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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2336: Schuldenberge und Spardiktate - Europas ungelöste Probleme


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1 · Januar 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Schuldenberge und Spardiktate
Europas ungelöste Probleme

von Ingo Schmidt


"Das Geld erklärt dem ganzen Menschengeschlecht den Krieg"
(Pierre de Boisguillebert, 1704)  

Brexit-Verhandlungen und der Haushaltsstreit zwischen Brüssel und Rom sind die jüngsten Auflagen der politischen und wirtschaftlichen Krisen, die ein Fortschreiten der marktradikalen Integration Europas behindern.


Im Sommer 2015 beugte sich die griechische Linksregierung dem Spardiktat von Euro-Gruppe und EU-Kommission. Für das offizielle Europa war die Sache damit erledigt. Den Haushaltsregeln der Eurozone war Geltung verschafft worden, die Risikoaufschläge auf griechische Staatsanleihen gingen zurück. Investoren fassten wieder Mut und nahmen ihre Geschäfte wieder auf. Sofern die Eurokrise als Schuldenkrise verstanden wird, war sie vorbei. Vorläufig wenigstens.

Dafür hatte die gemeinsame Machtdemonstration der Eurokratie und der Regierungen der exportstarken Euro-Ländern ein unerwartetes Echo auf der politischen Rechten. Statt über Spardiktate aus Brüssel und Berlin klagten die Rechtsregierungen in Polen und Ungarn nun über "Flüchtlingsdiktate". Im Nicht-Euro-Land Großbritannien konnte die Rechte den weithin verbreiteten Unmut über die Sparpolitik der Konservativen in eine Frage der Unabhängigkeit von Brüssel und des Schutzes vor osteuropäischer Arbeitsmigration umdeuten.

Versuche der Linken, dem Brexit eine kapitalismuskritische Stoßrichtung zu geben, waren weniger erfolgreich, führten aber auch in Großbritannien zu einer quer zum politischen Spektrum liegenden Anti-Europa-Front - vergleichbar denen, die in Frankreich und den Niederlanden 2005 erfolgreich für ein Nein zur EU-Verfassung mobilisiert hatten.

Seit die italienische Rechtsregierung erklärt hat, ihren Wählerauftrag auch gegen Brüsseler Haushaltsregeln zu erfüllen, ist auch die Angst vor einer neuerlichen Schuldenkrise in der Eurozone zurückgekehrt.


Reformstau

Im Frühjahr 2015 schlug Yanis Varoufakis, damals Verhandlungsführer für die Regierung von SYRIZA, der Euro-Gruppe und der EU-Kommission vor, die Sanierung von in Schieflage geratenen Banken in der gesamten EU dem Europäischen Stabilitätsmechanismus zu überlassen. Staatsschulden jenseits der im Stabilitätspakt festgelegten Obergrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollten von der Europäischen Zentralbank (EZB) übernommen und am Rentenmarkt gehandelt werden.

Darüber hinaus forderte er zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Krise in Griechenland ein Investitionsprogramm von der Europäischen Investitionsbank und ein soziales Sofortprogramm von der Kommission.

Varoufakis bezeichnete diesen Forderungskatalog als "bescheidenen Vorschlag" zur Lösung der Euro-Krise. Viele Linke sahen darin den Ausverkauf von SYRIZA an die Eurokratie, diese wiederum sah darin einen Frontalangriff auf den heiligen Markt. Und schlug gnadenlos zurück.

Statt der von Varoufakis geforderten Ausgabenprogramme wurden weitere Spardiktate durchgesetzt. Die EZB hat im Zuge ihres Euro-Rettungsprogramms zwar so ziemlich jedes Ramschpapier aufgekauft, das private Investoren nicht haben wollten. Aber die Forderung, Schulden jenseits der 60-Prozent-Marke an die EZB zu übertragen und den dadurch entlasteten Regierungen wieder etwas politischen Spielraum zu verschaffen, fiel unter den Verhandlungstisch.

Zur Stabilisierung des Bankensystems wurden einheitliche Aufsichtsrichtlinien unter der Regie der EZB und ein Abwicklungsmechanismus für insolvente Banken geschaffen. Dieser kann in Ausnahmefällen auf Mittel des Europäischen Stabilitätsmechanismus zurückgreifen.

Die seit Ausbruch der Euro-Schuldenkrise 2010 erfolgten Reförmchen haben zwei Dinge gemeinsam: Die schon vorher bestehenden Haushaltsregeln wurden noch einmal verschärft und das Prinzip, dass EU- bzw. Euro-weite Regeln von den Regierungen der Mitgliedsländer umgesetzt werden müssen, wurde beibehalten.


