen- und Außenpolitik befindet. Man übertrage die Politik des Neuen Denkens in einen direkt bürgerlichen Staat, sagen wir die USA, und man weiß, was gemeint ist. Was für die Sowjetunion einen Rückschritt bedeutet, bedeutete für die USA einen Fortschritt; so dass das Neue Denken als das Denken neuer kapitalistischer Staaten zu verstehen ist. Dies, soweit es um Logik geht, noch nicht um Realität.

(17) Putin hat angekündigt, Rußland müsse seine Interessen künftig mehr, besser wahrnehmen.

(18) Kurt Hager: Nach seiner Rückkehr aus dem Exil war er stellvertretender Chefredakteur des Vorwärts, absolvierte 1948 einen Dozentenlehrgang an der Parteihochschule in Kleinmachnow und wurde 1949 ordentlicher Professor für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. 1946 trat er in die SED ein. Dort wurde er Leiter der Abteilung Parteischulung und 1949 Leiter der Abteilung Propaganda. 1950 wurde er Kandidat und 1952 Leiter der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED. 1954 wurde er Mitglied und 1955 Sekretär des Zentralkomitees der SED. In dieser Funktion war er verantwortlich für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur. 1959 wurde er Kandidat und 1963 Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Leiter der Ideologischen Kommission des Politbüros. Er wurde 1958 Abgeordneter der Volkskammer und 1967 Vorsitzender von deren Volksbildungsausschuss. Außerdem war er von 1976 bis 1989 Mitglied des Staatsrates und von 1979 bis 1989 Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates. Im SED-Politbüro galt Hager als Chefideologe und oberster Kulturverantwortlicher. Im November 1989 schied Hager aus seinen Funktionen aus und wurde 1990 aus der SED-PDS ausgeschlossen.

(19) Otto Reinhold studierte von 1946 bis 1950 in Jena und Ost-Berlin Wirtschaftswissenschaften. Nach dem Abschluss als Diplom-Wirtschaftler wurde er zum Dr. rer. oec. promoviert und arbeitete als Oberassistent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin.

Reinhold wurde 1945 Mitglied der KPD. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war er von 1950-53 auch Redakteur der SED-Zeitschrift "Einheit". 1954/55 vertrat er den Lehrstuhl für politische Ökonomie an der Parteihochschule der SED; 1956 begann Reinhold für das Zentralkomitee der SED zu arbeiten, zunächst als stellvertretender Abteilungsleiter im Bereich Agitation und Propaganda, dann als stellvertretender Direktor des Instituts für Gesellschaftswissenschaften (IfG) und Direktor ab 1962. 1967 wurde Reinhold Mitglied des SED-Zentralkomitees. Mit der Umwandlung des IfG zur Akademie änderte sich 1976 Reinholds Amtsbezeichnung zum Rektor, ein Amt, das er bis zur "Wende" im November 1989 innehatte. Die von Reinhold mitherausgegebene Veröffentlichung Imperialismus heute forderte eine allmähliche "konstruktive Umgestaltung" der kapitalistischen Gesellschaften, was eine Abkehr von der Revolutionsdoktorin bedeutete.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2012