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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1299: Arbeitszeitverkürzung ist machbar


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7/8 - Juli/August 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Arbeitszeitverkürzung ist machbar
Fünf Tage die Woche sind genug!

Tobias Michel stellt einen neuen Ansatz zur Durchsetzung kürzerer Arbeitszeiten vor


Es ist lange her, dass die Gewerkschaften in Deutschland auf die zunehmende Arbeitslosigkeit mit einer Kampagne für Arbeitszeitverkürzung reagiert haben. Die flächendeckende Durchsetzung der 35-Stunden-Woche zog sich lang und länger hin. Durch Arbeitsverdichtung und Produktivitätssteigerung ausgehöhlt blieb sie den Belegschaften eher als Belastung denn als Gewinn in Erinnerung. Seither war ein neuer Anlauf in Richtung einer 30-Stunden-Woche kaum mehr möglich, obwohl für die einen der Arbeitstag länger wird, während andere auf der Straße stehen.
Tobias Michel geht seit Jahren einen anderen Weg; er setzt an den Forderungen seiner Kolleginnen und Kollegen im Betrieb an. Im Gespräch mit der SoZ schildert er, wie er vorgeht und wohin ihn sein Weg führt.
Tobias Michel ist Betriebsrat im Krupp-Krankenhaus in Essen.


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SOZ: Die Ver.di-Linke bereitet für den 10./11. Oktober in Dortmund eine bundesweite Konferenz zur Thema Arbeitszeit vor. Gewinnt das Thema in der Krise wieder Auftrieb, nachdem sich selbst Gewerkschafter jahrelang geweigert haben, es nochmal anzupacken?

TOBIAS MICHEL: Auf unserer Konferenz im Oktober wird es um Arbeitsverdichtung, unbezahlte Arbeit und den Umgang mit Flexibilisierung gehen - die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung steht in diesem Zusammenhang. Das ist etwas anderes als die Diskussion um die Einführung der 30-Stunden-Woche, für die Attac vor ein paar Jahren mit einer Arbeitszeitkonferenz geworben hat. Ansätze der letzteren Art sind in den letzten Jahren alle ins Leere gelaufen - hauptsächlich deshalb, weil sie am Schreibtisch konzipiert waren, statt das Thema von unten, von der betrieblichen Wirklichkeit her zu entwickeln. Immer wieder haben auch Gewerkschaftstage beschlossen: Arbeitszeit ist ein ganz wichtiges Thema und muss in die Tarifrunde, aber alle Versuche in diese Richtung scheiterten regelmäßig schon im Kreis der Vertrauensleute.

Sicher, die Krise ruft nach einer neuen Initiative für Arbeitszeitverkürzung. Die meisten Gewerkschaftsaktiven aber mögen sich auf die Detaildebatte, die dafür mit den Kolleginnen und Kollegen zu führen ist, nicht einlassen.


SOZ: Wie stellt sich eine Debatte um Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst dar? Woran lässt sich anknüpfen?

TOBIAS MICHEL: Ich schicke vorweg, dass meine Sichtweise beschränkt ist, weil ich in der Klinik das männliche Vollzeitarbeitsverhältnis wenig erlebe - außer bei Ärzten. Ich arbeite in einem Bereich, in dem es viele Frauen und massenhaft Teilzeitkräfte gibt. Die wollen nicht 30 Stunden in der Woche arbeiten, sondern nur 20. Für sie ist entscheidend, dass mehr Personal eingestellt wird. Dafür haben am 25. September 2008 130.000 Beschäftigte aus den Krankenhäusern in Berlin demonstriert.

Die Debatte um ein neues Vollzeitarbeitsverhältnis mit einer höheren Stundenzahl, als sie jetzt haben, geht völlig an ihnen vorbei. Wenn einige Ärzte 66 Stunden im Wochendurchschnitt arbeiten, andere Beschäftigte aber nur 5 oder 10 Stunden und daran auch nichts umverteilen wollen, dann bleibt es völlig abstrakt zu erklären: Wir wollen für alle die 30-Stunden-Woche.