Schuldenprobleme

Obergrenzen für die Staatsverschuldung zäumen das kapitalistische Schuldenpferd von hinten auf. Die griechische Staatsschuld beträgt mit 178 Prozent gemessen am Bruttoinlandsprodukt fast das Dreifache des zulässigen Werts. 2008 - vor Ausbruch von Großer Rezession und Euroschuldenkrise - lag der Schuldenstand bei 108 Prozent. Auch nicht wenig, entscheidend ist aber die Explosion der Staatsschuldenquote als Folge der Krise.

Ein sinkendes Bruttoinlandsprodukt erhöht diese Quote selbst bei gleichbleibendem Schuldenstand. Gleichzeitig sinkende Steuereinnahmen führen bei bestehenden Zahlungsverpflichtungen des Staates zu höherer Kreditaufnahme. Wird nun versucht, die Schuldenquote durch Ausgabenkürzungen und eine geringere Neuverschuldung zu senken, kommt es zu einem weiteren Rückgang des Inlandsprodukt. Die erhoffte Senkung der Schuldenquote bleibt aus.

Seit SYRIZA 2015 vor den Euro-Sparkommissaren kapitulierte, ist die Quote zwar nicht weiter gestiegen - aber eben auch nicht gesunken.

In Griechenland hat sich in den letzten zehn Jahren im Zeitraffer wiederholt, was sich seit Beginn der 80er Jahre in ganz Europa bzw. allen westlichen Ländern abgespielt hat. Die im Namen der Haushaltskonsolidierung erfolgten Kürzungen von Sozialleistungen, öffentlichen Diensten und Investitionen haben entgegen der bekundeten Absicht zu einem massiven Anstieg der Schulden geführt. Betrug die Staatsschuldenquote in den 15 damaligen EU-Mitgliedsländern 1980 noch 39 Prozent, so ist dieser Wert mittlerweile auf 85 Prozent gestiegen. In den USA gab es einen Anstieg von 41 auf 108 Prozent und in Japan von 50 auf 234 Prozent.

Nicht einmal eine Senkung der gesamten Sozialausgaben ist den Sparkommissaren gelungen. Deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt ist zwar von Land zu Land verschieden, aber seit den frühen 80er Jahren in allen Ländern ziemlich konstant. Aufgrund der stark gestiegenen Einkommensungleichheit ist jedoch die Zahl der Anspruchsberechtigten erheblich gestiegen, sodass die Sozialleistungen pro Kopf gesunken sind. Daher rührt das weit verbreitete Gefühl, dass der Sozialstaat für die, die ihn brauchen, nicht mehr funktioniert.


Schuldenabbau über Export

Das Heraussparen aus der Krise hat offensichtlich nicht funktioniert. Erfolgreicher war das Herausexportieren - in einigen Ländern.

Rezessionsbedingt stieg die Staatsschuldenquote in Deutschland 2010 auf einen Höchstwert von 81 Prozent, ist seither aber wieder auf 60 Prozent gesunken. Ähnlich in den Niederlanden, wo die Quote von 60 auf 53 Prozent gefallen ist. In Irland wurde erst 2012 ein Höchstwert von 120 Prozent erreicht. Seither ist die Schuldenquote aber schon wieder auf 66 Prozent gefallen.

In allen drei Fällen war der Export der entscheidende Wachstumsmotor. Auch wenn er nach der Krise mit geringerer Umdrehungszahl lief als vor der Krise - im Zusammenspiel mit einer Ausgabenpolitik, die die Nettoneuverschuldung bei null hielt, reichte auch ein geringes Wachstum, um die Schuldenquote nach unten zu drücken.

Der über Exporte betriebene Schuldenabbau hat freilich seinen Preis: Lohnzurückhaltung und außenwirtschaftliche Ungleichgewichte. An der Lohnschraube darf nicht gedreht werden, weil steigende Lohnkosten den Export gefährden würden.

Dieses Argument wird von Unternehmern gern und erfolgreich auch dort angewendet, wo der Absatz - wie beispielsweise im Maschinenbau - weniger von Kosten und Preisen bestimmt wird als von der Fähigkeit, spezielle Kundenwünsche befriedigen zu können. Sozialleistungen, öffentliche Dienste und Investitionen dürfen nicht steigen, weil die öffentliche Hand andernfalls statt schwarzer Null wieder rote Zahlen schreiben würde.

