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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1268: Von London nach Straßburg ...


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5 - Mai 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Von London nach Straßburg -

Geld für die Banken, Tränengas für Demonstranten

In London ermächtigten sich die, die uns die Krise eingebrockt haben, sie in ihrem eigenen Interesse zu lösen. In Straßburg beschlossen sie, sich dafür wirkungsvoller zu bewaffnen - denn dass der Widerstand gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die sozial Schwächsten zunehmen wird, damit rechnen europäische Polizeiszenarien. In beiden Städten übte die Polizei, wie man eine missliebige Demonstration kaputt macht. Der soziale Krieg geht in eine neue Runde. Die Schrauben der polizeilichen und militärischen Repression werden angezogen.


Demonstration Straßburg 4. April
Suizid einer Heiligen Kuh

Von Reiner Schmidt


Der Verlauf der internationalen Demonstration war nicht nur Ergebnis polizeilicher Repression, sondern auch der Widersprüche in der europäischen Antimilitarismus- und Friedensbewegung.


Gut ein Jahr lang wurden die Aktionen gegen den NATO-Geburtstag in Straßburg und Baden-Baden/Kehl von der europäischen Friedens- und Antimilitarismusbewegung vorbereitet.

In der BRD war es gelungen, ein Bündnis zwischen antimilitaristischer Bewegung und traditioneller Friedensbewegung zu bilden; der "Vorbereitungskreis NO to NATO" umfasste Attac, DFG VK, Informationsstelle Militarisierung (IMI), Interventionistische Linke (IL), DIE LINKE, den Kasseler Friedensratschlag, Widerstand der beiden Ufer u.a.

Die europäischer Ebene organisierte das International Coordination Commitee (ICC), in dem aus Frankreich das PCF-nahe "Mouvement de la Paix" und die NPA (Neue Antikapitalistische Partei) saßen, außerdem Vertreter aus Großbritannien, Belgien, Griechenland, Italien usw.

Die Projekte für Straßburg waren Camp, Gegenkongress, Aktionen des zivilen Ungehorsams (Blockaden) und eine zentrale Großdemonstration am 4.April. Die Demo war dabei das Projekt, auf das sich alle als zentralen Ausdruck des Widerstands gegen die NATO einigten. Sie durfte von den anderen Projekten auf keinen Fall gefährdet werden. Vor allem die traditionelle Friedensbewegung und Attac versuchten mit Bezug darauf, die Blockaden mehrmals in Frage zu stellen.

Die IL und die Gewaltfreien - War Resisters International und Bombspotting, Belgien - überzeugten fast das gesamte ICC vom Blockadeprojekt, mit der Auflage, dass ihr Ablauf auf keinen Fall die Demo gefährden dürfe.

Sowohl im bundesdeutschen Vorbereitungskreis als auch im ICC wurden trotz des hohen Stellenwerts der Demo niemals deren organisatorische Struktur, die möglichen Szenarien und die Absicherung gegen äußere wie innere Angriffe diskutiert. Initiativen u.a. der IL dazu wurden vom ICC mit dem Hinweis erledigt: "Jeder Demoblock organisiert sich und seine Ordner selbst." Stattdessen konzentrierten sich die Auseinandersetzungen darauf, wer von den drei französischen Linksparteien wann und wo reden durfte.


Streit um die Demoroute

Die Präfektur in Straßburg hatte bereits im Februar verfügt, dass nur eine Demoroute im Süden Straßburgs, weit weg von Innenstadt und NATO Kongressort, möglich sei. Die lokale Straßburger Verhandlungskommission hatte dies akzeptiert. Auf der NO-NATO-Aktionskonferenz Anfang Februar wurde dieses Agreement verworfen und bekräftigt, dass in der Innenstadt demonstriert wird. Später wurde - ohne vorherige Diskussion im ICC - der von der Präfektur genehmigte Auftaktkundgebungsplatz veröffentlicht, ein Parkplatz nahe der Europabrücke.

