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OSSIETZKY/824: Gut Ding will Weile haben


Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Nr. 20 vom 27. September 2014

Gut Ding will Weile haben

Von Ralph Hartmann



Es ist ein in Deutschland beliebter, häufig gebrauchter Spruch. Stammen soll er vom römischen Epiker Publius Ovidius Naso, besser bekannt als Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.): "Habent parvae commoda magna morae" - "Gut Ding will Weile haben." Schlecht Ding aber offenbar auch.

Elf Wochen dauerte es, bis der federführende "Onderzoeksraad voor Veiligheid", der niederländische Sicherheitsuntersuchungsrat, einen "Zwischenbericht" zum Absturz der Boeing 777 der Malaysia Airlines mit der Flugnummer MH 17 am 17. Juni im umkämpften ostukrainischen Bürgerkriegsgebiet in der Nähe von Donezk veröffentlichte. Der furchtbaren Flugzeugkatastrophe waren alle 298 Insassen der Unglücksmaschine, die von Amsterdam nach Kuala Lumpur unterwegs war, zum Opfer gefallen. Die meisten Leichen und mehr als 700 Körperteile wurden auf einer Fläche von 50 Quadratkilometern aufgefunden. Kleine und größere Löcher in den Wrackteilen zeigten, daß die Passagiermaschine abgeschossen worden war. Aber von wem? Der "Zwischenbericht" gibt darauf keine Antwort. Seine Kernaussage lautet in der englischen Berichtsfassung: "Flight MH 17 with a Boeing 777-200 operated by Malaysia Airlines broke up in the air probably as the result of structural damage caused by a large number of high-energy objects that penetrated the aircraft from outside." ("Die Boeing 777-200 des Flugs MH1 7 der Malaysia Airlines zerbrach in der Luft wahrscheinlich infolge einer strukturellen Beschädigung hervorgerufen durch eine große Anzahl hochenergetischer Objekte, die das Flugzeug von außen durchschlugen.")

Angesichts dieser leicht nebulösen zentralen Formulierung ist es nicht verwunderlich, daß die Einschätzung vorherrscht, der "Zwischenbericht" habe nichts, was nicht schon vorher bekannt war, gebracht. Wer mehr erwartet hatte, wurde auf den Sommer 2015 vertröstet. Dann, nach einem Jahr, soll ein endgültiger Bericht fertiggestellt sein und veröffentlicht werden. Aber es ist zu bezweifeln, daß dieser ein objektives Bild der Ursachen der schrecklichen Flugzeugkatastrophe geben wird, denn schon jetzt drängen sich Fragen über Fragen auf, unter anderem diese:

Warum soll die weitere Untersuchung der Absturzursachen ausschließlich durch Spezialisten der NATO-Staaten Niederlande und Belgien, der Ukraine und Australiens erfolgen, während Experten des Staates Malaysia, um dessen Boeing und Fluglinie es sich handelt, ausgeschlossen bleiben?

Warum wird es russischen Experten verwehrt, gemeinsam mit Vertretern der anderen Staaten die Ursachen des Absturzes herauszufinden, obwohl doch die meisten NATO-Staaten Rußland die Schuld zuschieben und unmittelbar nach der Katastrophe mit neuen Sanktionen "bestraften"?

Wieso konnte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kurz nach dem Absturz der Maschine ähnlich wie US-Außenminister John Kerry erklären, es gebe "unwiderlegbare Indizien" dafür, daß russische Kräfte die Boeing abgeschossen hätten, während selbst der US-Geheimdienst CIA dies bestritt?

Warum werden die Daten des intakten Flugschreibers und des Stimmenrecorders, die zur Auswertung in das NATO-Land Großbritannien gebracht wurden, nicht veröffentlicht, wenn sie laut "Zwischenbericht" nur nichtssagende Kontakte zwischen Piloten und der Flugleitstation in Dnepropetrowsk wiedergeben?

Aus welchem Grund haben die ukrainischen Fluglotsen den Flug der Passagiermaschine um 200 Kilometer, von der üblichen Route abweichend, nach Norden, direkt über die Bürgerkriegskampfzone verlegt?

Wozu dienten die ukrainischen BUK-Raketen, die die ukrainische Armee, wie russische Luftaufnahmen belegen, am Tag des Massenmordes in die Nähe des Absturzortes verlegte?

Warum sind die Aufzeichnungen aus dem Kosmos nicht freigegeben, sondern gesperrt?

Warum schließlich lassen sich die mit der Fertigstellung des Abschlußberichtes befaßten Staaten und Experten noch ein ganzes Jahr Zeit? Meinen sie tatsächlich: Ein guter Bericht soll Weile haben? Oder halten sie und ihre Bündnispartner sich an das Sprichwort, zu dem Johann Wolfgang von Goethe ein Epigramm verfaßt hat: "Wer will denn alles gleich ergründen! / Sobald der Schnee schmilzt, wird sich's finden. / Hier hilft nun weiter kein Bemühn! / Sind's Rosen, nun, sie werden blühn." Das spöttische Gedicht des Dichterfürsten trägt die Überschrift: "Kommt Zeit, kommt Rat."

Die sich so unmäßig viel Zeit lassen, wissen, daß bis zum Sommer 2015 eine Menge Gras auf dem Absturzgebiet der MH 17 sowie über die grauenvolle Katastrophe gewachsen sein wird und leider andere blutige Geschehnisse und schreckliche Bilder die Flugzeugkatastrophe vom Juni in den Hintergrund gedrängt haben werden. So können wir ziemlich sicher sein: Kommt Zeit, kommt Unrat.

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Quelle:
Ossietzky - Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft
Siebzehnter Jahrgang, Nr. 20 vom 27. September 2014, S. 690-692
Herausgeber: Dr. Rolf Gössner, Ulla Jelpke, Prof. Dr. Arno Klönne,
Otto Köhler, Eckart Spoo
Redaktion: Katrin Kusche (verantw.), Eckart Spoo,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2014