Im Gesundheitswesen, aber auch im Einzelhandel, spielt nicht so sehr die Menge der Arbeitsstunden pro Woche die Rolle, sondern die Frage, wie sich die Arbeitsstunden auf die Tage verteilen, und die Gewalt darüber: also, dass ich selber bestimmen kann, wann ich arbeite. Das Moment der Anti-Flexibilisierung, oder besser gesagt: Die Durchsetzung einer Flexibilisierung entlang der Wünsche der Beschäftigten ist diesen viel wichtiger.


SOZ: Hängt der Wunsch nach mehr Personal nicht auch damit zusammen, dass die Arbeitsdichte so zugenommen hat?

TOBIAS MICHEL: Das können wir im öffentlichen Dienst ganz schlecht messen. Über Arbeitsverdichtung klagen die Kolleginnen seit dreißig Jahren, sie ist aber nicht der Ausgangspunkt für ihre gegenwärtige Frustration.

Viel ärger sind ihnen die ständigen Übergriffe auf ihre Freizeit, z.B. solche Anrufe: "Morgen sind wir zu wenige, du musst kommen." Dann erleben sie, dass sie ihre Freizeit letzten Endes doch nicht als freie Zeit zur Verfügung haben; der Arbeitgeber behandelt sie als ein Reservoir zu seiner Verfügung, damit er das Personal nach seinen Bedürfnissen einteilen kann. Er arbeitet ohne Reserven, immer am personellen Limit, und lässt sich das aus der Freizeit der Beschäftigten subventionieren. Er greift die Menge ihrer Arbeitszeit an - aus 25 Wochenstunden werden leicht 30 -, aber auch ihre Verteilung.


SOZ: Wie bringst du da Arbeitszeitverkürzung ins Spiel?

TOBIAS MICHEL: Die Forderungen der Kolleginnen lassen sich auf einen Nenner bringen: Wir wollen die Fünf-Tage-Woche.

Diese Forderung ist in Deutschland recht alt, sie kommt aus den 50er Jahren. "Samstags gehört Vati mir", plakatierte der DGB zum 1. Mai 1956. Mit Erfolg - die Fünf-Tage-Woche kam in den Tarifvertrag: erst im Steinkohlebergbau, dann bei Versicherungen und Banken, später in der Holzverarbeitung und in der Druckindustrie. Doch gesetzlich darf man in Deutschland bis zu sechs Tagen arbeiten lassen. In der Regel ist der Sonntag frei; ist er das nicht, muss es ein anderer Tag sein.

Die Wirklichkeit sieht noch ganz anders aus. In ganz vielen Branchen arbeiten die Beschäftigten heute mehr als fünf Tage hintereinander; viele beschweren sich: "Ich will in zwei Arbeitswochen wenigstens vier freie Tage haben, ich will nicht zwölf Tage hintereinander zur Schicht und dann nur zwei Tage frei haben."

So wird in vielen Altenheimen aber gearbeitet. Viele gehen aus Verzweiflung auf Teilzeit. Der Arbeitgeber bietet dann meistens an, die Tagesschicht zu kürzen, also statt sechs Stunden nur vier Stunden am Tag zu arbeiten. Dann arbeiten sie immer noch zwölf Tage durch, aber immer nur kurze Schichten. Man kann sich vorstellen, was das bedeutet, zwölf Tage hintereinander vier Stunden zu arbeiten, womöglich noch mit einem Anfahrtsweg von ein bis zwei Stunden, und dann zwei Tage frei zu haben.

Die Leute werden stinksauer, wenn sie ihre freie Zeit nicht sinnvoll planen können. Die Forderung richtet sich deshalb auf mehr freie Tage - das ist eine ganz andere Situation als Mitte der 80er Jahre, wo die Metaller und Drucker für eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit gekämpft haben. Für Jugendliche und vor allem für Teilzeitkräfte ist das Bezugsmodell die Fünf-Tage-Woche. Das ist eine genauso magische Zahl wie die 30-Stunden-Woche.


