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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2244: "Ist der Polizeieinsatz rechtswidrig, kann es auch keinen Landfriedensbruch geben"


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 · April 2018
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

"Ist der Polizeieinsatz rechtswidrig, kann es auch keinen Landfriedensbruch geben"

Michèle Winkler im Gespräch mit der SoZ über die Prozesswelle gegen Teilnehmende an den Protesten gegen die G20 im Juli letzten Jahres


"Das politische Großereignis G20 wird nicht durch die von den Herrschenden gefällten Beschlüsse, sondern durch die vielfältigen Gegenproteste und massiven Grundrechtseinschränkungen und die Polizeigewalt in die Geschichte eingehen", schrieb der Bundesvorstand der Roten Hilfe am 18. März, dem Tag der politischen Gefangenen, in einer Sonderausgabe der Roten Hilfe. Mit der Einrichtung der SOKO Schwarzer Block (sic!) wurden 170 Ermittler eigens dafür abgestellt, Teilnehmende an den G20-Protesten dingfest zu machen. Zu diesem Zweck wurde Bildmaterial ins Internet gestellt und in der Boulevardpresse veröffentlicht und die Bevölkerung zur Denunziation aufgerufen. Schon im Vorfeld waren die Strafen für Widerstand gegen die Staatsgewalt und schweren Landfriedensbruch heraufgesetzt worden.

Der bislang längste Prozess betrifft den italienischen Studenten Fabio V. Er wurde am 7. Juli festgenommen, sein Prozess begann Mitte Oktober und dauert immer noch an.

Die SoZ sprach mit Michèle Winkler vom Komitee für Grundrechte und Demokratie. Sie hat den Prozess gegen Fabio V. beobachtet.


SoZ: Was ist der Stand im Prozess gegen Fabio V.?

Michèle Winkler: Der Prozess endete nach zwölf Prozesstagen, weil die Richterin schwanger war und dann krank wurde. Er wurde ausgesetzt und soll irgendwann wieder aufgenommen werden. Er dauert nun schon seit Mitte Oktober 2017. Der Angeklagte, Fabio V., saß viereinhalb Monate in Untersuchungshaft. Begründet wurde das mit Fluchtgefahr, weil er kein deutscher Staatsbürger ist. Bei anderen war das auch so, offenbar will man "ausländische Gewalttäter" besonders an den Pranger stellen. Die Begründung für Fabios lange Untersuchungshaft war krude. Es hieß, ihm drohe auf jeden Fall eine lange Haftstrafe, weil er bürgerkriegsähnliche Zustände mit zu verantworten habe, und weil er, da schlecht erzogen, schädliche Neigungen habe. Das alles wurde schon im Vorfeld des Prozesses über ihn öffentlich gesagt oder geschrieben. Eine klassische Vorverurteilung!


SoZ: Wurden die Vorwürfe dann fallen gelassen?

Michèle Winkler: Es gab drei Anklagepunkte, schwerer Landfriedensbruch, tätlicher bzw. versuchter tätlicher Angriff auf Polizeibeamte und versuchte schwere Körperverletzung. Die letzten beiden Vorwürfe hat die Richterin in einem Rechtsgespräch als nicht mehr anzuwenden bezeichnet. Das Oberlandesgericht hatte auch vorgeschlagen, aus "prozessökonomischen Gründen" könne man diese zwei Anklagepunkte fallen lassen. Aber auch für den Landfriedensbruch gibt es keine konkreten Anhaltspunkte. Hat er einen Stein oder etwas anderes geworfen? Soweit wir wissen, nicht. Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage einzig und allein auf den Vorwurf der "psychischen Beihilfe", also auf die "Billigung" der Gewalttaten, die es aus der Menge heraus gegeben haben soll.


SoZ: Wie hätte sich eine solche Billigung geäußert?

