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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/1742: Der Genossenschaftsverbund Mondragón im Baskenland


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5 - Mai 2013
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Der Genossenschaftsverbund Mondragón
Insel im Meer des Kapitalismus?

von Elisabeth Voß



Der Genossenschaftsverbund Mondragon mit Sitz im spanischen Baskenland wird oft als Vorbild und Beweis dafür benannt, dass genossenschaftliches Wirtschaften auch im Kapitalismus erfolgreich sein kann. Fast 60 Jahre nach ihrer Gründung halten die GenossInnen, deren Konzern mittlerweile weltweit 256 Unternehmen umfasst, ihre Werte hoch: Kooperation, Partizipation, soziale Verantwortung und Innovation. Das Oppenheimersche Gesetz, wonach Produktivgenossenschaften auf längere Sicht entweder wirtschaftlich scheitern, oder sich an den kapitalistischen Markt anpassen und ihren genossenschaftlichen Charakter aufgeben, scheint widerlegt.


Die Genossenschaftsgründung fand zur Zeit des spanischen Faschismus statt. Der Jesuitenpater José María Arizmendiarrieta - oft einfach Arizmendi genannt - war im Widerstand gegen Franco, bevor er in den kleinen Ort Mondragón in der baskischen Provinz Gipuzkoa kam. Der baskische Ortsname Arrasate war damals verboten, wie die gesamte baskische Sprache. Zusätzlich zur traditionellen Verwurzelung genossenschaftlichen Wirtschaftens trug sicher auch die Verfolgung zu einem ausgeprägten Gemeinschaftsgefühl bei.


Genossenschaftliche Expansion

Arizmendi hing den Ideen der katholischen Soziallehre an. Er wollte das Schicksal der Arbeitenden durch Bildung und Schaffung von würdigen Arbeitsplätzen verbessern. Darum gründete er 1943 eine Ingenieurschule, und im Jahr 1956 gemeinsam mit fünf Studierenden dieser Schule ein kleines Unternehmen zur Herstellung von Paraffinöfen. Diese Firma namens Ulgor expandierte schnell, und es kamen weitere Genossenschaften dazu. Das faschistische Spanien war weitgehend isoliert vom Weltmarkt und der Binnenmarkt aufnahmefähig für Produkte aus heimischer Herstellung.

Der fehlende Zugang zu Krediten führte bereits 1959 zur Gründung einer eigenen Bank, der Caja Laboral, durch die Genossenschaften Ulgor, Arrasate und die Konsumgenossenschaft San José (Vorläufer von Eroski). 1968 wurde die Ingenieurschule zur genossenschaftlichen Universität. In den 1970er Jahren entstand Ikerlan als erste gemeinsame Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, sowie die Sozialversicherung Lagun Aro, weil damals die genossenschaftlichen ArbeiterInnen als Selbstständige von der öffentlichen Sozialversicherung ausgeschlossen waren. In diesen Genossenschaften zweiten Grades haben die Mitgliedsgenossenschaften die Mehrheit - im Unterschied zu den Basisgenossenschaften, in denen die ArbeiterInnen die gesamte Mitgliedschaft stellen. Sie bieten heute ihre Leistungen auch Nichtmitgliedern an.

Auffällig ist das ausgeprägte industrielle Selbstverständnis: "Mehr als 83.000 Mitarbeiter, 9000 Studenten und 85% unserer industriellen Arbeiter sind Mitglieder. Wir sind MONDRAGON." Die Industriebetriebe sind vor allem im Werkzeugbau und als Zulieferer für die Automobilindustrie weltweit erfolgreich. Schwieriger sieht es bei Elektronik und Haushaltsgeräten aus. Ausgerechnet Fagor Electrodomésticos, die frühere Ulgor-Genossenschaft mit einem großen symbolischen Wert für den ganzen Verbund, ist derzeit krisenbedingt in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten.


Der Preis des Wachstums?

Die IndustriearbeiterInnen (meist männlich) sind nur die eine Hälfte des Genossenschaftsverbundes. Die andere Hälfte - genau genommen noch etwas mehr, nämlich über 42.000 Beschäftigte (meist weiblich) arbeiten in den Supermärkten. Die Ladenkette Eroski wurde 2007 durch den Zukauf von Caprabo deutlich vergrößert und gehört nun zu den größten ihrer Branche in Spanien. Plötzlich kamen viele Tausend MitarbeiterInnen hinzu, die keine Genossenschaftsmitglieder waren.

