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SOZIALISTISCHE ZEITUNG/2460: Perspektiven für einen Strategiewechsel im Weltsozialforum


SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12 · Dezember 2019
Friede den Hütten - Krieg den Palästen!

Die weltpolitische Abendröte und die Rebellionen der zivilen Gesellschaft
Perspektiven für einen Strategiewechsel im Weltsozialforum

von Leo Gabriel


Von Santiago de Chile über Quito und La Paz, von Barcelona über Paris bis Beirut, von Bagdad bis Hongkong reicht der weite Bogen der Städte, deren Straßen sich jeden Tag mit unübersehbaren Menschenmengen füllen, um aus scheinbar geringfügigen Anlässen gegen ihre jeweiligen Regierungen zu protestieren. Gleichzeitig tritt eine neue Generation in Form einer globalisierten Ökobewegung auf den Plan, die den ganzen Erdball wie eine politisierte Ozonschicht umgibt, um das Ende des Planeten zu verhindern.


Dass es in letzter Zeit in fast allen Erdteilen zu unzähligen Aufstandsbewegungen gekommen ist, deren politische Zielsetzungen, so divers sie auch erscheinen mögen, gegen die immer monströseren Auswüchse des Kapitalismus in seiner transnationalen Form gerichtet sind, kommt nicht von ungefähr. Denn im Unterschied zu früher, als sich der sogenannte Neoliberalismus schon vom Namen her mit dem Mantel relativ honoriger Zentrumsparteien wie der Sozial- und Christdemokratie umgab und damit das generalstabsmäßig organisierte, vertikal strukturierte Wirtschaftssystem mit Hilfe seiner neu entwickelten Medienmacht ziemlich erfolgreich zudecken bzw. verschleiern konnte, sind heute viele ehemalige Konservative Bündnisse mit den nationalistisch bis religiös-fundamentalistisch eingestellten Rechtspopulisten eingegangen. Im Gegenzug bemühen sich diese wiederum - oft recht krampfhaft -, ihr Image als Faschisten vorgestriger Prägung abzulegen und in das Kleid von sozialkritischen, modernen "Volksbewegungen" zu schlüpfen.

Um die neoliberale Wirtschaft mit der Politik der Rechtsextremen - auf dem Rücken der MigrantInnen - zu verbinden, suchen sich Konzerne und Banken sogenannte "Führungspersönlichkeiten" aus. Je nach Land und Umständen entstammen diese entweder selbst einem milliardenschweren Oligarchen-Clan oder werden von diesen so lange umarmt, bis diese sich willfährig zeigen. Ob sie Trump oder Putin, Macri oder Macron, Erdogan oder Xi Jiping heißen: Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie als Personen eine immer zentralistischer organisierte Weltordnung nicht nur repräsentieren, sondern auch beherrschen.

Doch was tun? Was ist die Strategie, um diesen geballten Kräften entgegenzutreten, welche nicht nur die elementarsten Menschenrechte mit Füßen treten, sondern die einst so hochgelobte Demokratie nicht einmal mehr als Referenz anerkennen? Was tun in einer Welt, in der Rassismus, Wahlbetrug und Polizeistaat (oft auch in Verbindung mit dem organisierten Verbrechen) zum ganz "normalen" Instrumentarium der zeitgenössischen Machthaber geworden sind?


Lehren aus dem globalen Süden

Um diese Frage zu beantworten, genügt es nicht, in den alten Lehrbüchern der linken Ideologien herumzuschmökern und sich in rechthaberischen Schuldzuweisungen zu ergehen. Denn die Herausforderung ist immens, geht es doch darum, eine neuartige politische Kultur zu schaffen, die in der Lage ist, einem anscheinend übermächtigen Gegner Paroli zu bieten.

Gerade in dieser Hinsicht waren und sind die Länder des globalen Südens Exerzierfelder für neue Gedanken, Überlegungen und Utopien geworden, die die Menschen befähigt haben, über den eigenen Tellerrand hinausschauen und die in unzähligen kleineren und größeren Bewegungen ihren Niederschlag gefunden haben. Dazu gehören etwa die kollektiven Bemühungen um eine neue Wirtschaftsordnung, die auf der Basis kooperativen Handelns und nicht auf Konkurrenz aufgebaut sind; aber auch das Konzept eines Ökosozialismus, der von staatlichen Instanzen ausgehend zu einer Vergemeinschaftlichung der öffentlichen Güter, der so genannten Commons, führen soll. Friedens-, Frauen-, und namhafte Sozialbewegungen sind in den letzten Jahrzehnten ebenso entstanden wie die Solidarität mit mehrfach diskriminierten und unterdrückten Volksbewegungen.


Kontroversen im Weltsozialforum (WSF)

Viele dieser Bewegungen sind einander seit 2001 im Rahmen der zunächst jährlich und dann alle zwei Jahre stattfindenden Weltsozialforen (WSF) begegnet und haben sich in Workshops, Seminaren und Versammlungen zusammengetan - wobei es angesichts der Fülle der oft gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen eher um einen Erfahrungs- und Gedankenaustausch als um ein Wirken miteinander gegangen ist. Nur einmal, am 15. Februar 2003, ist es gelungen, alle im WSF vorhandenen Strömungen weltweit zu mobilisieren, um millionenfach gegen den herannahenden Krieg im Irak zu protestieren.

