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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1560: Bürgerarbeit startet im August 2010


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7 - Juli 2011
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Bürgerarbeit startet im August 2010
Die konsequenteste Form des Förderns und Forderns

Von Rudolf Reddig, Peter Brunnett, Joachim Maiworm, Michael Wengorz


Im August 2010 gab Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, den Startschuss für die Bürgerarbeit: "Hier geht es um diejenigen, die ganz miserable Chancen haben, einen regulären Job zu finden. Jeder bekommt eine Chance. Das zeigt, dass wir es ernst meinen mit dem Arbeitsangebot ... Aktiv zu sein ist immer besser, als zuhause auf ein Jobangebot zu warten." Das waren warme Worte, klangen nach Hilfe für die Bedürftigen. Doch dann fuhr sie fort: "Die Bürgerarbeit ist gewissermaßen die konsequenteste Form des Förderns und Forderns."


Seitdem wird Bürgerarbeit umgesetzt, je nach Bundesland und Jobcenter in unterschiedlichem Tempo. Am Ende werden etwa 34.000 Bürgerarbeiter ausgewählt, eine Mitwirkung der Erwerbslosen ist ebenso wenig vorgesehen wie Freiwilligkeit.

Im Berliner Bezirk Neukölln ist die Umsetzung noch im Anfangsstadium. Am Ende sollen 1000 Bürgerarbeiterinnen beschäftigt werden. Derzeit werden 300 Erwerbslose pro Monat über einen Zeitraum von zehn Monaten durch drei "aktivierende" Phasen geschleust, bevor ein Drittel von ihnen in der eigentlichen Bürgerarbeit landet.

Zunächst wird ein "Profiling" erstellt, um die Eignung der Erwerbslosen für den Arbeitsmarkt zu testen, aber auch um die "Arbeitsmarktnahen" von den "Arbeitsmarktfernen" zu unterscheiden und die Letzteren auszusondern. Es schließt sich eine Phase verstärkter Vermittlung an, d.h. unter Aufsicht des Jobcenters müssen Bewerbungen in größerer Zahl geschrieben werden. In der dritten Phase sollen "Vermittlungsdefizite" durch Weiterbildung oder andere Förderung ausgeglichen werden, z.B. für Selbstständige (die Mittel hierfür werden derzeit allerdings deutlich gekürzt). In der letzten Phase greift die Bürgerarbeit im engeren Sinne.


Entgelt und Tätigkeit

Der Bürgerarbeiter wird sozialversicherungspflichtig beschäftigt, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden nicht abgeführt. Seine Wochenarbeitszeit liegt bei 20-30 Stunden, der Bruttolohn bei 720 bzw. 900 Euro. Da der Nettolohn max. 730 Euro betragen wird, müssen die meisten ergänzend ALG II beantragen. Erst als "Aufstocker" erhalten Bürgerarbeiter also mehr als Erwerbslose. Das Sanktionsregime für Erwerbslose bleibt auch für Bürgerarbeiter wirksam.Gegenüber den 1-Euro-Jobs können sich sogar Verschlechterungen ergeben. Zusätzlich zur Wochenarbeitszeit ist auch in der Maßnahme ein wöchentliches "Coaching" vorgesehen.

Als Beschäftigungsträger kommen neben den Kommunen auch örtliche Verbände und freie Träger in Frage, ebenso Kirchen und karitative Einrichtungen, aber auch ortsansässige Betriebe. Sozialstadtrat Büge nennt für Berlin-Neukölln die möglichen Einsatzgebiete: "Wohnumfeldverbesserung, Sicherheit und Sauberkeit im Quartier, Hilfen im Bereich der Grünanlagen und Kirchhöfe, praktische und pädagogische Hilfen in Kindertagesstätten, Sportstätten, Jugendclubs und Jugendeinrichtungen, Schulhelfer, hauswirtschaftliche Helfer, praktische Helfer im Bereich Gesundheit und Senioren, Mobilitätshelfer, Helfer in Verwaltung und Büro, Zuarbeiten zu Ordnungsdiensten." Es handelt sich ausnahmslos um Tätigkeiten, die keine Qualifikation erfordern und bereits nach kurzer Einarbeitungszeit ausgeübt werden können. Unabhängig von ihrer eigenen Qualifikation werden die Bürgerarbeiter auf das unterste Niveau festgelegt und einheitlich danach bezahlt.


Bürgerarbeit und Workfare

Da Bürgerarbeit nicht existenzsichernd bezahlt wird, weiterhin nicht freiwillig ist, im "coaching" einer rigiden Überwachung und zudem einem permanenten Sanktionsregime unterworfen ist, kommt sie dem "Workfare"-Modell in den USA weit näher als die 1-Euro-Jobs. Sie zeigt eine neue Qualität: Workfare koppelt den Bezug von Transferleistungen an eine Arbeitspflicht. Der Erwerbslose trägt allein die Verantwortung für die Erwerbslosigkeit und wird in einen Niedrigstlohnbereich hineinschikaniert.