Zusätzlich orientierte sich Mondragón seit den 1980er Jahren immer stärker auf den Weltmarkt. Um dort (zum Beispiel in China) günstiger produzieren zu können als im heimischen Baskenland, aber auch, weil die Geschäftspartner (zum Beispiel aus der Automobilindustrie) dies verlangten: Wenn ihr weiter für uns arbeiten wollt, dann erwarten wir, dass euer Werk direkt in der Nähe von unserem, in Brasilien oder Mexiko produziert. Diese knapp 100 Unternehmen im Ausland sind keine Genossenschaften, sondern Kapitalgesellschaften. Die Beschäftigten sind LohnarbeiterInnen, keine Mitglieder, ebenso wie in einigen spanischen Unternehmen des Verbundes. Von den insgesamt 256 Firmen des Verbundes sind nur 120 Genossenschaften. 34.250 Beschäftigte sind Mitglieder.

Die Kluft zwischen Anspruch und Realität ist den GenossInnen bewusst und wird offen diskutiert. So gibt es Willensbekundungen, dass alle Unternehmen des Verbundes zu Genossenschaften umgewandelt werden sollen und dass alle Mitarbeitenden die Gelegenheit haben sollen, Mitglieder zu werden. Wo dies nicht möglich ist, sollen zumindest die Bedingungen für die Beschäftigten denen der Mitglieder angeglichen werden. Sie sollen die Möglichkeit haben, sich am Unternehmen finanziell zu beteiligen und mitentscheiden zu können. Das krisengeschüttelte Fagor Electrodomésticos hat jedoch aktuell einen Aufnahmestopp für neue Mitglieder ausgesprochen.

Sichere Arbeitsplätze trotz Krise?

Manchmal ist zu lesen, es sei noch nie ArbeiterInnen in Mondragón gekündigt worden. Das stimmt so nicht. Es stimmt, dass Genossenschaftsmitgliedern nicht gekündigt wird. Aber Mitarbeitende, die keine Mitglieder sind, müssen in Krisenzeiten notfalls gehen. Um wenigstens die Arbeitsplätze für die Mitglieder dauerhaft abzusichern, gibt es eine Reihe von Maßnahmen. Bei schwankender Auftragssituation werden die Arbeitszeiten flexibilisiert. Auf ein paar Wochen, in denen ein Teil der Mitglieder zu Hause bleibt, folgen dann, wenn es wieder besser läuft, Zeiten mit Nacht- und Wochenendschichten.

Die Mitglieder einer Genossenschaft können auch beschließen, ihre eigenen Löhne zu reduzieren, damit es auch bei sinkenden Erträgen noch für alle reicht. Wobei "Löhne" nicht ganz stimmt, denn es handelt sich bei diesen Zahlungen an die genossenschaftlichen MiteigentümerInnen nicht um das Entgelt für den Verkauf ihrer Arbeitskraft, sondern um Vorauszahlungen auf das Jahresergebnis ihres eigenen Unternehmens. Wenn am Jahresende ein Gewinn bleibt, geht dieser zu einem großen Teil an verschiedene Solidarfonds des Genossenschaftsverbundes und in die Rücklagen der jeweiligen Genossenschaft. 45 Prozent verbleiben als Gewinnbeteiligung bei den Arbeitenden und werden ihrer Genossenschaftseinlage gutgeschrieben. Im Verlustfall schrumpft ihre Einlage.

Wenn auch mit einer Absenkung des monatlichen Entgelts nicht alle Arbeitsplätze gehalten werden können, wird versucht, einen Teil der Belegschaft in anderen Mondragón-Genossenschaften unterzubringen. Wer seit Jahrzehnten dabei ist, hat das oft schon mehrmals selbst mitgemacht. Und wenn das alles nichts nützt, dann bleibt noch der vorzeitige Ruhestand (versüßt durch die besseren Leistungen der Lagun Aro gegenüber der staatlichen Sozialversicherung) oder die vorübergehende Erwerbslosigkeit. Die Lagun Aro beinhaltet auch eine Arbeitslosenversicherung, und es wird darauf geachtet, dass niemand länger als höchstens zwei Jahre nach Hause geschickt wird, damit die beruflichen Qualifikationen nicht verloren gehen.

Die Akzeptanz solcher Maßnahmen ist sehr unterschiedlich. Was für die einen selbstverständlich ist, denn schließlich handelt es sich um das eigene Unternehmen, ist für andere eine Zumutung, und sie beklagen, dass sie nicht die Rechte haben, die Beschäftigte in andern Unternehmen zustehen. In den Genossenschaften gibt es keine Gewerkschaften und es herrscht Streikverbot - wozu auch sich selbst bestreiken? Allerdings empfinden sich nicht alle Mitglieder als wirklich mitgestaltende MitinhaberInnen, und gerade in der zweiten Generation überwiegt vielleicht sogar die ArbeitnehmerInnen-Mentalität. Es reicht aus, einen sicheren und anständig bezahlten Arbeitsplatz zu haben, aber genossenschaftliche Werte und unternehmerische Mitverantwortung?