Auf den ICC-Sitzungen am 1. und 3. April wurde der Auftaktplatz akzeptiert, die Demoroute durch Industriebrache, Hafenanlagen und Wald aber abgelehnt und ein Formelkompromiss gefunden:

Nach der Auftaktveranstaltung sollte eine Demonstration zur Vaubanbrücke, der südlicheren der beiden Brücken über den Kanal, führen. Dort sollte es eine Kundgebung und eine Pressekonferenz vor den Polizeiabsperrungen geben. Durch Verhandlungen mit der Polizeiführung und den Druck der Massen sollte doch noch eine Route in die Innenstadt durchgesetzt werden. Sollte dies nicht gelingen, sollte die frisch gewählte achtköpfige Demoleitung entscheiden, ob es zum Kundgebungsplatz zurückgehen, oder ob der genehmigten Route durch das Niemandsland gefolgt werden sollte.

Am Abend des 3. April gab es im Camp eine gut besuchte Veranstaltung des antikapitalistischen Blocks. Dort kam man überein, dass nach der Kundgebung an der Vaubanbrücke auf keinen Fall die genehmigte Inselroute genommen, sondern versucht werden sollte, sich einen Weg in die Straßburger Innenstadt zu bahnen - allerdings nicht durch direkte Angriffe auf die Polizeiketten, sondern dadurch, dass man versuchte, die Materialsperren aus dem Weg zu räumen.


Es kam alles ganz anders

Die ganze Nacht und am frühen Morgen versuchten Hunderte die ausgemachten Blockadepunkte in der Innenstadt zu erreichen. Sie wurden von der Polizei ständig angegriffen und kamen zumeist nicht an ihr Ziel. Aus dieser Gruppe und von Leuten, die später vom Camp kamen, formierte sich dann ein Demonstrationszug, der zum Kundgebungsplatz auf der Insel wollte. Gegen 11 Uhr erreichte er die Vaubanbrücke. Die war jedoch entgegen den Abmachungen gesperrt.

Die Polizei griff die Demonstration mit Tränengas an, Mollis flogen, schnell errichtete Barrikaden brannten. Die Demoleitung des ICC, aber auch des antikapitalistischen Blocks, waren nur bedingt funktionsfähig. Ein Teil des ICC war auf dem Kundgebungsplatz und verhandelte mit der Polizei mit dem Ziel, der Teildemonstration den Weg zum Kundgebungsplatz freizumachen; ein anderer Teil der Demoleitung stand vor der gesperrten Brücke.

Um 12.30 Uhr wurde die Brücke freigegeben, ca. 8000 Leuten bewegten sich in Richtung Kundgebungsplatz.

Unterwegs kam es zu den ersten unsinnigen Riots. Ein Tankstellenshop und mehrere Bushaltestellen wurden verwüstet. Dann, vor dem Zugang zum Kundgebungsplatz, spaltete sich der Zug. Etwa 4000 Leute gingen auf den Platz, die andere Hälfte zog in Richtung Europabrücke.

Auf der bundesdeutschen Seite der Brücke warteten weitere 7000 Demonstrierende (Ostermarsch Baden Württemberg, Friedenslok NRW u.a.) auf den Übergang. Sie sollten niemals die Grenze passieren, denn inzwischen brannte es neben der Brücke. Die Polizei sperrte diese jetzt endgültig. Es gab Versuche, aus dem Demozug heraus die Brandstiftung zu stoppen, aber angesichts der tagelangen militanten Repressalien der Polizei und der aufgestauten Wut hatten diese Kräfte keine Chance.

Als die Polizei den Demonstrationszug vor der Europabrücke mit Gasgranaten angriff und die Gasschwaden auf den Kundgebungsplatz wehten, wurde die Veranstaltung dort abgebrochen und ein neuer Demonstrationszug formierte sich, der zurück in die Innenstadt wollte. Dorthin kam er nicht durch; ein Teil strebte zurück zur Europabrücke, die weiterhin gesperrt blieb, und wurde schließlich nach mehreren Angriffen der Polizei am späten Nachmittag aufgelöst.(1)

Die am Vortag eingesetzte Demoleitung traf sich kein einziges Mal an diesem Tag.