SOZ: Die hohen Schulden, die die Bundesregierung derzeit macht, um das Vermögen der Kapitalanleger zu retten, drohen, als neue drakonische Sparwelle auf den öffentlichen Dienst zurückzuschlagen. Dann wird es auch mit der Finanzierung von Arbeitszeitverkürzung schwieriger, oder?

TOBIAS MICHEL: In den Bereichen, wo wir mehr qualifizierte Beschäftigte haben, werden wir schnell die Debatte bekommen: Dann sollen die Erwerbslosen doch bei uns eingestellt werden, denn unsere Arbeit ist hart und wir müssen sie alleine leisten. Und ich würde lieber zu zweit Nachtwache schieben als allein. Dabei gibt es doch Menschen da draußen, die auf Arbeit warten. Wenn in den nächsten Jahren wieder Arbeitsplätze im Gesundheitswesen abgebaut werden sollen, wird die Diskussion um Neueinstellungen also anders geführt werden als bisher. Die Beschäftigten kümmern sich nicht um die gesamtwirtschaftliche Lage. Sie sagen: Wir sind zu wenige, da müssen welche mithelfen kommen.

In den letzten Jahren wurden sehr viele Schutzbestimmungen für Arbeitszeiten in die Tarife und Gesetze hineingeschrieben - gleichzeitig wurden fast jedes Mal Öffnungsklauseln definiert, wie man sie umgehen kann. Es steht drin, dass wir die Fünf-Tage-Woche haben, aber wir dürfen auch an mehr Tagen arbeiten.

Wir müssen also diese Öffnungsklauseln umgehen und die Beschäftigten stark machen, dass sie ihre Arbeitszeit nur noch in ganzen Schichten und nur noch an fünf Tagen in der Woche nehmen, so dass sie tatsächlich nicht mehr als 42 Stunden die Woche arbeiten - statt darüber zu diskutieren, ob sie nicht auch 55 oder 60 Stunden arbeiten können. Die Arbeitszeit ist aus ganz individuellen, "egoistischen" Gründen zu verkürzen, "weil ich nicht mehr kann" - nicht, weil es gut wäre für die Gesellschaft, wenn die Arbeitszeiten generell radikal gekürzt und anders verteilt würde.


SOZ: Von wem werden solche Initiativen getragen?

TOBIAS MICHEL: Auf jeder Gewerkschaftskonferenz steht jemand auf und sagt: Arbeitszeitverkürzung ist ganz wichtig, das muss wieder sein, wenn die Gelegenheit günstiger ist und die Beschäftigten sich nicht so sperren.

Gleichzeitig gibt es unter den Gewerkschaftsaktiven eine ganz tiefe Abneigung gegenüber Arbeitszeitfragen, weil sie so schwierig sind. Da muss man sich mit Fragen herumplagen wie: "Ich mache dauernd Überstunden und weiß nicht, wo die herkommen." Oder: "Meine Chefin befiehlt mir, dass ich schon den dritten Sonntag hintereinander arbeiten komme. Darf sie das?" Das sind alles sehr sperrige und komplizierte Fragen. Die Forderung "8% mehr Gehalt für alle" habe ich demgegenüber schnell durchargumentiert, da muss ich mich nicht tief in die Materie hinein knien.

Darum ist die Arbeitszeitpolitik in den letzten Jahren so sträflich vernachlässigt worden. Es gibt wenige, die sagen: Das machen wir zum Zentrum politischer und betrieblicher Mobilisierung.


SOZ: Gibt es denn auf betrieblicher Ebene positive Beispiele, wie eine Kampagne für Arbeitszeitverkürzung greifen kann?

TOBIAS MICHEL: Wir Ver.di-Linken im Gesundheitswesen - freigestellte Betriebsräte, Vertrauensleute - haben 2002 mit der Losung angefangen: "Mein Frei gehört mir!" Da ging es darum, dass der Arbeitgeber zu Hause anruft und sagt: "Morgen wird es eng, es ist jemand krank geworden, ich mache eine Dienstverpflichtung und ordne dir an: Was du auch vorhast mit deiner Freizeit, du musst trotzdem kommen." Die Kolleginnen haben gefragt: Darf der Arbeitgeber das? Und wir haben in der Rechtsöffentlichkeit durchgesetzt, dass das verboten ist.