Zurück zu den Wurzeln?

Nach einer langen Zeit der vorrangigen Orientierung auf wirtschaftliches Wachstum und ökonomische Erfolge kam vor einigen Jahren eine Wertedebatte auf. Jetzt werden für neue Mitglieder Kurse angeboten, in denen ihnen genossenschaftliche Werte und Prinzipien vermittelt werden. Die Stiftung Mundikide wurde gegründet, um weltweit solidarische Projekte durchzuführen. Zum Beispiel unterstützt sie Landlose der MST in Brasilien beim Aufbau von Genossenschaften. Die Arbeit wird von Mitgliedern ehrenamtlich in ihrer Freizeit übernommen, die Kosten trägt die Stiftung. Zur Vernetzung mit sozialen Bewegungen und für regionale Projekte wurde der Verein Bagara gegründet. Ein neues Managementmodell ist in Arbeit, das die formalen Wege der Partizipation verbessern soll. So krankt zum Beispiel die betriebliche Mitgestaltung schon lange daran, dass die Mitglieder der Sozialräte (vergleichbar mit Betriebsräten) keine Zeitbudgets haben, um ihre Arbeit zu machen. Während BetriebsrätInnen ein Recht auf (teilweise) Freistellung haben, müssen die SozialrätInnen sich selbst darum kümmern, dass ihre KollegInnen ihre Arbeit miterledigen.

In Krisenzeiten bewährt sich auch die genossenschaftliche Solidarität. So kommt es immer wieder vor, dass eine Genossenschaft beschließt, die eigenen Arbeitsentgelte abzusenken, um mit dem eingesparten Geld eine andere Genossenschaft zu unterstützen. Allerdings gibt es auch die Sorge, dass diese Solidarität abnehmen könnte. Denn früher wurden solche Beschlüsse ganz selbstverständlich fast ohne Gegenstimmen gefasst, heute stimmen mitunter nur noch 60 oder 70 Prozent dafür. Die Entgeltsenkung betrifft dann alle - aber wann wird die Zustimmung unter 50 Prozent fallen und damit die Solidarität versagt werden? Es gibt aber auch die Hoffnung, dass die Erfahrung der Krise auch die Einsicht in die Notwendigkeit von Solidarität verstärken, und dem Genossenschaftsgedanken Aufwind verschaffen könnte.


Eine bessere Welt?

Das Ziel von Arizmendi war es, gleichzeitig Wohlstand zu schaffen und die Welt zu verbessern. Wenn die Menschen durch die Arbeit in den Genossenschaften kooperativer und fürsorglicher werden, würde dies auf längere Sicht zu einer gesellschaftlichen Transformation führen.

Zur Frage "Halten Sie sich für eine Alternative zum kapitalistischen Produktionssystem?" heißt es heute: "Wir haben in dieser Hinsicht keinerlei Ambitionen. Wir glauben lediglich, eine menschlichere Unternehmensform entwickelt zu haben, die mehr direkte Beteiligung zulässt. Dies ist außerdem ein Konzept, das mit den entwickeltsten und modernsten Managementmodellen übereinstimmt, die den arbeitenden Menschen immer mehr als wesentliche Aktiva und Hauptunterscheidungsmerkmal des modernen Unternehmens sehen." (FAQs)

Die Erfahrungen aus fast 60 Jahren genossenschaftlichem Wirtschaften jenseits alternativer Nischen sind sehr komplex, und jede der 120 Genossenschaften ist - trotz einer Reihe allgemeiner Regelungen - ein kleiner Kosmos für sich, mit eigenen Gepflogenheiten und eigener Ausgestaltung des genossenschaftlichen Alltags. Was der Beitrag dieser Erfahrungen für solidarische Ökonomien und für eine gesellschaftliche Transformation sein kann, werden wahrscheinlich erst spätere Generationen in vollem Umfang einschätzen können. Ich möchte hier jedenfalls kein schnelles Urteil fällen. "Es ist was es ist" (Erich Fried) und es ist spannend, an diesen Erfahrungen teilhaben zu können.


Mondragón online:
http://www.mondragon-corporation.com und
http://www.mondragon-corporation.com/language/de-DE/DEU.aspx
(inhaltsreiche deutschsprachige Seite, Stand 2010).

Zur Autorin:
www.voss.solioeko.de


Der Schattenblick veröffentlicht den Artikel in der Version der Internet-Seite der SoZ:
http://www.sozonline.de/2013/05/der-genossenschaftsverbund-mondragon/

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 5, 28. Jg., Mai 2013, S. 16
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2013