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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1254: Autopsie eines Rufmords


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 - April 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Autopsie eines Rufmords
Hermann Dierkes tritt der Hetzkampagne entgegen, die ihn zum "Antisemiten" machen will

Von Angela Klein


Was den Staat Israel anbelangt und die kritiklose Hinnahme seiner Verbrechen, ist es in Deutschland wieder so weit wie mit dem Antikommunismus in den 50er Jahren: Wer darauf nicht schwört, wird zur Unperson, wird "öffentlich gesteinigt", wo nicht zum Hochverräter. Das musste Hermann Dierkes erfahren, als er auf einer Veranstaltung in Duisburg auf die Frage, wie man Israel in die Arme fallen könne, mit dem Verweis auf die internationale Boykott-Kampagne antwortete.
Hermann Dierkes ist seit zehn Jahren Fraktionsvorsitzender erst der PDS, dann der Partei DIE LINKE im Rat der Stadt Duisburg. Mit ihm sprach Angela Klein.


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SOZ: Das war ja ein richtiger Tsunami, der in den letzten Karnevalstagen über dich hereingebrochen ist. In kürzester Zeit hat sich eine enorme Hetzkampagne aufgebaut...

HERMANN DIERKES: Der Ausgangspunkt der Geschichte muss im israelischen Überfall auf Gaza gesehen werden und in den heftigen Diskussionen, die er hier ausgelöst hat. In diesem Zusammenhang hatte ich eine öffentliche Kontroverse mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (siehe SoZ 2/09), die nicht ein einziges Wort der Kritik an Israels Krieg gefunden hat.

Am 18. Februar hat der Ortsverein der LINKEN in Duisburg-Hamborn Dr. Rihbi Youssef von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft zu einer Veranstaltung eingeladen. Er stammt aus Ramallah, lebt aber schon länger in Duisburg. Er zeigte den Film von Atalar, Die eiserne Mauer, der die etwa 30 Anwesenden sehr betroffen gemacht hat. Sie fragten: "Was kann man gegen solch schreiendes Unrecht tun?" Hüseyin Aydin (MdB) aus Duisburg, berichtete von einer Zusammenkunft mit dem israelischen Botschafter, auf der es eine Auseinandersetzung gab: "Ihr werft Bomben und die Bundesrepublik soll den Wiederaufbau bezahlen?"

Ich habe sodann den Aufruf des Weltsozialforums erwähnt, den 30. März zu einem Tag der internationalen Solidarität mit Palästina zu machen. Der Aufruf enthält eine scharfe Kritik am israelischen Überfall auf Gaza und beschreibt drei Aktionsformen: Boykott, Desinvestment und Sanktionen. Es gibt dazu eine weltweite Kampagne, die von bekannten Persönlichkeiten unterstützt wird. Ich habe auch erwähnt, dass ich Obst oder Gemüse aus Israel schon lange nicht mehr kaufe. Ein Bericht über die Veranstaltung wurde auf der Internetseite der LINKEN Duisburg veröffentlicht.

Am Rosenmontag bekam ich einen Anruf von der örtlichen Redaktion der WAZ, ob ich das dort gesagt hätte und ob ich das aufrechterhalten würde. Ich erklärte dem Journalisten, ich hätte mich auf den Aufruf des WSF bezogen - den kannte er gar nicht! Dann sagte er sinngemäß: "Meinen Sie nicht auch, dass in Deutschland ein Aufruf zum Boykott gegen Israel ..." Ich habe ihm geantwortet, ich kenne die deutsche Geschichte, ich weiß, aus welcher Ecke der Aufruf "Kauft nicht bei Juden" kommt. "Aber", fügte ich sofort hinzu, "meinen Sie nicht, dass wir hier einen vollkommen anderen Sachverhalt haben? Wenn man es so dreht, kann es tatsächlich den Beigeschmack bekommen. Aber hier handelt es sich nicht um rassistische Ausgrenzung, sondern hier appelliert das Weltsozialforum an die Weltöffentlichkeit, angesichts so massiver Menschen- und Völkerrechtsverletzungen zu wirksamen Aktionsformen gegen ein Land zu greifen, weil weder UNO-Resolutionen noch diplomatische Proteste bisher irgendetwas bewirkt haben." Ich erwähnte noch die Boykottaktionen griechischer und norwegischer Hafenarbeiter während des Gazakriegs.

Aus dem Kurzinterview hat er am nächsten Tag nur den einen Satz herausgegriffen, um den Eindruck zu erwecken, der Dierkes knüpfe bewusst an rassistische Nazikampagnen an. Ich habe sofort eine Richtigstellung an die WAZ geschickt und gegen die Infamie protestiert, meine Worte so zu verdrehen. Die wurde nicht abgedruckt. Am nächsten Tag gingen dann die Schmähreden und die Hetzjagd los, "Nazi" und "Antisemit" waren noch die harmloseren Attribute, "Trau' dich bloß nicht auf die Straße" - bis hin zu Morddrohungen.

