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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1314: Bildung ist kein Nürnberger Trichter


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9 - September 2009
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Bildung ist kein Nürnberger Trichter
Eine Nachlese des Bildungsstreiks

Von Klemens Himpele


Im Juni dieses Jahres demonstrierten und streikten Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Studierenden für eine andere Ausrichtung der Bildungspolitik. Die Beteiligung an den Protesten war enorm und hat die Erwartungen weit überstiegen.


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Offensichtlich ist es den Initiatoren des "Bildungsstreiks" gelungen, die sich seit Jahren zuspitzenden Probleme so zu artikulieren, dass sich ein erheblicher Teil der Betroffenen den Protesten anschließen konnte und wollte. Die breite Mobilisierung konnte zumindest für eine partielle Politisierung genutzt werden.

Der "Bildungsstreik" wurde lange im Voraus geplant: von Aktivistinnen und Aktivisten, Studierenden- und Schülervertretungen, Verbänden und Gewerkschaften. Anders als seine Vorläufer 1989 (UNiMUT), 1997 (Lucky Streik) und die Anti-Gebühren-Proteste um das Jahr 2003 ist er nicht aus spontanem Anlass entstanden - dadurch haben sich neue organisatorische Perspektiven eröffnet. Zum einen gelang es erheblich besser, Studierende sowie Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu Protesten zu mobilisieren und ein breites Bündnis zu schmieden. Zum anderen wurde der Streik terminiert - er begann überall mehr oder minder zeitgleich - und zeitlich auf eine Woche befristet. Damit wurde ein langsames Absterben der Aktivitäten - etwa wegen beginnender Ferienzeiten oder wegen des drohenden Verlusts eines Semesters (Prüfungszeit), wie es bei Studierendenprotesten in der Vergangenheit immer zu beobachten war - verhindert. Die Befristung auf eine Woche war insofern ein Zugeständnis an die Realität der zunehmenden Anwesenheitspflichten und erhöhten Prüfungsdichte. Denn wie groß der Anteil der Betroffenen ist, die trotz zeitlicher Verzögerungen bis zum Studienabschluss bereit wären zu protestieren, ist zumindest unklar.


Was wollten die Studierenden?

Worum aber ging es beim "Bildungsstreik"? Es ist kaum möglich, eine einheitliche Linie für alle Streikveranstaltungen herauszudestillieren, dennoch lassen sich einige Themen erkennen, die sich als eine Art roter Faden durch die Proteste zogen. Zum einen ging es um eine Entschleunigung der Bildungsprozesse. In den vergangenen Jahren war die Beschleunigung des Bildungswegs ein zentrales Thema auf der politischen Agenda. Was 1997 in Baden-Württemberg mit Studiengebühren für Langzeitstudenten begann, setzte sich verschärft in den folgenden Jahren fort: Das Abitur nach 12 Schuljahren erhöhte den Druck in der Schule; die Reform der Studiengänge mit dem Ziel, den Bachelor zum Regelabschluss zu machen, verschärfte die Situation an den Hochschulen. Mit der Verkürzung der Lernzeit sollte eine schnellere "Beschäftigungsfähigkeit" der Absolventen erreicht werden, da diese beim Studienabschluss im internationalen Vergleich angeblich zu alt - und daher nicht "wettbewerbsfähig" - wären.

Die Verkürzung der Lernzeit wurde jedoch keineswegs für qualitative Reformen genutzt, in den seltensten Fällen wurden Lehrpläne einer grundlegenden Revision unterzogen, wie es notwendig wäre. Die Chance, tatsächlich über Bildungsinhalte zu entscheiden und die Lernzeit vom gewünschten Inhalt abzuleiten, wurde mit "Bologna" nicht wahrgenommen. Es galt vielmehr nur, den gleichen Stoff in weniger Zeit zu vermitteln, damit das Alter der Absolventen sinkt.

Neben der Forderung nach Entschleunigung war das grundsätzliche Recht auf Bildung ein weiterer zentraler Bestandteil der Proteste. Entgegen den Möglichkeiten im Rahmen des Bologna-Prozesses sind die herkömmlichen Probleme des Bildungssystems, insbesondere die hohe soziale Segregation, nicht angegangen worden. Im Gegenteil: Es wurden keinerlei Regelungen getroffen, die den Master für alle Bachelor-Absolventen offen halten - geschweige denn, für beruflich qualifizierte Menschen. Stattdessen wird zweierlei erreicht: Erstens werden weitere Selektionshürden in das System eingezogen, und zweitens wird der Druck auf die Studierenden erhöht, weil sie schon ab dem ersten Semester vor allem auf Noten und weniger auf die Inhalte von Bildung achten müssen, wenn sie eine Zulassung zu einem Master-Studium erreichen wollen.