Michèle Winkler: Einfaches Mitlaufen reicht dafür nicht. Wenn man aber einen Stein aufhebt und einer anderen Person reicht, dann wäre das Unterstützung. Oberlandesgericht und Staatsanwaltschaft haben sich auf das sog. Hooliganurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bezogen. Demnach reicht für Landfriedensbruch schon "ostentatives Mitmarschieren" in einer Gruppe, die auf Gewalttätigkeit aus ist. Da ging es aber um Fußballhooligans, die sich mit einer anderen Gruppe vorab dazu verabredet hatten, sich gegenseitig zu verprügeln. Im Urteil des BGH steht, dass das auf politische Demonstrationen nicht anzuwenden ist. Das hat die Staatsanwaltschaft wohlweislich verschwiegen. Sie unterstellt, die komplette Menschenmenge habe einen einheitlichen Tatplan gehabt, nämlich Dinge zu zerstören und die Polizei anzugreifen.


SoZ: Was sagt denn Fabio selber, was er getan hat?

Michèle Winkler: Er hat sich zu den Vorwürfen nicht geäußert. Es gibt aber sehr viel Videomaterial, und viele gehen davon aus, dass er weit am Ende der Demonstration mitgelaufen ist. Wo man ihn zweifelsfrei erkennen kann, sieht man, wie er bei einer verletzten Person steht und in Richtung Polizei gestikuliert, um Hilfe zu holen. Das war nach der Auflösung der Demonstration durch die Polizei. Fabio war als einer von ganz wenigen dageblieben, um sich um Verletzte zu kümmern.


SoZ: Wenn er nun verknackt würde zu schwerem Landfriedensbruch, dann wäre das ohne irgendeinen Beweis?

Michèle Winkler: Ich glaube an den politischen Willen, eine Verurteilung zu erzielen. Die Richterin hat in einem Rechtsgespräch geäußert, man müsse ja nicht viel tun, um Landfriedensbruch zu begehen, und sie würde sich auf das Hooliganurteil stützen. In den letzten Sitzungen ist das dann ein bisschen gebröckelt, trotzdem gab es keinen Freispruch. Aus meinem Rechtsverständnis heraus, hätte er frei gesprochen werden müssen. Aber aufrgund der gesamten Ausrichtung der G20-Aufarbeitung glaube ich nicht, dass das für die Gerichte überhaupt als Option wahrgenommen wird.


SoZ: Gab es überhaupt Freisprüche? Und ging es immer um Landfriedensbruch?

Michèle Winkler: Bis zum Jahresende 2017 gab es 25 oder 26 Verurteilungen und keinen Freispruch. In den meisten Fällen ging es um Landfriedensbruch, aber auch um tätliche Angriffe auf Polizisten, etwa, wenn sie mit Flaschen beworfen wurden. Ein junger Niederländer, der ebenfalls zu einer sehr langen Haftstrafe verurteilt wurde, hatte sich bei seiner Festnahme in eine embryonale Haltung gelegt, was ihm als Widerstand ausgelegt wurde.


SoZ: Auf welche Demonstration bezieht sich das Verfahren gegen Fabio?

Michèle Winkler: Das war am Freitagmorgen, die Demo war ein Finger der Blockaden, hier mit schwarz oder überwiegend schwarz gekleideten Leuten. Meines Erachtens wurde ihnen der Kleidung wegen Gewalttätigkeit zugeschrieben. Die ganze Gruppe wurde komplett eingekesselt. Vorne wurden die Betroffenen mit viel Gewalteinsatz zu Boden gebracht worden. Sie konnten nicht ausweichen. Links war ein Hang. Rechts war ein Zaun, hinter dem es 2 Meter in die Tiefe ging. Viele flüchteten dorthin. Dann ist der Zaun gebrochen und einige wurden schwer verletzt, es gab Knochenbrüche. Der Einsatz war brutal. Es gab sieben Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte. Es gibt auch Videos, auf denen man sehen kann, wie Polizisten mit dem Fuß ausholen, jemanden treten, an jemandem vorbeilaufen und mit der Faust ins Gesicht schlagen.


