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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1629: Der Kredit und die Schaffung von Kaufkraft


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3 - März 2012
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

SERIE ZUR SCHULDENKRISE[*]
II. Der Kredit und die Schaffung von Kaufkraft
Die Wirtschaftsentwicklung aus der Sicht der Kreditpolitik

Von Ingo Schmidt



"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  

Kredite treiben die kapitalistische Entwicklung mächtig voran. Als Handelskredit senken sie die Zirkulationskosten, weil Unternehmen sich gegenseitig Zahlungsversprechen geben und diese gegeneinander aufrechnen. Das ist schneller und billiger als auf Barzahlung zu bestehen.

Darüber hinaus werden Ersparnisse, also nicht für Konsumzwecke verwendete Einkommen, gebündelt und als Kredite an Unternehmen sowie an private und öffentliche Haushalte weitergereicht, deren Einkommen nicht zur Finanzierung ihrer geplanten Investitions- und Konsumausgaben reicht. Damit wird Kaufkraft von denjenigen, die sie gegenwärtig haben, aber nicht brauchen, auf diejenigen übertragen, die sie nicht haben, aber meinen, sie bräuchten sie.

Neben dieser Übertragung von Kaufkraft schafft der Kredit aber auch Kaufkraft über die laufenden Einkommen hinaus. Die, in den Worten des neoliberalen Ökonomen Schumpeter, "Schaffung von Kaufkraft aus dem Nichts" ist aus kapitalistischer Sicht das Beste am Kredit.

Um im Konkurrenzkampf bestehen zu können, drücken Unternehmen auf die Kosten, wo sie nur können. Nur: Was dem einen Unternehmen die Kosten, sind einem anderen, den Zulieferern und Beschäftigten, die Einkommen. Mit den Kosten bei den einen werden bei anderen die Einkommen gedrückt, was an Kostensenkung gewonnen wird, geht an Kaufkraft verloren. Der von Marx festgestellte Widerspruch zwischen "absoluter Produktionskraft" und "Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse" kann durch den Kredit überwunden werden - zumindest vorübergehend.

Solange sich Banken auf die Bedienung der von ihnen vergebenen Kredite verlassen können, können die erwarteten Tilgungs- und Zinszahlungen als neuer und zusätzlicher Kredit vergeben werden, noch bevor der alte Kredit zurückgezahlt ist. Das Zahlungsversprechen des ersten Kreditnehmers reicht aus, um einem zweiten seinen Wunsch nach Kredit zu erfüllen. Auf diese Weise wird aus einer gegebenen Summe an Ersparnissen ein Vielfaches an Kredit und Kaufkraft. Das Problem unzureichender Nachfrage wird vertagt, solange der Kredit über die laufenden Einkommen hinaus für Nachfrage sorgt. Auf diese Weise wird der Aufschwung verlängert und beschleunigt - bis zu einem gewissen Punkt.

Die Bedienung von Konsumentenkrediten erfordert eine Einschränkung der laufenden Ausgaben oder höhere Einkommen. Sofern es sich bei den Kreditnehmern um Arbeiterhaushalte handelt, hieße dies höhere Löhne und damit höhere Produktionskosten für die Unternehmen. Sofern es sich um Kredite der öffentlichen Haushalte handelt, erfordert der Schuldendienst Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen, die anderswo Einkommen und Nachfrage einschränken.

Ist der Kredit aber in die Finanzierung von Investitionen geflossen, stehen die Unternehmen irgendwann vor dem Problem, dass sie zusätzliche Produktionskapazitäten geschaffen, aber nicht in ausreichendem Umfang neue Kunden gefunden haben, weil die laufenden Einkommen und Ausgaben von privaten und öffentlichen Haushalten entweder mit der Ausdehnung des Produktionsvolumens nicht mithalten oder die Bedienung früher aufgenommener Kredite ihre Kaufkraft in der Gegenwart beschränkt.

Wird nun versucht, die Ausgaben durch Stundung anstehender Zins- und Tilgungszahlungen aufrechtzuerhalten, kommt der gesamte im Aufschwung aufgebaute Kreditüberbau ins Wanken. Ein Kreditausfall hier bringt die Kreditgewährung dort in Gefahr, Ausgaben, die auf diesen neuen Kredit berechnet waren, werden nicht getätigt, und die nunmehr ausbrechende Kreditkrise wird zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Wirtschaftskrise.


Die Große Depression

Bis zur Großen Depression der 30er Jahre waren Bankenkrach und Konjunkturkrise tatsächlich die monetäre und die realwirtschaftliche Seite der kapitalistischen Medaille. Nur die Dauer und Tiefe der Depression sowie die zunehmende Angst, die Arbeiterbewegung könne so radikal sein, wie ihr kommunistischer Flügel behauptete, führten in der herrschenden Klasse zur Überzeugung, dass Zentralbanken und Staatshaushalt antizyklisch in den Akkumulationsprozess eingreifen und ihn so stabilisieren könnten.

Die imperialistische Konkurrenz vom späten 19.Jahrhunderts bis in den Zweiten Weltkrieg hinein hätte eine binnenwirtschaftliche Stabilisierungspolitik ernsthaft behindert, selbst wenn sie versucht worden wäre. Der Aufstieg der USA zur unbestrittenen Führungsmacht erlaubte dann die Durchsetzung eines internationalen Finanzsystems, in dem die Bemühungen einzelner Staaten um Stabilisierung nicht durch unkontrollierte Kapitalzu- oder -abflüsse und hierdurch verursachte Änderungen von Zinsen und Inflationsraten konterkariert wurden.