Heute sind sich alle einig, so was ist rechtsunwirksam. Nicht, weil es irgendwo gestanden hätte, sondern weil wir es behauptet haben, mit so einfachen und einleuchtenden Argumenten, dass sich das zu einer Rechtsposition verfestigt hat.

Inzwischen weiß es sogar die evangelische Kirche: Das Direktionsrecht ist an dieser Stelle verbraucht, der Arbeitgeber kann einen Schichtplan, den er geschrieben hat, nicht ändern.

Das hat uns Mut gemacht, dass wir mit neuen Aktionen noch andere Rechtspositionen durchsetzen können.


SOZ: Die wären zum Beispiel?

TOBIAS MICHEL: Die nächste Forderung, die in der Luft liegt, ist die, dass wir keinen Tag länger als fünf Tage in der Woche arbeiten. In Altenheimen und vielen anderen Bereichen ist die Fünf-Tage-Woche immer noch ein Traum; ihn zu verwirklichen ist möglich. Von Betrieb zu Betrieb wollen wir neue Dienstpläne schreiben, die beinhalten: Innerhalb von 14 Tagen sind mindestens vier Tage frei.

Danach geht es um die Forderung, dass mein Dienstplan vier Wochen vorher aushängt und dass ich mich auf ihn verlassen kann. Auch diese Forderung ist in einer Zeitspanne von drei bis sechs Monaten durchsetzbar - das zeigen unsere Erfahrungen in den Betrieben.


SOZ: Ihr versucht also Rechte, die den Beschäftigten prinzipiell zustehen, die aber ständig angeknabbert werden, tatsächlich zu behaupten, und zwar auf betrieblicher Ebene?

TOBIAS MICHEL: Rechte im Betrieb sind nicht etwas, was man hat, sie werden immer erst in einer Auseinandersetzung formuliert. Wir haben Anknüpfungspunkte im Arbeitsschutzgesetz, im BGB, in anderen Gesetzen. Aber die sind prekär. Das Arbeitszeitgesetz zum Beispiel erlaubt, uns 32 Tage hintereinander arbeiten zu lassen, ohne einen freien Tag dazwischen. Die Beschäftigten beschweren sich oft schon, wenn sie zehn oder 15 Tage hintereinander arbeiten müssen, und fragen: Wo steht das?

Ganz oft fragen sie auch: Wo ist eigentlich das Dienstplangesetz? Sie glauben, es gibt für die Erstellung der Dienstpläne Regeln, die irgendwo kodifiziert sind. Wir versuchen zu erklären, dass es das nicht gibt, dass wir solche vielmehr im Betrieb erst aufstellen müssen. Das tun wir über die Interessenvertretung, über die Gewerkschaftsarbeit, über Flugblattaktionen, gemeinsame Verweigerungsaktionen. Damit sagen wir: Das muss Standard werden, alles andere ist gesundheitsschädlich, darf nicht gemacht werden, will ich nicht, verweigern wir.


SOZ: Das mobilisiert eine Belegschaft ganz gehörig...

TOBIAS MICHEL: Die Aktionsformen sind nicht ganz so spektakulär, wie wenn man den Betrieb besetzt und sich ans Betriebstor kettet wie in den wilden Streiks der 70er Jahre. Aber sie führen dazu, dass zumindest ganze Abteilungen, ganze Bereiche über mehrere Stunden stillgelegt werden - etwa durch kollektive Sprechstunden, in denen die Kolleginnen so lange die Arbeit verweigern, bis über die Frage der Bezahlung von Überstunden oder des sicheren Feierabends nach 16 Uhr eine Vereinbarung getroffen worden ist.

Es handelt sich immer um Forderungen, die darauf abzielen, dass es den Beschäftigten danach besser geht. Aber sie sind vollständig auch in der Logik der Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf mehr Hände abbildbar - denn es gibt ja draußen genug Menschen, die von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind.


SOZ: Wieviele solcher Aktionen habt ihr in deinem Krankenhaus durchgeführt, bis ihr etwas durchgesetzt habt?