In einer Studie des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) heißt dazu: "Verfechter des Gegenleistungsansatzes gehen zumindest implizit von der Hypothese aus, dass eine längere Dauer der Arbeitslosigkeit vorwiegend durch zu geringe Konzessionsbereitschaft entsteht. Eine konsequente Aktivierung führt dann zu einer erhöhten Bereitschaft des Arbeitslosen, auch schlechter bezahlte Jobs anzunehmen. Wegen des Freizeitnutzens bei Arbeitslosigkeit muss in letzter Konsequenz eine Gegenleistung für die Transferleistung verlangt werden, die den Freizeitnutzen senkt bzw. die Möglichkeit zur Schwarzarbeit reduziert. Dazu eignet sich öffentliche Beschäftigung, die in der Reinform des Workfare-Ansatzes nicht zusätzlich zur Transferleistung entlohnt wird." (C. Heinz u.a.: "Modellversuch Bürgerarbeit: Zwischen Workfare und Arbeitsmarkt", IAB-Forschungsbericht, Nr.14, 2007.)

Wie die 1-Euro-Jobs begründet auch "Bürgerarbeit" kein Arbeitsverhältnis, sondern nur einen "Beschäftigungsvertrag" ohne die Rechte, die sich aus einem Arbeitsverhältnis normalerweise ergeben. Beim 1-Euro-Job aber läuft Hartz IV weiter, der Bescheid bleibt erhalten, die Bürgerarbeiterin jedoch muss einen neuen Antrag auf aufstockende Leistungen stellen, die sie ohne Bürgerarbeit nicht bekommt (ähnlich wie früher im Öffentlichen Beschäftigungssektor bzw. bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Auf einen zu geringen Lohn wird die Transferleistung aufgestockt.

Das Niveau des ALG II stellt bisher noch eine implizite Lohnuntergrenze dar. Bürgerarbeit/Workfare wirkt dann umso mehr, wenn Beschäftigte aufgrund des Drucks, der auf sie in der Bürgerarbeit ausgeübt wird, statt dessen einen Job im Niedriglohnbereich annehmen, und sei dieser auch noch so schlecht.


Wem nützt es?

Entgegen der Rechtslage dient Bürgerarbeit klammheimlich dem weiteren Abbau von Personal in den Kommunen - zumal weder Jobcenter noch die Kommunalverwaltungen, noch die Beschäftigungsträger Interesse an Kontrollen zeigen. Dem Missbrauch wird so Tür und Tor geöffnet.

Der Etat des Bundesministeriums wird dagegen entlastet. Die Kosten für die erste, dreijährige Phase des Projektes "Bürgerarbeit" belaufen sich auf 1,3 Mrd. Euro, 230 Mio. Euro kommen jährlich aus dem Bundesetat, 200 Mio. Euro vom Europäischen Sozialfonds (ESF).

Kostensenkungen ergeben sich durch die Senkung der Regiekosten, die an die Beschäftigungsträger gezahlt werden. Die Rede ist jetzt von 140 Euro pro Monat und Bürgerarbeiter.

Besonders werden jene profitieren, die in der rechtlichen Grauzone zwischen amtlicher Genehmigung und konkreter Arbeit durch konkrete Menschen Bürgerarbeiterinnen unbezahlt für sich arbeiten lassen. Denn wer kann "öffentliches Interesse" und "Zusätzlichkeit" wirklich präzise formulieren? Auch auf diese Weise verdrängt Bürgerarbeit reguläre Beschäftigung.


DGB-Gewerkschaften und Bürgerarbeit

Lange Zeit haben sich die Gewerkschaften über das Thema ausgeschwiegen. Nach wie vor ist ihre Haltung widersprüchlich. Erst im letzten Jahr erklärte der arbeitsmarktpolitische Sprecher im DGB-Bundesvorstand, Johannes Jakob: "Der DGB lehnt die Bürgerarbeit nicht grundsätzlich ab", die Bezahlung müsse aber nach Tariflohn erfolgen. Die Bürgerarbeit werde bei den Erwerbslosen auf großes Interesse stoßen, "so dass Zwangsmaßnahmen unterbleiben können." Bürgerarbeit, so die Kernforderung "bedarf der Überwachung durch die Sozialpartner".

Ähnlich widersprüchlich zustimmend äußerte sich Annelie Buntenbach, stellv. DGB-Vorsitzende, in einer Pressemitteilung im Juli letzten Jahres: "Zu begrüßen ist, dass diese Beschäftigung im Gegensatz zu den 1-Euro-Jobs - mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung - sozialversicherungspflichtig ist und die Bezahlung nach tariflichen Regeln erfolgen soll." Wir bedauern, dass der DGB den Grundgedanken von Bürgerarbeit/Workfare nicht begreifen will und für sich keinen Handlungsbedarf sieht. Denn Bürgerarbeit berührt den Kernbereich gewerkschaftlicher Arbeit: Denn der Druck auf das allgemeine Lohnniveau nimmt stetig zu, das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht. Das wäre Grund genug für die Gewerkschaften, Bürgerarbeit konsequent abzulehnen.