Dann behauptete die WAZ, so einen Aufruf des WSF habe es nie gegeben. Unser Pressesprecher ist sofort in die Redaktion, hat ihnen den Aufruf auf den Tisch gelegt und ihnen gezeigt, wo der überall im Internet steht. Trotzdem waren sie nicht bereit, das zu korrigieren, haben die Behauptung unter Berufung auf nicht näher genannte Personen der Evangelischen Kirche und auch der Pressesprecherin von Attac, Frau Distelrath, wiederholt bzw. versucht, ihn herunterzuspielen. Tenor: "Und wenn es ihn gegeben hat, dann war er nicht verbindlich" - was bei Erklärungen des WSF nie der Fall ist, aber das war ja hier gar nicht das Thema -, um die Lüge vom Vortag nicht widerrufen zu müssen.

SOZ: Die WAZ hat also eine regelrechte Kampagne gegen dich geführt?

HERMANN DIERKES: Es ist eindeutig eine Kampagne der WAZ. Die Sache blieb nicht auf die örtliche Ebene beschränkt. Die Essener Zentralredaktion, Innenressort, hat das in die Hand genommen. Mehrere Tage lang kam das Thema auf die Titelseiten, es wurde in den tagespolitischen Kommentaren abgehandelt, ahnungslose Bürger wurden mit der Falschmeldung gegen mich im Ortsteil in Stellung gebracht. Leider haben mich etliche ungeprüft kritisiert.

Auf NRW-Ebene haben sich von Herrn Wüst von der CDU bis Frau Kraft von der SPD alle an mir ausgetobt. Ruckzuck war ich die Unperson, die aus der Politik entfernt werden muss. Das wurde dann auf DIE LINKE insgesamt übertragen, die sich mal wieder zu erkennen gegeben habe, "rechte Politik im linken Gewand" zu betreiben u.ä.

SOZ: Wie erklärst du dir das?

HERMANN DIERKES: Ich habe den Fehler gemacht, dass ich das Kurzinterview nicht habe autorisieren lassen. Ich war stark in Zeitdruck. Aber selbst wenn ich es getan hätte, hätten die Stichworte "Boykott, Israel" gereicht, um die Kampagne loszutreten. Ich glaube, ich habe hier an etwas gerührt, das inzwischen Staatsdoktrin geworden ist: Ganz egal, was Israel tut, wegen seiner historischen Schuld könne Deutschland nicht anders, als alles zu decken. Kritik an Israel ist zum Tabu geworden. Das ist das Eine.

Zum anderen aber ist die WAZ bekannt dafür, dass sie der SPD sehr nahe steht. Am 30.8. sind Kommunalwahlen in NRW, die SPD steht schlecht da, DIE LINKE ist in der Offensive. Umfragen in den letzen Wochen sahen uns im Ruhrgebiet bei 16% - wir besetzen heute die Themen und die SPD muss auf vielen Gebieten zurückrudern. Die Marktschreier sind vollkommen in der Defensive, das Thema "Stärkung der öffentliche Hand" kommt wieder in den Vordergrund. Mit dem angeblichen "Antisemitismus" haben sie ein Thema entdeckt, wo sie glaubten, sie könnten der LINKEN mal richtig einen einschenken. Einen der Drahtzieher sehe ich u.a. in dem stellvertretenden Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der macht sich geradezu einen Spaß daraus, Leuten Antisemitismus anzuhängen, sobald sie etwas Kritisches gegen die israelische Regierung sagen. Viele ducken sich dann weg aus Angst, stigmatisiert zu werden.

Es gab aber auch Ausnahmen, so der Chefredakteur von Radio Duisburg, der den Mut hatte, mich in seinem Wochenkommentar zu verteidigen - das rechnen wir ihm sehr hoch an; auch er wurde angegiftet. Ich musste viele Interviews, auch im Fernsehen, geben, wo ich oft den Eindruck hatte, die wurden zusammengestrichen, um meine tatsächliche Position verkürzt oder verfälscht darzustellen. Nach dem Abebben der Diffamierungswelle erhalte ich einen Strom von Solibeweisen aus aller Welt. Ich will versuchen, allen Zuschriften zu antworten.

SOZ: Meinst du, das wahlpolitische Kalkül geht auf?

HERMANN DIERKES: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man nicht wissen, bringt das einen Stimmenverlust oder im Gegenteil einen Zugewinn? Für beides gibt es Hinweise. In Duisburg, wo mich viele kennen, ich habe 30 Jahre in der Stahlindustrie gearbeitet, ich bin ein bekannter Gewerkschafter, fragen mich die Kollegen: "Was wird denn da für ein Popanz aufgebaut?" Mein früherer Betriebsrat hat mir klar seine Solidarität versichert. Ich habe sehr viele Solidaritätszuschriften aus dem In- und Ausland erhalten, darunter auch etliche jüdische Stimmen. Wenn unser Kreisverband jetzt Infostände macht, sagen die allermeisten Mitbürger: "Das ist nicht in Ordnung, eure Kritik ist richtig."

