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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2364: Kaum noch Insekten übrig


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4 · April 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Kaum noch Insekten übrig
Neue Studie mit dramatischen Befunden

von Manuel Kellner


Vor 252 Millionen Jahren waren 90 Prozent aller irdischen Lebensformen ausgestorben. Vor 65 Millionen Jahren verschwanden die großen Dinosaurier und andere große Wirbeltiere. In beiden Fällen waren Menschen nicht dafür verantwortlich. Heute ist das anders: "Wenn wir nichts ändern, können die Insekten in einigen Jahrzehnten ganz ausgestorben sein."


Das geht aus einer neuen Studie (Sánchez-Bayo/Wyckhus) hervor, die die Ergebnisse von über 70 vorangegangenen Studien zusammenfasst und im April dieses Jahres in der Zeitschrift Biological Conservation erscheinen wird. Sie ist online vorab verfügbar.(*)

Ihr zufolge sind heute weltweit 41 Prozent aller Insektenarten im rapiden Prozess des Aussterbens begriffen. Jedes Jahr kommt ein Prozentpunkt dazu. Die Biomasse der Insekten nimmt jährlich um 2,5 Prozent ab. Die Quote ist doppelt so hoch wie bei den Wirbeltieren. Ein Drittel der Insektenarten steht bereits vor dem Aus.

Vincent Bretagnolle, Ökologieforscher am Centre for Biological Studies, fasst das Ergebnis so zusammen: "Es sind kaum noch Insekten übrig - das ist das Problem Nummer eins." Laut Experten sind zum Beispiel in Europa in den letzten 30 Jahren die Fluginsekten um 400 Millionen Individuen zurückgegangen. In der Mittelmeerregion weisen über 60 Prozent der Mistkäferarten einen Rückgang der Stückzahlen um 60 Prozent auf. In bestimmten Weltregionen ist bereits ein Sechstel der Bienenarten ausgestorben. In Großbritannien geht die Stückzahl von 60 Prozent der artenreichsten Insektengruppen zurück, in Nordamerika von 51 Prozent, in Kontinentaleuropa von 44 Prozent.


Schuld ist die Landwirtschaft

Schuld ist nicht der Klimawandel. Nur wenige Arten haben darunter gelitten, vor allem in den Tropen. Auf der nördlichen Erdhalbkugel haben die meisten Insekten davon eher profitiert. Die Forschung geht allerdings davon aus, dass die Erwärmung der Erdatmosphäre auf längere Sicht ein weiterer zerstörerischer Faktor auch auf diesem Gebiet werden wird.

Heute geht allerdings das Insektensterben in den tropischen wie in den gemäßigten Zonen gleich schnell voran - laut Schätzungen, denn bezeichnenderweise liegen weitaus mehr Daten für Nordamerika und Europa vor als für die anderen Teile der Welt.

Insekten stellen rund zwei Drittel aller bekannten Arten. Sie tauchten vor 400 Millionen Jahren auf und spielen seither eine wichtige Rolle für viele Ökosysteme, die zu unseren natürlichen Lebensgrundlagen gehören. Zum Beispiel dienen sie vielen Wirbeltieren als Futter, so Maulwürfen, Igeln, Ameisenbären, Eidechsen, Amphibien, den meisten Fledermäusen sowie vielen Vögeln und auch Fischen. 75 Prozent der 115 wichtigsten Nutzpflanzen wie Obstbäume, aber auch Kakao, Kaffee und Mandeln sind von der Bestäubung von Insekten abhängig.

Sicher ist, dass überlebende Arten die Lücken nicht füllen können, die der Artenschwund reißt. Das Massensterben von Vögeln steht mit dem Insektensterben in unmittelbarem Zusammenhang.

Die wichtigsten Ursachen für das Insektensterben werden von der Studie einmal mehr klar benannt: Verarmung der Landschaft, Rückgang der Vielfalt von Landschaftsformen, intensive Landwirtschaft, zu große Anbauflächen, Monokulturen, Pestizide wie Glyphosat, chemische Düngemittel, Überdüngung, flächendeckende Versiegelung des Bodens, Verdrängung des Lebensraums vieler Arten, intensive Forstwirtschaft, Entwaldung, tödliche Überflutung mit künstlichem Licht, Urbanisierung, generelle Umweltverschmutzung, und auch naturfeindliche private Gartenanlagen und Golfplätze.


Anders leben, anders produzieren!

Sofortmaßnahmen sind dringend erforderlich. Dazu gehört die drastische Reduktion des Einsatzes von Pestiziden und chemischen Düngemitteln, die Einrichtung einer Vielzahl von Schutzzonen, in denen menschliches Eingreifen unterbleibt, das Ende der Subventionierung von Landwirtschaft nach der Größe der Anbaufläche, die massive Unterstützung familiärer und genossenschaftlicher landwirtschaftlicher Kleinbetriebe, die nach ökologischen Maßstäben und im Sinne des Umweltschutzes gesunde und qualitativ hochwertige Lebensmittel produzieren.

Aber täuschen wir uns nicht über die Dimensionen der anstehenden Aufgaben. Schon Karl Marx hat im ersten Band des Kapitals aufgezeigt, dass das Zerstörungspotenzial der kapitalistischen, vom Profitinteresse getriebenen Produktionsweise ganz besonders an der Landwirtschaft sichtbar und fühlbar wird, so durch die Ruinierung der Fruchtbarkeit des Bodens: "Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter."

Die Veränderungen, die wir brauchen, ergeben in der Summe eine ganz andere, eine demokratisch verwaltete, gemeinwirtschaftliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Zu diesen Veränderungen gehören auch eine einschneidende Energiewende und eine drastische Verringerung der Entfernungen, die die Menschen täglich zurücklegen müssen, um zu arbeiten, sich mit Lebensmitteln zu versorgen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Das Problem des Insektensterbens ist ein globales und erfordert zu seiner Lösung eine vernetzte weltweite Bewegung, die gegen die großen Konzerne und Banken und ihre politischen Sachwalter eine ökologisch verantwortliche Produktion durchsetzt, die sich an den Bedürfnissen orientiert. Das Ruder muss in historisch kürzester Zeit herumgerissen werden. Die beginnende globale Revolte gegen den Klimawandel muss mit einer ebenso globalen Revolte gegen die Vernichtung der Arten und der Untergrabung unserer natürlichen Lebensgrundlagen einhergehen.


Anmerkung:
(*) https://phys.org/news/2019-02-world-catastrophic-collapse-insects.html

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 4, 34. Jg., April 2019, S. 6
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2019

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