Bis zuletzt

Die Sitzung des ICC am Tag am Sonntagmorgen fand ausschließlich mit deutscher und französischer Beteiligung statt. Reiner Braun von der Internationalen Vereinigung der Rechtsanwälte gegen Atomwaffen (IALANA) hatte eine Erklärung vorbereitet, die einerseits das Verhalten der Polizei als undemokratisch und absolut inakzeptabel kritisierte. Andrerseits gipfelte sie darin, Polizei und "Schwarzer Block" hätten wie Geschwister agiert und gemeinsam die Demo kaputt gemacht. Der letzten Formulierung widersprachen heftig IL und DFG VK, unterstützt von War Resisters International, NPA, und IMI. Für die Formulierung Reiner Brauns waren Attac, Parti de Gauche, Mouvement de la Paix.

Somit gab es keine gemeinsame Erklärung des ICC. Auf der abschließenden Pressekonferenz machte lediglich der Vertreter von BLOCK NATO die Distanziererei vom "Schwarzen Block" nicht mit.

(Reiner Schmidt ist Mitglied der IL und war im
Vorbereitungskreis "NO tO NATO" und dem ICC.)


(1) Dieser Teil wurde von der Polizei, Steinewerfern und Brandstiftern zugleich in die Zange genommen und saß in der Mausefalle - eingekeilt in eine enge, von Lagerhallen gesäumte Straße, die vorne und hinten von Bahngleisen gequert wurde und sowohl von "casseurs" als auch von der Polizei abgeriegelt war. Seitlich des Demozugs entglasten die "casseurs" Lagerhallen, vorne und hinten lieferten sie sich Gefechte mit der Polizei, die diese regelmäßig mit Tränengassalven gegen die Demonstranten beantwortete; dabei warfen sie auch schon mal Steine in die Demonstration. (Angela Klein)


*


Erfolgreiche Blockaden

Von Christoph Kleine


Trotz Verbot gab es an drei verschiedenen neuralgischen Punkten in der Straßburger Innenstadt, außerhalb der orangenen Zone, aber in der Nähe des Kongresszentrums, Blockadeaktionen. Christoph Kleine beschreibt die IL-Blockade.


Etwa 400 Aktive von "Block NATO" versammelten sich um 6 Uhr morgens auf dem Universitätsplatz unweit der orange Zone. Die meisten haben die Nacht im Zentrum von Straßburg verbracht, andere kommen aus Reisebussen dazu, die wie durch ein Wunder bis hierher durchgekommen sind. Die Menge zieht in Richtung Kongresszentrum, in dem in wenigen Stunden der NATO-Gipfel tagen soll.

Sekunden später fliegen die ersten CS-Gasgranaten. Die Aktiven weichen zurück, bleiben aber beisammen und finden einen anderen Weg, der sie um die Polizei herum näher an ihr Ziel führt. Als die Gruppe nur noch etwa 300 Meter von der Sperrzone entfernt ist, wird die CRS (Bereitschaftspolizei) sichtlich nervös. Immer mehr Polizei wird herangeführt, die Gruppe erneut massiv mit CS-Gas beschossen. Kurzzeitig ist sie festgesetzt, doch dann ist auch die Polizei froh, dass die Gruppe sich wieder vom Kongresszentrum entfernt. Dafür gibt sie die Avenue de la Paix frei. Auf einer Kreuzung stoppt die Gruppe von "Block NATO", einige setzen sich, andere bilden Ketten.

Während der Blockadepunkt an der Avenue de la Paix hauptsächlich von IL und Solid getragen wird, gelangt die Aktionsgruppe von "NATO-Zu", dem explizit gewaltfreien Teil von "Block NATO", auf der gegenüberliegenden Seite des Kongresszentrums auf eine Zufahrtsstraße und setzt sich dort mit etwa 150 Leuten fest. Nach anfänglichen Drohungen kann auch diese Gruppe ihre Blockade mehrere Stunden aufrechterhalten.