Bis vor kurzem empfanden es die AktivistInnen nicht als notwendig, sich in die konkreten nationalstaatlichen politischen Prozesse über ihre spezifischen Anliegen hinaus einzuschalten. Die sog. Carta de Porto Alegre, das Gründungsdokument des WSF, verbot z.B. ausdrücklich die Teilnahme von bewaffneten Befreiungsbewegungen und von politischen Parteien, die sich dann meistens über ihre zivilgesellschaftlichen Vorfeldorganisationen einbrachten. Aber auch Vorschläge, die eine weltweite Mobilisierung nach dem Vorbild des 15. Februar 2003 beinhalteten, wurden vom Internationalen Rat des Weltsozialforums systematisch zurückgewiesen, mit der Begründung, das WSF als solches verfüge über keine eigenständige politische Subjektivität.

In gewisser Weise war das auch nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass seit der Gründung des WSF in ganz Lateinamerika eine Reihe von Rechtsregierungen durch Linke der verschiedensten Art abgelöst worden waren. Aber auch in Europa wuchsen in den 2000er Jahren in vielen Ländern Linksparteien heran, deren Europa-Abgeordnete sich im Europäischen Sozialforum, einem Ableger des WSF, kennengelernt und politisiert hatten.

Heute hat sich die Situation grundlegend geändert: In Lateinamerika stehen gerade die Linksparteien, die in den letzten 15 bis 20 Jahren Regierungsverantwortung übernommen hatten, vor einem Scherbenhaufen - aus Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Aber auch in Europa ist die Perspektive von potenziell mehrheitsfähigen Linksparteien angesichts des eingangs beschriebenen Dilemmas in weite Ferne gerückt.

Dennoch wäre es verfehlt, von einem Vakuum zu sprechen. Denn - wie ebenfalls eingangs erwähnt - die Zahl und die politische Kampfkraft der zivilgesellschaftlichen Bewegungen ist auf der ganzen Welt enorm gewachsen. Allerdings ist gerade bei der jüngeren Generation auch die Skepsis gegenüber politischen Parteien jedweder Couleur gestiegen. Als Beispiel sei hier die Ökobewegung Fridays for Future genannt, die mit ihrer (übrigens erstmals beim WSF in Cancún aufgetauchten) Losung: "Change the System, not the Climate" den Nagel auf den Kopf getroffen hat.


Mexikos Vorschlag

Angesichts der unheiligen Allianz zwischen dem Finanzkapital und den faschistoid agierenden Rechtspopulisten, die in verschiedenen Teilen der Welt wie im Mittleren Osten (Syrien, Palästina, Irak, Ägypten etc.), am Horn von Afrika, in der Ukraine, im Sudan, in Hongkong, Chile, Venezuela und jetzt auch Bolivien regelrechte Kriege und/oder Bürgerkriege entfesselt haben, ist die Notwendigkeit politischen Handelns für die Mehrzahl der Weltbevölkerung zu einer Überlebensfrage geworden.

Wie aber gelingt es, die unterschiedlichen politischen Milieus und Kulturen so zu vernetzen und miteinander abzustimmen, dass sie gemeinsam aktionsfähig werden, um dem immer zentralistischeren Machtgefüge auf der Welt Paroli bieten zu können?

Im Internationalen Rat ist seit längerem eine Diskussion in Gang, ob nicht gerade das Weltsozialforum imstande wäre, eine Art Clearing-Stelle für die Kommunikation zwischen den einzelnen Bewegungen weltweit zu bilden. Ausgehend von heftigen Debatten in Mexiko, wo - so der Vorschlag der MexikanerInnen - Mitte Oktober 2020 das nächste Weltsozialforum stattfinden soll, wird daran gearbeitet, im Rahmen von gut vorbereiteten Asambleas de Resistencia (Widerstandsversammlungen) schrittweise einen zunächst kontinentalen und dann interkontinentalen Aktionsplan zu erstellen.

Damit dieses Unterfangen aber nicht nur eine Formsache bleibt, wird es notwendig sein, auch zwischen den einzelnen Themenbereichen eine Kommunikation herzustellen, die über das wechselseitige Zuhören hinausgeht. So müsste etwa klar und transparent dargestellt werden, dass der Klimaschutz ganz eng mit dem von der Solidarwirtschaft geforderten Buen Vivir (nachhaltigen Leben) verbunden ist; dass soziale Gerechtigkeit erst dann Platz greifen kann, wenn ihr die horrenden Mittel, die derzeit für Rüstung ausgegeben werden, zur Verfügung gestellt werden; dass Kriege nicht mehr notwendig sein werden, wenn weltweit das Selbstbestimmungsrecht aller Völker dieser Erde garantiert wird; und, last but not least, dass die Zerstörung und der Raub an Ländereien nur dann verhindert werden kann, wenn die Ausbeutung nicht erneuerbarer Ressourcen gestoppt wird.

Um alle diese Ziele zu erreichen, liegt ein langer Weg vor uns, der nur dann in unser Blickfeld rücken wird, wenn wir erkennen, dass wir bereits ein ganz schönes Stück dieses Weges zurückgelegt haben und die Jahre und Jahrzehnte unserer gemeinsamen politischen Erfahrungen nicht umsonst, sondern Vorreiter einer Zukunftsvision waren, die es jetzt umzusetzen gilt.


Leo Gabriel ist Journalist und Sozialanthropologe, Mitherausgeber der Zeitschrift Lateinamerika anders, Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums.

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Quelle:
SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 12, 34. Jg., Dezember 2019, S. 3
Herausgeber: Verein für solidarische Perspektiven (VsP)
SoZ-Verlag, Regentenstr. 57-59, 51063 Köln
Telefon: 0221/923 11 96E-Mail: redaktion@soz-verlag.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Januar 2020

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