Dieser Druck wird durch Studiengebühren weiter erhöht, da die Studierende dadurch angehalten werden, schnell ihr Bildungszertifikat zu erwerben. Das Betreiben zusätzlicher wissenschaftlicher Arbeiten oder auch außer(lehr-)planmäßiger, kritischer Lesekreise bleibt auf der Strecke, denn das kostet Zeit - und die kostet Studiengebühren, Semester für Semester. Daneben ist durch die Ausweitung der Zulassungsbeschränkungen der Druck in die Schulen vorverlagert worden, da die Zulassung an die Hochschule immer schwieriger wird - mehr als jeder zweite Bachelor ist bereits zulassungsbeschränkt.

Neben dem formalen Recht auf Bildung ging es den Streikenden auch inhaltlich um das Recht, sich Wissen aneignen zu können und nicht ständig zwischen Anwesenheitspflicht, Prüfungsstress und dem Zwang zu guten Noten zerrieben zu werden; sie wollten ihre Bildung nicht auf das Erlangen von Zertifikaten durch stumpfes Auswendiglernen reduziert sehen. Diese Interessen einten Schüler und Studierende.


An den Grundfesten gerüttelt

Mit der Forderung nach Entschleunigung und Verwissenschaftlichung stellen sich die Protestierenden gegen die aktuelle Politik und machen es den Herrschenden schwer, die Proteste zu vereinnahmen. Der "Lucky Streik" wurde von der Bundesregierung und der Opposition verbal noch stark unterstützt - wenngleich natürlich keiner an der Misere Schuld tragen wollte. Dieses Mal sprach Bundesministerin Schawan von "gestrigen" Protesten. Hatten die Protestierenden 1997 vor allem die schlechte Ausstattung der Bildungseinrichtungen beklagt, ansonsten jedoch in ihrer Mehrzahl signalisiert, dass sie schnell studieren wollten, so waren diesmal die Grundfesten fast aller Bildungsreformen der vergangenen Jahre berührt: Es soll nicht immer um Schnelligkeit, sondern um Bildung im weiteren Sinn gehen, also um die Inhalte.

Man mag es zum Teil falsch finden, dass sich die Streikenden nicht differenziert mit dem Bologna-Prozess und den Möglichkeiten desselben befassten. Insgesamt ist die Stoßrichtung jedoch genau richtig, und sie bringt eine Problemlage zum Ausdruck, die seit Jahren ungelöst ist und durch die vergangenen Reformen eher verschärft wurde. Die Streikenden machten darauf aufmerksam, dass ein bildungspolitischer Kurswechsel her muss, wenn die soziale Selektion überwunden, der verkürzte und pervertierte Praxisbegriff korrigiert und Bildung als solche wieder in den Mittelpunkt gestellt werden soll - mit einem sinnvollen Praxisbezug, der sich eben nicht auf "Beschäftigungsfähigkeit" reduziert.


Wie weiter?

Dem "Bildungsstreik" droht - trotz der hohen Beteiligung - das Schicksal seiner Vorgänger. Sicher: Es wird zu Korrekturen kommen, und konservative Professoren sehen ihre Chance zur Restauration des Status quo ante gekommen. Trotz aller verbalen Unterstützung von SPD und Grünen zielt deren Politik auf das Gegenteil: Die Föderalismusreformen haben zunächst dem Bund den Gestaltungsspielraum genommen, dann den Ländern über die sog. "Schuldenbremse" Investitionen in die Bildungsinstitutionen quasi untersagt.

Von der herrschenden Politik ist also kein Umdenken zu erwarten, daher muss es darum gehen, sich auf die Auseinandersetzungen im Herbst einzustellen. Nach der Bundestagswahl werden die ersten Sparpakete kommen, und Bildung wird ein Feld sein, in dem gespart werden wird. Wenn der "Bildungsstreik" dazu beigetragen hat, dass sich die Studierenden und Schüler nicht darauf einlassen, Sozial- gegen Bildungsausgaben auszuspielen, sondern klar Position beziehen für eine andere Logik der Organisation von Bildung, dann wäre er ein wirklicher Erfolg, an den es anzuknüpfen gilt.


Der Autor Klemens Himpele lebt und arbeitet in Wien. Er ist Mitglied des Beirats vom Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi).


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 9, 24.Jg., September 2009, Seite 9
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2009