TOBIAS MICHEL: Mein Krankenhaus fällt ein wenig aus dem Rahmen ... Unser spektakulärster Erfolg war der: Wenn eine Beschäftigte an ihrem freien Tag freiwillig einspringt, weil der Arbeitgeber eng ist mit Personal, und die Beschäftigte hat einen befristeten Arbeitsvertrag, dann wird dieser mit ihrem Einspringen automatisch entfristet. Das hat nicht nur im Betrieb, sondern auch weit darüber hinaus eine elektrisierende Wirkung gehabt. Denn unser Betriebsrat legt sich offen, im Internet unter www.kruppwirdkirche.de. Leider hat der Arbeitgeber dann gesagt: OK, dann deklariere ich mich mal um zu einem kirchlichen Betrieb... (siehe SoZ 3/06).


SOZ: Das ist ja auch in die Hose gegangen.

TOBIAS MICHEL: Richtig, wir haben uns in einem mehr als drei Jahre dauernden Konflikt schlussendlich erfolgreich behauptet. Das heißt aber auch: Wir können in einem Betrieb nicht sehr viel weiter als einen Schritt vor der Branche liegen. Wenn wir zu stark sind, versucht der Arbeitgeber, den Betriebsrat auszuhebeln oder über Outsourcing die Belegschaft zu spalten. Als einzelne, betriebliche sind solche Teilerfolge nur eine Zeitlang zu halten; wir müssen sie schon verallgemeinern. Das versuchen wir über unsere Schichtplanfibel, über Seminare usw.

Ich sehe mich auf einer niemals endenden Tournee - wie Bob Dylan - aber durch die Betriebe, wie ein Mantra die gleichen Botschaften wiederholend: Pausen, die keine echten Pausen sind, muss der Arbeitgeber voll bezahlen - das macht pro Woche zweieinhalb Stunden Arbeitszeitverkürzung; niemand darf allein arbeiten, das haben wir schon in der Ausbildung gelernt: nie einen Patienten allein umbetten und sich dabei den Rücken kaputt machen, nie mit Dementen allein bleiben, immer jemanden in Rufweite haben, damit man sich schützen kann, auch damit es bei etwaigen Beschuldigungen Zeugen gibt. All das führt dazu, dass der Arbeitgeber sagt: Dafür habe ich nicht genug Personal. Und dann schreien wir ganz laut: Dann musst du es eben einstellen!


SOZ: Spricht sich das rum?

TOBIAS MICHEL: Unter www.schichtplanfibel.de wenden sich heute auch Kollegen aus anderen Branchen an uns: Nachtwächter, Verkäuferinnen, Beschäftigte in Verwaltungen - da sind die Arbeitszeiten so flexibel, dass die Kollegen ihren Urlaubsanspruch nicht mehr richtig umrechnen können. Die schrankenlose Flexibilisierung der Arbeitszeit ist nicht nur im Gesundheitswesen verbreitet, sondern überall im öffentlichen Dienst. Die Kolleginnen googlen nach den Problemen, stoßen auf unser Angebot und stellen dort ihre Fragen. Ganz oft sind es zunächst einmal Fragen nach der rechtlichen Sicherheit: "Wo steht das?" Sie suchen etwas, das sie ihrem Vorgesetzten unter die Nase halten können, und wundern sich dann, wenn der erwidert: "Das steht da zwar, aber..."

Wir haben auch Druckmaterial hergestellt: Hefte, Broschüren, Flugblätter - die Nachfrage ist enorm. Wir sind mit einer Auflage von 5000 gestartet, heute sind wir bei mehr als zehnmal so viel. Man bekommt sie bei Ver.di, oder auf Veranstaltungen, und ich erlebe immer wieder, wie sie im Dutzend eingesteckt werden, um sie in der Abteilung zu verteilen.


SOZ: Da gibt es Unterstützung von Ver.di?

