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VORWÄRTS/743: Das Verhältnis von Anarchismus und Marxismus


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 2011 vom 24. Juni 2011

Das Verhältnis von Anarchismus und Marxismus

Von Thomas Schwendener


Das Verhältnis zwischen Anarchismus und Marxismus ist konfliktbeladen: Seit sich die beiden Strömungen in der "Ersten Internationale" getrennt haben, hat es bei verschiedenen Gelegenheiten strategische Bündnisse gegeben, aber man hat sich auch immer wieder bis aufs Blut bekämpft - im wahrsten Sinne des Wortes. Das Buch "Begegnung feindlicher Brüder", welches kürzlich beim Unrast-Verlag erschienen ist, wirft einen Blick auf das Verhältnis der beiden grossen Strömungen der sozialistischen Bewegung.


Den Anfang des Buches macht ein Aufsatz über die Kontroverse zwischen Marx und Bakunin in der "Ersten Internationale". Der Streit zwischen den beiden habe vor allem entlang zweier Konfliktlinien stattgefunden: Zum einen gab es eine Diskussion über die Eroberung beziehungsweise Zerschlagung der politischen Macht. Zum anderen ging es um die Organisationsfrage: den Zentralismus und die Homogenisierung der "Ersten Internationale". Der Text von Wolfgang Eckhardt bleibt allerdings zum grössten Teil auf einer formalistischen Ebene, statt eine Analyse des konkreten Inhalts anzustrengen. Und so kommt dann auch vor allem Karl Marx schlecht weg. Einseitig wird behauptet, der Vordenker des Marxismus sei ein Machtmensch gewesen und habe mit allerlei strategischen Kniffen schliesslich das Auseinanderbrechen der Internationale zu verantworten.

Eckhardt spricht sich in seinem Aufsatz für einen offenen Pluralismus aus und umgeht damit die Frage nach der politischen Notwendigkeit einer Klärung und Ausrichtung. Die Frage, ob und welche Positionen von Marx und Bakunin richtig oder falsch waren, kommt im Text nicht vor. Es wäre weitaus interessanter gewesen, die inhaltlichen Differenzen fundierter zu untersuchen und sich - gerade auch im Hinblick auf aktuelle Debatten - zu fragen, welche Positionen für eine Assoziation revolutionärer Kräfte zielführend sind.


Die Staatskritik von Marx

In einem sehr aufschlussreichen Text von Karl Reitter weist dieser nach, dass Marx zwar als politischer Taktiker die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterassoziation anstrebte, aber in seinen Schriften auch eine kategoriale Kritik am Staat entwickelte. Reitter widerspricht damit der weit verbreiteten Auffassung, dass Marx ausschliesslich der Vordenker einer Übernahme der Staatsmacht gewesen ist. Marx habe nämlich davon gesprochen, dass die Trennung von Sozialem und Politischem, von Gesellschaft und Staat, selber eine besondere historische Konstellation sei, welche überwunden werden müsse. Die Emanzipation des Menschengeschlechts sei erst vollbracht, wenn der individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknehme und als individueller Mensch zum Gattungswesen werde. Wenn also die Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft überwunden werde. Marx findet dazu ganz klare Worte: "Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen die übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft (...) Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klasse an die andere zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft zu zerbrechen." Vor diesem Hintergrund muss der Widerspruch zwischen Anarchismus und Marxismus zumindest in der Frage der Staatskritik in Zweifel gezogen werden.


An der Schnittstelle

Im Buch findet sich auch ein Text von Gerhard Hanloser zu den RätekommunistInnen. Der Autor schreibt, dass Unterschiede zwischen gewissen Tendenzen im Marxismus und den "kollektivistischen" Strömungen innerhalb des Anarchismus - die individualistischen Strömungen werden im Buch zu recht nur marginal behandelt - vor allem von strategischer Natur waren. Der Rätekommunismus zum Beispiel beruhe zwar fest auf einer marxistischen Analyse der Verhältnisse, aber in seiner politischen Dimension sei er an der Schnittstelle zum Anarchismus anzusiedeln. Die RätekommunistInnen seien mit ihrem Anti-Etatismus, der Betonung der Spontaneität der Massen und ihrer Kritik an der Sowjetunion sehr nahe an den erwähnten "kollektivistischen" Strömungen. In der Praxis haben die RätekommunistInnen dann auch häufig das Bündnis mit dem revolutionären Syndikalismus gesucht, von welchem sie sich eben in ihrer politischen Ausrichtung nicht so sehr unterscheiden. Dies gilt allerdings für die Analyse der Gesellschaft nur bedingt: Während bei den AnarchistInnen der Wille eine zentrale Kategorie ist, bezieht sich der Rätekommunismus auf die Analyse der objektiven Situation. Zudem ist der Anti-Etatismus des Rätekommunismus theoretisch fundiert, während er beim Anarchismus all zu häufig einfach eine ablehnende Haltung darstellt, ohne den Staat als Staat des Kapitals zu begreifen und zu analysieren.


Fazit

Das Buch beinhaltet einige lesenswerte Texte. Erwähnt seien hier noch die Kritik an Wolfgang Harichs Kritik am Anarchismus und die politischen Portraits der "absonderlichen Sozialdemokraten" Fritz Brupbacher und Franz Pfemfert. Doch es sind auch wenig aufschlussreiche Texte versammelt. So kann man sich fragen, was eine postoperaistische Annäherung an den Anarchismus interessant machen soll und ob man wirklich nachweisen musste, dass Antonio Gramsci mit dem Anarchismus nicht sonderlich viel anzufangen wusste oder dass Georges Sorel mehr Anarchist als Marxist war.

Die Textsammlung löst die grosse Aufgabe, das Verhältnis von Anarchismus und Marxismus zu klären trotz einigen interessanten Beiträgen nur ungenügend ein. Man kann mit dem Buch aber durchaus einige weit verbreitete Irrtümer über die jeweiligen Strömungen auflösen und einen Blick über den eigenen Tellerrand riskieren. Es war wohl eine Stärke der 68er, dass für die Bewegung zumindest in der Anfangszeit keine kategoriale Trennung von AnarchistInnen und MarxistInnen konstitutiv war, sondern sich in gewissen Strömungen Momente von beidem verbanden. Denn eines ist klar: Will man eine fundierte Kritik am Kapitalismus leisten, dann kommt man um die marxistische Theorie nicht herum. Zudem ist eine fundierte Kritik am Staat notwendig und diese findet sich - wie im vorliegenden Buch nachgewiesen wird - auch bei Marx. Auf der anderen Seite kann trotz der fehlenden differenzierten Analyse der freiheitliche und antiautoritäre Impuls gewisser "kollektivistischer" anarchistischer Strömungen für den Marxismus durchaus belebend sein.


Philippe Kellermann (Hg.): Begegnung feindlicher Brüder. Zum Verhältnis von Anarchismus und Marxismus in der Geschichte der sozialistischen Bewegung. Münster 2011. 193 Seiten. 14 Euro.


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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24/2011 - 67. Jahrgang - 24. Juni 2011, S. 8
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2011