SOZ: Aus den Reihen der LINKEN kamen ja auch solche Anwürfe. Kamen die erst nach dem WAZ-Artikel?

HERMANN DIERKES: Ja, das war der Anlass, das wurde ungeprüft übernommen. Aus der Parteizentrale in Berlin hat mich niemand gefragt, ob ich das so gesagt habe. Unser Landespressesprecher wurde von Berlin kontaktiert und ihm wurde bedeutet: Nehmt das alles zurück, sonst gibt es eine harte Reaktion der Partei. Die Sache war Thema im Bundesvorstand und in der Bundestagsfraktion, dort sind Genossinnen und Genossen für mich eingetreten, haben erzählt, was passiert ist, welche Arbeit ich seit 40 Jahren hier mache und welche Erfolge wir haben. In der Sache hat es keinen Beschluss irgendeines Bundesgremiums gegeben. Es gab eine geharnischte Stellungnahme von Petra Pau - sie ist immerhin Bundestagsvizepräsidentin. Es gab eine gemeinsame Stellungnahme, unterschrieben von Dietmar Bartsch, Klaus Ernst, Katja Kipping und Petra Pau; darin verwahren sie sich "gegen jede Art von Antisemitismus", auch gegen alle "Äußerungen, die antisemitisch sind oder wirken". Es ist richtig, dass DIE LINKE sich in Sachen Antirassismus und Antisemitismus "keine Zweideutigkeiten" erlauben darf. Ebensowenig kann sie sich jedoch Zweideutigkeiten in Sachen Menschen- und Völkerrecht für die Palästinenser erlauben.

Es ist zu befürchten, dass Teile der Partei bereit sind, sich der neuen Staatsdoktrin zu unterwerfen und Israel eine Sonderrolle einzuräumen, was Menschenrechte und Völkerrecht anbelangt. Für mich sind die Menschenrechte aber die absolut minimale Geschäftsgrundlage in der Politik, davon kann und darf sich kein Land freistellen. Ich bin Sozialist, und ich denke, nach der Geschichte des Stalinismus muss das für uns eine programmatische Kernfrage sein. Das lassen wir anderen nicht durchgehen, und diesen Maßstab legen wir auch an uns selber.

SOZ: Das steht ja wohl in einer Reihe mit dem Auftritt von Klaus Lederer auf der Pro-Israel-Demonstration im Januar, wo er praktisch seine Solidarität mit dem Krieg bekundet hat. Liegt da Sprengkraft für die Partei?

HERMANN DIERKES: In der Tat. Das Thema ist bislang noch gar nicht richtig diskutiert worden. Aber es gibt schon Bestrebungen, die Partei in der Frage auf einen bestimmten Kurs zu bringen, das zeichnete sich schon in der Rede von Gregor Gysi zum 60. Jahrestag der Gründung Israels ab. Wir sind die Partei des Antimilitarismus, des Antirassismus, des Selbstbestimmungsrechts gerade kleiner Völker. Wenn man sich hier auf die Seite der israelischen Regierung schlägt, gibt man diese programmatischen Grundlagen auf.

Leider ist es so, dass DIE LINKE sich im Gazakrieg nicht mit Ruhm bekleckert hat; an den Demonstrationen war sie nur schwach beteiligt. Das ist die Frucht einer Unklarheit, wie man sich in der Frage politisch positionieren soll. Für mich ist völlig klar: Auch der LINKEN muss an einem besonderen Verhältnis zwischen Deutschland und Israel gelegen sein - wegen der Naziverbrechen und der untilgbaren Schuld. Nach wie vor geht es um das Durchhalten der Erinnerungskultur, um Wiedergutmachung u.v.m. Aber es muss auch einen radikalen Bruch geben, nämlich mit der Komplizenschaft zwischen der deutschen und der israelischen Regierung, um die Palästinenser niederzuhalten. Dieser Kurs liegt nicht im wohlverstandenen Interesse Deutschlands, und auch nicht Israels.

SOZ: Wie soll es weitergehen?

HERMANN DIERKES: Ich verlange von der Partei, dass sie die internationalen Solidaritätskampagnen mit Palästina und alle Initiativen, die die israelisch-palästinensische Zusammenarbeit fördern, aktiv unterstützt. DIE LINKE muss da eine ganz andere Rolle spielen. Ich bin bereit, die Boykottfrage tiefer zu hängen, weil sie in der Partei auf allen Flügeln umstritten ist, weil sie grob missverstanden werden kann, und weil unsere Gegner so skrupellos damit umgehen. Aber was das Verhältnis zu Israel und der Palästinenserfrage betrifft, muss sich die Partei deutlich aufstellen.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 24. Jg., April 2009, Seite 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2009