TOBIAS MICHEL: Der Fachbereich macht gerade bundesweit eine Kampagne "Altenpflege in Bewegung" Eine wichtige Sache, ein drängendes Problem, aber wir waren alle etwas hilflos, wie wir denn das praktisch runterbrechen. Dann kam recht bald die Order: Ach, drucken wir doch die Heftchen mit der Losung "Mein Frei gehört mir!" noch einmal nach, dann können die Kollegen Aktionen wie in den letzten Jahren wiederholen!

"Mein Frei gehört mir!" und die Schichtplanfibel gehören heute also zum Grundfundus gewerkschaftlicher Aktivisten, damit können sie zeigen: So könnt ihr in Sachen Arbeitszeit wieder in die Offensive kommen.


SOZ: Du arbeitest vorwiegend mit Kolleginnen zusammen. Wie passt ihre Forderung nach weniger Arbeitstagen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie?

TOBIAS MICHEL: Wir arbeiten im Gesundheitswesen in drei Schichten. Die Kolleginnen suchen sich Schichtmodelle, die vereinbar sind mit ihren familiären Verpflichtungen, mit ihrem Lebensmittelpunkt, der zumeist zu Hause liegt. Entweder sie suchen sich eine zusätzliche Arbeit, die nicht zu sehr stört, oder sie arbeiten als Nachtwache, kommen morgens nach Hause, wecken die Kinder, bringen sie in die Schule, schlafen drei, vier Stunden, stehen wieder auf, machen das Mittagessen, legen sich nochmal hin und gehen dann zur Arbeit. Das sind schreckliche Arbeitsbedingungen, aber jedes andere Angebot, sagen sie, sei nicht kompatibel mit ihren familiären Verpflichtungen.


SOZ: Und wenn sie keine Nachtwache machen?

TOBIAS MICHEL: Dann wollen sie erst ihr Kind in den Kindergarten oder zur Schule bringen und sind durchaus bereit, um 8 Uhr mit der Schicht zu beginnen - aber im Altenheim geht es um 6.30 Uhr los, im Krankenhaus um 6 Uhr. Ein Renner bei den Aktionen in den Betrieben ist für die Kolleginnen deshalb das Teilzeitbefristungsgesetz - es regelt, dass eine Beschäftigte die Arbeitszeit nicht nur verkürzen kann, sondern auch selber über die Verteilung der Arbeitszeit über die Wochentage und die Schichten bestimmen kann.

Das sind typische Probleme, die eher Frauen als Männer haben. Männer sind eher bereit, länger zu arbeiten, denn sie sehen sich als Ernährer der Familie, oft genug nervt die Familie sie aber, dann gehen sie lieber arbeiten, um den häuslichen Zwängen zu entfliehen.

Das Teilzeitbefristungsgesetz von Ende 2000 ist eins der wenigen Wahlversprechen, das von den Sozialdemokraten eingelöst wurde. Die Financial Times Deutschland nannte es damals ein "Geschenk für freizeitbewusste Arbeitnehmer" In dem Gesetz stecken natürlich auch die Arbeit auf Abruf und andere negative Flexibilisierungsmaßnahmen. Doch mit mehreren der anderen Paragrafen können wir arbeiten.

Wenn ich auf Seminaren darin lesen lasse und das Gesetz mit den Betriebsräten in ihren Alltag übersetze, sagen sie überrascht, dies Gesetz sei ja irgendwie zu schön, um so zu sein wie ich es darstelle. Das ist generell ein Problem bei Betriebsräten und Mitarbeitervertretungen. Wenn ich ihnen vorlese, was sie für Rechte haben, sagen sie: Das ist unrealistisch, es sind zu viele.

Wir haben mehr geschriebene Rechte, als wir nutzen.

Ein Beispiel: Im Krupp-Krankenhaus stehen uns bei 15 Betriebsräten 3 pauschal Freigestellte zu. Im Nachbarort bei Thyssen Krupp Eisenbahn & Häfen gibt es 11 Betriebsräte; nur 2 Freigestellte stehen dem Betriebsrat zu, er hat aber 13 (die ersten beiden Ersatzmitglieder sind ebenfalls freigestellt). Das steht überhaupt nicht im Gesetz. Warum macht es der Arbeitgeber aber? Die Personalkosten sind dort relativ gering, aber kurzfristige Produktionsentscheidungen will eine Geschäftsleitung nicht auf die lange Bank schieben.