Entscheidenden Anteil am Gelingen der Aktion haben auch jene ca. 2000 Aktiven, die sich in Kleingruppen vom Camp aus auf den Weg in die 7 km entfernte Innenstadt gemacht haben. Während einige der sehr früh aufgebrochenen Kleingruppen relativ leicht zu den Blockaden durchdringen, werden die größeren Gruppen sofort von der Polizei mit Gas, Gummigeschossen und Blendschockgranaten angegriffen.

Dennoch halten sich die Aktivisten an das beschlossene Aktionskonzept: sich nicht auf Auseinandersetzungen mit der Polizei einlassen, sie nicht angreifen, immer wieder Wege um sie herum suchen. Die erste größere Barriere ist eine Bahnlinie, die von der Polizei mit starken Kräften verteidigt wird. Nach zahlreichen Versuchen gelingt 200 Leuten gegen 7 Uhr der Durchbruch. Später wird die Polizeiabsperrung immer löchriger. Zum entscheidenden Hindernis werden die Kanalbrücken, die den direkten Weg zu den Blockadepunkten eröffnet hätten. Einigen gelingt es, in kleinen Gruppen und auf Schleichwegen noch bis zur Blockade an der Friedensallee zu kommen - die meisten bleiben aber zunächst an der Brücke und machen sich später auf den Weg zum Kundgebungsplatz auf der Insel.

"Wenn Sie um 7 Uhr in Straßburg City auf der Straße sind, werden Sie das um 10 nach 7 nicht mehr sein. Es wird keine Verhandlungen, sondern nur kurze und konsequente Handlungen der Polizei geben", hatte der Einsatzleiter der französischen Polizei gegenüber "Block NATO" erklärt. Daran gemessen waren die Aktionen von Block NATO ein Erfolg. Das Demonstrationsverbot in der Stadt wurde unterlaufen, Hunderte von Aktiven haben sich durch den CS-Gasnebel hindurch ihr Recht auf Protest erstritten.


*


"Ich will keine Demonstranten sehen"


Am Vorabend der internationalen Demonstration schärft Nicolas Sarkozy der CRS, der für ihre Knüppelorgien berüchtigten Bereitschaftspolizei, ein, was das oberste Ziel ihres Einsatzes zu sein hat.Den Häuptern der reichsten und wichtigsten Länder der Welt präsentiert er eine Stadt im Ausnahmezustand. Sie verbarrikadieren sich hinter drei Meter hohen Metallgitterzäunen in einer roten und einer orange Zone, die am Samstag nicht einmal mehr von denen passiert werden durfte, die dafür einen Ausweis hatten. "Bleiben Sie zu Hause", lautet der Rat der Behörden. Die Schulen sind schon die ganze Woche geschlossen; viele Menschen haben die Stadt verlassen. Am Freitag werden die Autobahnen rund um Straßburg gesperrt, der Zugverkehr nach Kehl eingestellt; Samstag früh ist auch der gesamte öffentliche Nahverkehr in der Stadt eingestellt; Geschäfte und Restaurants haben geschlossen zu bleiben. Straßburg gleicht einer belagerten Stadt.


In seiner Bilanz des Polizeieinsatzes hält sich der Präfekt des Département Oberrhein, Jean-Marc Rebière, zugute, dass "die Demonstranten nicht in die Stadt gekommen sind und dass es wenig Verletzte und keine Toten gegeben hat" Das ist wohl wahr, aber es ist an diesem Samstag auch das Demonstrationsrecht auf der Strecke geblieben. Denn die Demonstration konnte sich zu keinem Zeitpunkt vollständig sammeln; die vereinbarte Demoroute wurde von der Polizei mehrfach versperrt; ständig wurden Teil von ihr mit Tränengas, Blendschockgranaten und Gummigeschossen angegriffen und zerrieben.