Und noch eine entscheidende Änderung trat nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Ein Prozess begrenzter, aber permanenter Inflation erleichterte den Kreditnehmern den Schuldendienst. Steigende Nominaleinkommen machten es leichter, die ausstehenden Zins- und Tilgungssummen aufzubringen, ohne die reale Kaufkraft einzuschränken. Der Realzins - also der im Kreditvertrag festgeschriebene Nominalzins abzüglich der Inflationsrate - war gering. Angesichts solch niedriger Zinsen war es vielfach lohnender, Geld statt bei der Bank im realen Investitionsprozess anzulegen. Kreditausweitung und niedrige Realzinsen trugen erheblich dazu bei, dass es der Nachkriegsaufschwung zu historisch einmaligen Wachstumsraten brachte.


Von permanenter Inflation...

Doch trotz kreditfinanzierter Nachfrage und staatlicher Stabilisierungspolitik lief auch im Aufschwung der Nachkriegszeit die Produktionskapazität der zahlungsfähigen Nachfrage schließlich davon, der Aufschwung endete in einer Krise. Anders als in früheren Krisen, in denen Unternehmen ihre Preise bestenfalls aufrechterhalten konnten, oft sogar senken mussten, um ihren Marktanteil zu behaupten, kam es in den 70er Jahren zu der bis dahin unbekannten Kombination von Krise und beschleunigter Inflation. Unternehmer versuchten, ihre Profitmargen angesichts der Krise durch steigende Preise zu verteidigen, die Arbeiter sahen hierin einen Angriff auf ihre Reallöhne, den es durch entsprechende Nominallohnerhöhungen abzuwehren galt, und schließlich griffen auch noch die Erdölexporteure in diesen Verteilungskampf ein. Mittels steigender Ölpreise suchten sie einen steigenden Anteil des weltweiten Reichtums in ihre Heimatländer umzulenken. Der Übergang von einer begrenzten Nachfrageinflation zu einer sich beschleunigenden Verteilungskampfinflation zehrte an der Kaufkraft der Geldvermögen, die während des Aufschwungs aufgebaut worden waren, in Zeiten der Krise aber ungenutzt auf irgendwelchen Bankkonten lagen.


...zur Hochzinspolitik und Wertpapierinflation

Angesichts dieser Kaufkraft- bzw. Vermögensverluste wurde der Ruf laut, die Inflation durch eine restriktive Wirtschaftspolitik einzuschränken. Als die Geldpolitik in den führenden kapitalistischen Ländern Anfang der 80er auf einen solchen Kurs einschwenkte, explodierten Zinsen und Kreditkosten. Wer Kredite zu variablen Zinssätzen aufgenommen hatte, wie viele Regierungen des Südens, saß in der Schuldenfalle. Unternehmen und Haushalte, die kreditfinanzierte Ausgaben geplant hatten, stellten ihre Pläne zurück, die Nachfrage ging zurück, die Weltwirtschaft war zurück in der Krise.

Es half alles nichts: Die Zinsen mussten wieder gesenkt und die Kreditvergabe in Gang gesetzt werden, um einen neuen Aufschwung in Gang zu setzen. Gleichzeitig strömten die Geldvermögen, die durch die Antiinflationspolitik vor fortschreitender Entwertung bewahrt wurden, in zunehmend deregulierte Finanzmärkte und sorgten dort für steigende Wertpapierpreise. Dies wurde zunächst aber nicht als neue Form der Inflation - Wertpapierinflation - wahrgenommen, sondern als Ausdruck tatsächlich steigender Vermögenswerte. Sie konnten beliehen und damit weitere kreditfinanzierte Nachfrage geschaffen werden. Schulden und Wertpapierpreise trieben sich gegenseitig in die Höhe.

Als die Wertpapierblase 2008 platzte, geriet die Weltwirtschaft abermals ins Stocken, die Schulden stiegen aber weiter, weil Regierungen Kredite für krisenbegrenzende Ausgabenprogramme und zur Stützung in Schieflage geratener Banken aufnahmen. Im Gegensatz zu den Bankzusammenbrüchen bis zur Depression der 30er Jahre, die regelmäßig zum Abschreiben fauler Kredite geführt hatten, wurden solche Abschreibungen seither vermieden, nicht zuletzt um eine Vertiefung der Wirtschaftskrise und die damit einhergehende politische Destabilisierung zu vermeiden.


Der Schuldenberg

Das ist bislang gelungen, hat nun aber in eine neue Sackgasse geführt: Die Bedienung der aufgelaufenen Schulden würde genau zu jener tiefen Krise führen, die vermieden werden soll. Andererseits steht einer neuen Welle der Kreditausweitung und Konjunkturankurbelung das Misstrauen der Geldvermögenbesitzer entgegen: Nachdem sie ihr Geld im letzten Aufschwung an einkommensschwache Häuslebauer verliehen und sich dabei die Finger verbrannt haben, zweifeln sie die Kreditwürdigkeit derer an, die einen Kredit gebrauchen könnten. Kreditwürdig sind nur noch die, die bereits genug Geld haben und selbst auf der Suche nach vertrauenswürdigen Kreditnehmern sind.

Durch weitere Kredite lässt sich der Widerspruch zwischen "absoluter Produktionskraft" und "Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse" nicht lösen.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Teil I der Artikelserie finden Sie im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ-Presse
SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1620: Wer hat Schulden und was ist das Problem dabei?

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 3, 27. Jg., März 2012, Seite 17
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. März 2012