Allein die angezogene Handbremse bei der Interessenvertretung: "Über die Überstundenregelung können wir in zwei Wochen mal reden", bringt den Chef auf Trab: "Pass mal auf, darüber können wir auch gleich reden, ich stell euch jetzt nämlich alle frei. Setzt euch in den Raum, aber ich will sofort eine Entscheidung." Das könnte man in jedem Krankenhaus und jedem Altenheim auch machen - man muss es nur hart durchspielen. So haben wir bei uns im Betrieb bis zu zwei zusätzliche Betriebsräte für notwendige Aufgaben auf dem Spielfeld.

Es ist also möglich, sich weit über das festgesetzte Maß hinaus Rechte zu erobern, man kann aber auch weit darunter bleiben, wenn ein Betriebsrat sich in den Gesetzen häuslich einrichtet. Die allermeisten Betriebsräte bestimmen über Schichtpläne und Arbeitszeiten nicht mit, obwohl das eine der ersten Sachen ist, die sie auf Betriebsräteschulungen lernen. Sie meinen immer: Das ist doch klar, dass das nicht geht.

Das ist ein Phänomen: Da fehlt nicht das Recht, sondern das Kräfteverhältnis und der bewusste Wille, um das Recht in Anspruch zu nehmen.


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Kleine Geschichte der Arbeitszeit
Ein Flugblatt von Ver.di

Autor: Tobias Michel


Nicht nur die Uhr kann Arbeitszeit messen

Die Gestirne, die Jahreszeiten und menschliche Grenzen geben dem Leben einen Rhythmus: Der Augenblick, der Tagesmarsch, das Tagewerk in der Landwirtschaft...
Im 13. Jahrhundert wird die mechanische Uhr erfunden, in Klöstern und Städten beginnen Turmuhren, das soziale Leben zu takten.
Im 17.Jahrhundert wird das Wort "pünktlich" bekannt.
Im 18. Jahrhundert werden Uhren massenhaft verbreitet. Sie genügen nicht mehr an den Kirchtürmen, statt zum Gebet, rufen sie nun zur Arbeit in die Werkshallen.
1901 und 1902 zieht Frederick W. Taylor mit der Stoppuhr durch den Betrieb und zerlegt die Arbeitsschritte.


Arbeitsschutz

Mit der Industrialisierung wird die Sonntagsarbeit breit eingeführt, die Schichten werden länger und länger, wöchentlich sind 80-90 Stunden üblich.
1828 Generalleutnant Horn klagt, Nachtarbeit der Kinder gefährde deren spätere Wehrfähigkeit.
1839 In Preußen dürfen Kinder erst ab 9 Jahren arbeiten, bis 12 Jahre nicht mehr als 10 Stunden; für Jugendliche wird Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit verboten.
1853 Fakultative Fabrikinspektionen werden eingeführt, bleiben aber wirkungslos.
1878 Eine Novelle zur Gewerbeordnung regelt Fabrikinspektionen verbindlich in allen deutschen Bundesstaaten.
1891 Das Arbeiterschutzgesetz verbietet grundsätzlich Sonn- und Feiertagsarbeit, Kinderarbeit unter 13 Jahren und Nachtarbeit für Arbeiterinnen. Die Gewerbeaufsicht wird eingeführt.
1908 Für Frauen wird die Schichtlänge auf 10 Stunden begrenzt.


Die Arbeitszeitordnung von 1938 lässt bis 1994 zu:

- werktäglich 8 Stunden (Paragraph 3), also im Wochendurchschnitt 48 Stunden, plus die als Arbeit unbeachteten (weil ja nicht werktäglichen) sonntäglichen Arbeitsstunden, falls sie von der Gewerbeordnung in den vielgestaltigen Ausnahmen des Paragraph 105b-g gestattet wurden.