Die Bürgerarbeit wird, die Prognose wagen wir, einzig erfolgreich sein in der Bekämpfung der Arbeitslosen, nicht jedoch der Arbeitslosigkeit. Wir werden gegen sie politisch vorgehen, mit aller nötigen Konsequenz. Dazu brauchen wir mehr Fantasie, mehr Wagemut und andere Denkansätze - in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch bei den Gewerkschaften.


R. Reddig, P. Brunnett und J. Maiworm arbeiten in der AG Bürgerarbeit Berlin; M. Wengorz in der BAG Prekäre Lebenslagen.




ANHÖRUNG ZU SANKTIONEN IN HARTZ IV
Nur kleine Risse im Beton

Von Joachim Maiworm

Am 6. Juni gab es im Bundestag eine Anhörung zu Sanktionen in Hartz IV.


"Die Sanktionsregelung ist dysfunktional und normativ falsch - und somit abzuschaffen", so fasste der Jenaer Sozialwissenschaftler Stephan Lessenich als geladener Experte seine Kritik an der herrschenden Sanktionspraxis im Rahmen des Sozialgesetzbuches zusammen. Die Arbeitsmarktintegration von ALG-II-Beziehern, ein offizielles Ziel des Gesetzgebers, werde systematisch verfehlt, der Umgang mit Erwerbslosen in Deutschland sei zudem von der armenrechtlichen Tradition des Arbeitshauses geprägt.

In Anträgen hatten die Fraktionen der Grünen und der LINKEN gefordert, die Sanktionen nach dem SGB II zeitweise auszusetzen bzw. gänzlich abzuschaffen (SGB II und XII). Auf Initiative der beiden Oppositionsparteien befragte deshalb der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales am 6. Juni in einer öffentlichen Sitzung streng nach Parteienproporz geladene Sachverständige zu den aktuellen Sanktionsregelungen gegen Erwerbslose.

Erstaunlich: Manche Experten sprechen über Dinge, über die sie nichts Fundiertes wissen. Denn die Anhörung macht klar, dass zu wesentlichen Aspekten der Auswirkungen von Sanktionen empirisches Material ganz einfach fehlt.

Frau Koch vom IAB räumte bspw. ein, dass die Folgen der Sanktionen für Gesundheit und Wohlbefinden der Erwerbslosen bislang nicht untersucht wurden. Es lägen zudem keine quantitativen Untersuchungen zu den besonderen Auswirkungen der schärferen Sanktionsregelung gegen unter 25-Jährige vor. Herr Dorenkamp vom Unternehmerverband BDA konnte keine konkreten Zahlen über Aktivierungserfolge vorlegen, ein Zusammenhang von Sanktionen und der gesteigerten Bereitschaft der Erwerbslosen, angebotene Stellen anzunehmen, ist somit nicht belegt.

Hingegen zeigten einige kritische Äußerungen, dass zumindest folgende drei politische Veränderungen derzeit nicht undenkbar scheinen:

Die verhängten Totalsanktionen (Kürzung der Regelleistung und der Kosten für die Unterkunft auf Null) könnten ebenso wie die schärfere, und daher verfassungswidrige, Regelung gegen unter 25-Jährige zur Disposition stehen. Zudem erscheint es möglich, dass in den Jobcentern unabhängige Ombudstellen eingerichtet werden, wie etwa von den Grünen gefordert.

Gerade auch einige Experten, die Sanktionen prinzipiell befürworteten, übten deutliche Kritik und wiesen darauf hin, dass die Sanktionspraxis der offiziell zugrundeliegenden erzieherischen Zielstellung widerspricht. Die vorgeschriebene starre Handhabung des Paragraph 31 SGB II (der "Sanktionsparagraf") führt z.B. dazu, dass Sanktionen auch bei Verhaltensänderung nicht zurückgenommen und somit als reine Bestrafungsaktion fortgesetzt werden. Die sozialen Folgen haben dann die Bedarfsgemeinschaften - Eltern und Kinder - zu tragen. Für eine unterschiedliche Behandlung von Jugendlichen über und unter 25 Jahren fehlten nicht nur dem unabhängigen Sachverständigen Markus Schmitz aus "praktischer Sicht die Argumente". Eine Kürzung auf Null im Sozialhilferecht ist nach Aussage des Vertreters des Deutschen Vereins "nicht mehr zeitgemäß", in den Augen von Ingo Kolf (DGB) schlicht "unrechtmäßig".

Alles in allem offenbarten sich in der Anhörung aber nur kleine diskursive Risse im fest zementierten Sanktionsblock. So wird der Druck auf Erwerbslose weiter steigen und mit ihm die Kurve der ausgesprochenen Sanktionen.

Siehe auch www.sanktionsmoratorium.de.
Der Autor Joachim Maiworm arbeitet in der AG Bürgerarbeit, Berlin, und in der bündnisorientierten Initiative "Regelsatz erhöhen jetzt!", die das garantierte Mindesteinkommen thematisiert (mit Vertretern der AG Soziales, Ver.di-Erwerbslose, Erwerbslosenzentrum BASTA! usw.);
www.regelsatzerhoehung-jetzt.org.


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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 7, 26.Jg., Juli 2011, S. 13
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2011