Tatsächlich hätte man die Route nicht akzeptieren dürfen, denn sie führte über eine Insel, die von drei Brücken begrenzt war. Mit einer Verzögerung von eineinhalb Stunden wurden die Demonstranten zum Kundgebungsort durchgelassen; danach wurden alle drei Brücken gesperrt. Mehrere tausend Demonstranten, die später dazu stießen, wurden nicht mehr durchgelassen und sammelten sich am gegenüberliegenden Ufer des Kanals, von wo sie aber bald mit Tränengas verscheucht wurden. Es war eher ein Freiluftgefängnis als eine Route. Und selbst auf dieser Insel konnten die Demonstranten nicht einmal im Viereck laufen, weil die vierte Seite, die an der Europabrücke vorbeiführte, gesperrt war.

Die Polizei brachte damit das gesamte Demonstrationskonzept durcheinander, stiftete Chaos und schuf ideale Voraussetzungen für das Werk der Brandstifter. Diese wiederum ließ sie so offensichtlich gewähren, dass der Bürgermeister von Straßburg, die Regionalpresse und die örtliche Bevölkerung später übereinstimmend kritisierten, der Präfekt habe es unterlassen, die Straßburger zu schützen und zugesehen, wie ein ganzer Stadtteil niedergebrannt wird.


Port du Rhin ist eines der ärmsten Stadtviertel von Straßburg; lange Zeit wurde es von der Stadtverwaltung vernachlässigt. Die Bevölkerung in dem kleinen Hafenviertel, inmitten von einem ausgedehnten Gewerbegebiet, ist sehr jung - Elsässer und maghrebinische Familien, Leute der Banlieue. Sie sind erschüttert über den Zynismus der Ordnungskräfte. Sie sind nicht gegen die Demonstration, aber: Warum führt sie nicht durch die sog. besseren Viertel?

Sie berichten groteske Situationen: Als erstes brennt das Zollhäuschen auf der Brücke, sechs Wasserwerfer stehen drum herum, keinem fällt es ein zu löschen.

Nachdem die hohen Herren ins Kongresszentrum gebracht sind, zieht die Polizei an der Brücke wieder ab. Kleinere Gruppen schwarz Gekleideter rücken an und lassen sich erst einmal in der Lobby des Ibis-Hotels nieder, wo sie nach dem Whisky greifen. Im Hotel sind der Direktor und eine Angestellte sowie einige Gäste. Nachdem sich die Schwarzen gütlich getan haben, werfen sie die Möbel auf die Straße und entzünden ein Feuer. Danach setzen sie mit ein paar Brandbomben das ganze Hotel in Brand. Die ganze Zeit kreisen sechs Hubschrauber über dem Gelände, aber es braucht über eine Stunde, bis Polizei anrückt. Die ersten Löscharbeiten und Evakuierungsmaßnahmen müssen die Bewohner selber erledigen. Als die Feuerwehr kommt, beschränkt sie sich darauf, ein Übergreifen des Brandes auf benachbarte Häuser zu verhindern. Das achtstöckige Hotel brennt aus, ebenso die Touristeninformation und die Apotheke.

Besonders empfindlich trifft die Bewohner der Verlust der Apotheke. Darüber sind sie untröstlich, denn jetzt müssen sie in die Stadt fahren, um sich zu versorgen, und das geht nur mit dem Bus, der unregelmäßig fährt. Definitiv: Wenn unter den Brandstiftern einer ist, der meint, eine Wut auf das System zu haben, hat sie mit dem gemeinsamen Kampf an der Seite der Ausgegrenzten und Entrechteten nichts zu tun. Jedenfalls hatten sich die Brandstifter hervorragend vorbereitet, ihr Werk hatte nichts von einer spontanen Revolte, die wenigstens von ihnen kamen aus Straßburg und aus diesem Stadtteil schon gar nicht. "Unsere Jugendlichen haben sich schützend vor die Schule gestellt, damit die nicht auch noch angesteckt wird."