100 Jahre Arbeitszeit im Gesundheitsdienst

1908 Die Schutzbestimmungen der Gewerbeordnung nehmen in Paragraph 154 ausdrücklich die Heilanstalten aus; die Arbeitszeit der Krankenpflege ist unbeschränkt.
1910 Von den in der Krankenpflege Beschäftigten arbeiten ununterbrochen täglich:
46,2% zwischen 12 und 14 Stunden; 39,3% zwischen 14 und 17,5 Stunden.
"In den Irrenanstalten lagen die Verhältnisse noch ungünstiger, dort galt teilweise totale Anwesenheitspflicht, d.h. das Personal aß und schlief in den Sälen der Kranken, wobei die Betten des Personals oft mit Gittern gegen die Angriffe der Geisteskranken geschützt waren" (C.Bischoff, in: Frauen in der Krankenpflege, Campus-Verlag).
Oft schließen sich an diese Schichten mehrmals wöchentlich noch halbe oder ganze Nachtwachen mit Haus- und Reinigungsarbeiten für die Frauen an. Danach arbeiten sie ohne Ruhezeit direkt weiter. Das bedeutet Arbeitszeiten von 30-40 Stunden in einem Stück.
Üblich sind pro Woche ein halber Tag arbeitsfrei sowie jeden 3. oder 4. Sonntag zusätzlich ein halber oder ganzer Tag. Oft ist "Ausgang" nur mit einem Erlaubnisschein der "Mutter" Oberin gestattet.
1924 Die Arbeitszeit des Pflegepersonals in Krankenpflegeanstalten wird gesondert von den allgemeinen Arbeitsschutzbestimmungen (AZO) in der KrAZO (Verordnung über die Arbeitszeit in den Krankenpflegeanstalten vom 13. Februar 1924) geregelt. Bis 1996 gelten diese acht Paragrafen fort. So sind bis zu 60 Stunden im Wochendurchschnitt erlaubt.
1956 Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 60 Stunden im Einsatz.
1961 Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 48 Stunden im Einsatz.
1970 Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 45 Stunden im Einsatz.
1974 Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 40 Stunden im Einsatz und damit erstmals nicht länger als die übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
1990 Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 38,5 Stunden im Einsatz.
1994 Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes gelten nun erstmals einheitlich auch für das Gesundheitswesen, doch sie enthalten weiterhin zahlreiche Ausnahmen für Krankenhäuser und andere Einrichtungen zur Behandlungen, Pflege und Betreuung von Personen. Für Ärzte und Pflegepersonal erlaubte eine Übergangsvorschrift, das ArbZG erst ab dem 1. Januar 1996 anzuwenden. Das Nachtarbeitsverbot für Frauen wird aufgehoben.
Frauen dürfen auch ununterbrochen bis zu 6 Stunden eingesetzt werden. Die Begrenzung auf 1 Überstunde über die betriebsübliche Schichtlänge hinaus (Paragraph 17 AZO) entfällt.
2000 Im SIMAP-Urteil stellt das EuGH fest, dass die Schutzbestimmungen für Arbeitszeit auch dann vorliegen, wenn diese Arbeitszeit "Bereitschaftsdienst" genannt wird.
2006 Angestellte an den Unikliniken setzen in einem mehr als 16 Wochen langen Streik durch, dass ihre Arbeitszeit bei 38,5 Stunden im Wochendurchschnitt bleibt. Zugleich wird die Arbeitszeit der Mehrzahl der übrigen Angestellten auf fast 40 Wochenstunden angehoben.
2006 Nach einem Streik der Beschäftigten im ärztlichen Dienst werden vom Marburger Bund und von Ver.di für diese Gruppe Regelarbeitszeiten von 42 Wochenstunden tariflich festgelegt.
Über Opt-out-Regelungen werden hier bis zu 66 Stunden im Wochendurchschnitt möglich: "Die Tarifvertragsparteien gehen davon aus, dass es für die Vereinbarung einer durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von bis zu 66 Stunden einen Bedarf geben kann" (Sonderregelung für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken).
2008 In den Altenheimen und in der Behindertenpflege wird die Arbeitszeit um 30 Minuten auf 39 Stunden verlängert.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.7/8, 24.Jg., Juli/Aug. 2009, Seite 8-9
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven
(VsP, www.vsp-vernetzt.de)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2009