Wenig überraschend bestätigt sich bei dieser Sachlage das Gefühl, dass der Sozialstaat nicht mehr funktioniert und dass man sich für Export und Weltmarkt abrackert, von den damit verbundenen Wachstumserfolgen aber abgehängt ist.


Der unheimliche Weltmarkt

Der Weltmarkt ist noch undurchschaubarer als der heimische, dem Anspruch nach durch nationale Gesetze im Zaum gehaltene Markt. Ihm haftet etwas Unheimliches an, das ihn zum idealen Anknüpfungspunkt für rechtspopulistische Bedrohungsszenarien macht.

Aus den Tiefen des Weltmarkts taucht, so will es die fremdenfeindliche Propaganda, die Bedrohung durch ausländische Konkurrenz und Flüchtlinge auf. Dazu noch die Südeuropäer, die sich auf Pump einen feinen Lenz gemacht haben und die Rechnung den hart arbeitenden und brav steuerzahlenden Exportnationen auftischen wollen.

Die auf internationale Wettbewerbsfähigkeit und Schuldenabbau festgelegte Wirtschaftspolitik verstärkt die ohnedies bestehenden Gefühle der Unsicherheit und überlässt es den Rechtspopulisten, ihnen einen politischen Ausdruck zu verleihen.

Das gilt in etwas anderer Form auch in den Schuldnerländern, deren Unternehmen im internationalen Wettbewerb hoffnungslos hinter den Export- und Gläubigerländern hinterherhinken.

Fand sich in Griechenland mit SYRIZA noch eine linke Kraft, die der Unterwerfung unter die Spardiktate aus Brüssel und Berlin etwas entgegenzusetzen versuchte, hat sich die italienische Linke an dem Versuch einer "Unterwerfung mit sozialem Antlitz" aufgerieben. Die italienische Rechte ist in die Bresche gesprungen und versucht nun den Aufstand gegen die Euro-Haushaltsregeln, an dem die griechische Linke gescheitert ist. Mit einem Unterschied: Varoufakis und seine Genossen wussten sehr genau, dass sie gegen die organisierte Macht des Kapitals und dessen politische Repräsentanten kämpften und haben ihre Anhängerschaft entsprechend mobilisiert.


Unterschiedliche Feindbestimmungen

Gegen Euro-Diktate lehnt sich auch die Regierung von Conte, Salvini und Tria auf, unterschlägt aber, dass diese Diktate dem von den Mehrheitsfraktionen des Kapitals bevorzugten politischen Kurs entsprechen. Das Kapital als realer Gegenspieler von Schülern und Studenten, Arbeitern, Arbeitslosen und Rentnern wird durch das Feindbild der Arbeitsmigranten und Flüchtlinge ersetzt.

Hierin sind sich die Rechten im Schuldnerstaat Italien mit ihren Gesinnungskameraden in Gläubigerstaaten wie Deutschland und den Niederlanden einig. Die wirtschaftlichen Ursprünge der Unsicherheit, Angst und Wut, die zu dieser rechten Feindbestimmung führen, sind jedoch in Gläubiger- und Schuldnerstaaten nicht deckungsgleich.

Sicher sind die Profitansprüche des Kapitals die letztliche Ursache allen Ungemachs der arbeitenden Klassen. Aber der in den Gläubigerstaaten herrschende und von der Rechten eifrig bestärkte Eindruck, die Bevölkerung der Schuldnerstaaten liege einem auf der Tasche, ist ökonomisch falsch. Über die statistisch unbedeutenden Struktur- und Regionalfonds hinaus gibt es keine über die EU organisierte Umverteilung von ökonomisch stärkeren in schwächere Regionen.

Der durch die Spardiktate garantierte Schuldendienst stellt aber tatsächlich einen massiven Einkommens- und teilweise auch Vermögenstransfer von den Schuldner- in die Gläubigerstaaten dar. Nur kommt bei den arbeitenden Klassen in den Gläubigerstaaten wenig bis nichts von diesen Transfers an. Das meiste fließt an das große Geld, dessen Besitz in den Gläubigerstaaten konzentriert ist, obwohl sich auch in den Schuldnerstaaten eine erkleckliche Zahl von Kapitalisten findet, die froh sind, dass Brüssel und Berlin die Sparkommissare geben und dafür auch noch die Rolle des Buhmanns übernehmen.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 1, 34. Jg., Januar 2019, S. 12
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2019

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