Die Brandstifter wurden bis heute nicht gefasst; an dem Samstag gab es trotz der zahlreichen Zerstörungen und der großen Übermacht der Polizeikräfte gerade mal 33 Verhaftungen. Hingegen nahm die Polizei zwei Tage vorher bei einem Angriff auf das Camp 300 Menschen fest, von denen sie die meisten wieder freilassen musste - nachdem sie in die Polizeiakte eingetragen waren.


Die Grünen haben eine parlamentarische Untersuchungskommission gefordert, viele fordern den Präfekten zur Rechenschaft; der hat Vorsorge getragen und zwei Tage nach der Demonstration um seine Versetzung gebeten, die ihm prompt gewährt wurde. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Straßburg fordert eine "Überprüfung der Kommandostruktur", Absprachen seien nicht eingehalten worden. Die Stadt fordert Schadenersatz von der Zentralregierung für die entstandenen Schäden. Sie hatte bei den Entscheidungen über den Umgang mit dem Gipfel und den Gegenaktivitäten nichts mitzureden.


*


Die Bilanz der NPA


Wenn man alle Menschen zusammenzählt, die am 4.4. zusammengekommen sind, um in Straßburg zu demonstrieren, kommt man auf etwa 30000; davon 8000-10000 aus Deutschland, von denen 6000-7000 in Kehl hängengeblieben sind; zusätzlich Delegationen aus Italien, Großbritannien, Spanien, der Schweiz und Griechenland.

Auf französischer Seite war die Mobilisierung ein Erfolg; denn hier ist die NATO seit dem Austritt Frankreichs aus ihrer militärischen Struktur kein Thema, und die antimilitaristische Bewegung wegen der Dominanz der PCF traditionell schwach. Das hat sich auch in Straßburg gezeigt: selbst linke französische Gewerkschaften, wie CGT oder SUD, waren kaum vertreten.

- "Division, tension, explosion" - zerstreuen, aufheizen, entladen sei der Dreiklang gewesen, der das Vorgehen der französischen Polizei bestimmte, sagt Yvan Lemaître, der für die NPA (Neue Antikapitalistische Partei) im Internationalen Koordinierungskomitee saß. Sie wollte verhindern, dass eine Großdemonstration den Kontrapunkt zu den NATO-Feierlichkeiten bildet, und zersplitterte die Demonstration in viele Einzelteile. Diese Strategie ist aufgegangen.

- Die französische Regierung reduziert die Straßburger Demonstration auf die "casseurs", und auf die Frage der Gewalt. Die Bilder von schwarzen Rauchsäulen und dem ausgebrannten Hotel kommen ihr gelegen, denn die sozialen Kämpfe nehmen im ganzen Land zu und werden zum Teil auch mit körperlichem Einsatz ausgetragen - wie die Festsetzung von Geschäftsführern von Firmen, die Arbeiter entlassen wollen. Die Regierung versucht, den sozialen Gehalt des Protests hinter einer regelrechten Kampagne "gegen die Gewalt" zu verbergen, die sie begleitet mit demagogischen Angriffen auf die "großen Vermögen", die es angeblich zu stoppen gelte. Das betont sie aber ein bisschen zu stark; und weil das Land von einer Protestwelle überrollt wird, und weil zudem in Straßburg offensichtlich war, dass nicht nur "Vandalen" am Werk waren, sondern auch eine Polizei, die sie hat gewähren lassen, während sie friedliche Demonstranten an allen Ecken behinderte und mit Gas und Gummigeschossen angriff, kann diese Kampagne auch nach hinten losgehen.