SoZ: Solche Dinge haben vor Gericht keine Rolle gespielt?

Michèle Winkler: Nur, wenn es die Anwälte Fabios explizit benannt haben. Ungeklärt ist die Rechtsgrundlage, auf der die Polizei den Weg versperrt hat. Es war unbestritten eine Demonstration. Dann wurden aus der Demonstration heraus Böller und Steine geworfen und da ist die Polizei sofort reingegangen. Gleichzeitig ist von hinten eine weitere Bundespolizeieinheit eingefahren. Vorn hinten haben Wasserwerfer gespritzt. Eine Ansprache oder eine Aufforderung zur Auflösung der Demo gab es nicht - aus meiner Sicht ist allein das schon rechtswidrig. Wenn aber der Polizeieinsatz rechtswidrig ist, kann es auch keinen Landfriedensbruch geben. Die Verteidigung stellte dazu Anträge, aber vergeblich.


SoZ: Du sagst, dass auch die anderen rund 25 Urteile fragwürdig waren. Wurde da Berufung eingelegt?

Michèle Winkler: Zum Teil ja. Beim Niederländer z.B., der als erster verurteilt wurde, das Berufungsverfahren läuft gerade. Ein anderes Berufungsverfahren hat dazu geführt, dass eine Haft- in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Dann gibt es den Fall des jungen Polen, der wegen Böllern oder Vermummungsmaterial im Rucksack festgenommen wurde. Ob er überhaupt auf einer Demonstration war, ist unklar. Viele Leute haben Tatvorwürfe zugegeben, weil sie so lange in U-Haft saßen und auf Bewährung raus wollten."


SoZ: Meinst du, die Polizei hat die wirklichen "Steineschmeißer" erwischt?

Michèle Winkler: Nein, die haben die Leute verhaftet, die sie gekriegt haben, das waren die, die nicht so schnell weglaufen konnten oder wollten. Fabio ist nicht weggelaufen, und der hat am längsten in U-Haft gesessen. Viele sind festgenommen worden, weil sie einfach irgendwo herumstanden. Leute, die festgehalten werden können, werden halt festgehalten, das heißt überhaupt nicht, dass sie irgendwas gemacht haben.


SoZ: Wie viele Ermittlungsverfahren gibt es denn noch?

Michèle Winkler: Es laufen wohl gegen über 600 Leute Verfahren bei der Staatsanwaltschaft und Tausende bei der Polizei, wobei es oft noch keine Anklagen gibt. Ich weiß auch nicht, wie die das machen wollen. Die haben von September bis Ende des Jahres nur 25 Verfahren geschafft. Ich glaube, sie müssen sich noch gut überlegen, wen sie anklagen und wen nicht.


SoZ: Gibt es eine Stelle, die das ganze Bildmaterial sammelt und Filme daraus macht, um Gegenöffentlichkeit zu schaffen?

Michèle Winkler: Es gibt mehrere Stellen, wo so etwas gemacht wird, und es gibt einen Sonderausschuss der Bürgerschaft Hamburg, der zu G20 tagt. Christiane Schneider von der Partei DIE LINKE macht da richtig gute Arbeit. Anfang des Jahres wurden gegen die Stadt Hamburg wegen der Räumung des Camps und wegen Polizeigewalt verschiedene Klagen eingereicht.

Es gibt auch einen unabhängigen Untersuchungsausschuss, der Informationen zu bündeln versucht. Der hat bisher drei Pressemitteilungen herausgegeben. Da wird z.B. gezeigt, wie Polizeibeamte ermuntert wurden, ihre Berichte so zu schreiben, dass schwerer Landfriedensbruch nahegelegt wird.

Sehenswerte Filme über die Proteste gegen G20 finden sich unter:

www.festival-der-demokratie.de
www.der-gipfel.hamburg
www.grundrechtekomitee.de

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 33. Jg., April 2018, S. 5
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2018

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