- Die Demonstration hat unter dem Mangel an einer kompakten Demonstrationsleitung und dem Fehlen eines Ordnerdienstes gelitten, der in der Lage gewesen wäre, die Demonstration zusammenzuhalten und zu führen. Ein gemeinsamer Ordnerdienst des Bündnisses war verabredet, kam aber nicht zustande. Die Vertreter von PCF und Parti de Gauche (PG) liefen zu Anfang vorne mit, haben sich jedoch im Verlauf der Demonstration abgesetzt. Der Ordnerdienst der NPA war schließlich nur noch in der Lage, für einen geordneten Rückzug zu sorgen.

"Die Notwendigkeit, dass wir uns selbst organisieren, wird gewaltig unterschätzt", sagt Lemaître. "Darin zeigt sich eine Schwäche der sozialen Bewegung. Hätte die CGT wirklich mobilisiert (und ihren Ordnerdienst mitgebracht), wäre die Sache anders verlaufen. Wir müssen in der Lage sein, über unsere Mobilisierung selber bestimmen zu können; das ist nicht nur eine organisatorische, es ist auch eine politische Frage."

- Für die NPA ist eine Quintessenz aus Straßburg deshalb die Stärkung ihrer Strukturen auf allen Gebieten, auch auf dem des Straßenkampfs. "Das gehört mit zu der Debatte, die wir gerade führen: 'Welche Partei wollen wir?' Wir wollen mehr Demokratie, mehr Offenheit, aber auch mehr Zusammenhalt und Disziplin - es ist nicht leicht, das übereins zu kriegen. Die Debatte darum führen wir jetzt innerhalb und außerhalb der NPA."

Von den Parteien der Rechten wird die NPA heftig angegriffen, sie sei zum "Schaufenster der casseurs" geworden, weil sie es ablehnt, die Lesart der Regierung zu übernehmen und den "Schwarzen Block" für den Verlauf der Demonstration verantwortlich zu machen; sie unterstreicht vor allem die Verantwortung des Präfekten und der Regierung. PCF und PG hingegen machen beide Seiten gleichermaßen verantwortlich. Politisch setzt sich die NPA jedoch deutlich von den "casseurs" ab, die "letzten Endes nicht politisch handeln", weil sie nicht für die versammelte Menge denken.


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KASTEN

Auf deutscher Seite

Auf der deutschen Rheinseite waren fast 15.000 Polizisten und 600 Soldaten zusammengezogen. Der Geschäftsführer der DFG-VK, Monty Schädel, klagte, die deutsche Polizei habe die Demonstrationen "mit allen Mitteln verhindern" wollen.

Das Regierungspräsidium habe angedroht, "gnadenlos" gegen Proteste vorgehen zu wollen. Vor allem der Landespolizeipräsident, Erwin Hetger, habe erklärt, seine Beamten würden die Demonstranten "verarbeiten", auf der Brücke von Kehl nach Straßburg werde es "Selektionen" geben. Von einem kooperativen Verhalten der deutschen Polizei keine Spur: "die Polizei versuchte nicht einmal, sich mit uns abzusprechen".

Am Tag des Geschehens führte Tobias Pflüger die Verhandlungen mit der Polizei. Sein Fazit: "Als wir in Kehl mit der Auftaktkundgebung zu Ende waren und auf die französische Seite rüber wollten, war der Weg frei. Zwar war inzwischen einiges in Brand gesteckt worden, aber die Brücke war auf französischer Seite nicht blockiert. Es war die deutsche Polizei, die uns nicht rüber gelassen hat. Dabei gab es zwischen den verschiedenen Polizeieinheiten Streit. Die Bundespolizei wäre bereit gewesen, uns rüber zu lassen, ihr leuchtete unser Argument ein, es würde die Situation beruhigen, wenn mehrere tausend Demonstranten die Brandstifter abdrängten und die gemeinsame Demonstration endlich zusammentreffen und losziehen könnte. Doch die Sondereinheit, die für Straßburg gebildet worden war - ähnlich der Kavala in Heiligendamm - war dagegen; und sie setzte sich durch."


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5, 24. Jg., Mai 2009, Seite 6-7
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
(VsP, www.vsp-vernetzt.de)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009