Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1117: Nein zum Leben im Bunker!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 3. Juli 2015

Nein zum Leben im Bunker!

Von Amanda Ioset


In Genf wehren sich Asylsuchende gegen ihre Unterbringung in Zivilschutzbunkern und besetzten spontan die "Maison des Arts du Grütli" mitten im Stadtzentrum. Die Regierung argumentiert mit dem Vorwand einer "Notsituation" und einem "massiven Flüchtlingsstrom". Das ist blanker Unsinn.


Die Bewegung "No Bunkers - Collectif d'occupation du Grütli" lässt die Westschweiz erschüttern. Etwa vierzig Asylsuchende zusammen mit Dutzenden solidarischen Menschen besetzen seit rund zwei Wochen die "Maison des Arts du Grütli" mitten im Stadtzentrum von Genf. Darüber herrscht wie üblich in den Deutschschweizer Medien eine regelrechte Funkstille. Es handelt sich zwar um einen lokalen Kampf, dennoch ist die Debatte, welche die Bewegung angestossen und mit der sie die ganze politische Szene in Genf aufgewirbelt hat, für die ganze Schweiz von Bedeutung. Am 15. Juni bekommen mehrere Asylsuchende, die im "Foyer des Tattes", einem oberirdischen Asylzentrum in Vernier (GE), leben, einen Brief. Darin ist zu lesen, dass sie gezwungenermassen und unverzüglich in unterirdische Zivilschutzanlagen umziehen müssen. Der individuelle Widerstand angesichts dieser Anordnung wandelt sich bald um in eine kollektive Empörung: "Diese Bunker sind da für den Fall eines Krieges und nicht, um Menschen unterzubringen!" Innerhalb des "Foyer" beginnt sich eine Protestbewegung zu bilden. Die Asylsuchenden nehmen mit SchweizerInnen Kontakt auf, die sie kennen. Informationen werden über die sozialen Netzwerke und per SMS verbreitet. Menschen, die sich mit der Bewegung solidarisieren, beginnen ins "Foyer" zu strömen, um den Umzug in die Bunker zu verhindern. Die Polizei greift ein und vertreibt die Bewegung 0vom Gelände des "Foyers".

Diese Polizeiintervention kann die Wut jedoch nicht bändigen, die sich nach all den Jahren der täglichen Demütigung aufgestaut hat. Die Unterbringung in unterirdischen Bunkern, ohne Fenster, ohne Tageslicht, ohne Möglichkeiten, selber zu kochen - und das wenige Tage vor Beginn des Ramadan - wird zu Recht als offene Provokation aufgefasst. Es ist der Funke, der den Flächenbrand entzündet. Eine spontane Demo setzt sich in Bewegung und macht nicht halt, bis sie im Stadtzentrum von Genf ankommt. Hier besetzen die Asylsuchenden und die sich mit ihnen solidarisierenden Menschen die "Maison des Arts du Grütli".


Das Argument der "Notsituation"

Die Bewegung organisiert sich: Während sich die einen mit der Logistik befassen (es muss jeden Tag für mehr als hundert Personen gekocht werden), kümmern sich die anderen um die Verhandlungen mit der Stadt und dem Kanton, um die Rechtsberatung der Asylsuchenden oder um die Kommunikation mit den Medien. Fortlaufend schliessen sich neue Personen, die in die Bunker transferiert werden sollen, der Grütli-Besetzung an, sodass sich die Zahl der Asylsuchenden in der Bewegung innerhalb kürzester Zeit verdoppelt hat. Eine Woche nach Beginn der Besetzung werden mit einer Demonstration rund 1500 Menschen mobilisiert. Sie fordern das Ende der Transfers in die Bunker, und generell eine anständige Unterbringung für alle Asylsuchenden: Die reiche Schweiz darf menschliche Wesen nicht länger wie Waren behandeln, die man lagern und nach Gutdünken hin und her schieben kann.

Um die Transfers zu rechtfertigen, benutzt die Regierung das Argument der "Notsituation" wegen dem "massiven Zustrom von Flüchtlingen", der ständig zunehmen würde. So würden syrische Familien, die aus dem Bürgerkriegsgebiet fliehen, demnächst in die Schweiz strömen. Daher sei es bloss zweckmässig, dass die jungen, ledigen Männer den Familien ihren Platz im Asylzentrum überlassen sollen. Damit ist man wieder bei der klassischen Argumentation angelangt, die in der Schweiz seit Jahren als Vorwand für alle Arten von Verschärfungen im Asylrecht herhalten muss. Auch wenn diese Pseudoargumente ihre Wirkung auf die Presse und die Bevölkerung der Schweiz nicht verfehlen: sie sind blanker Unsinn.


Kollektive Psychose

Wie kann die Regierung es wagen, von einer "Notsituation" zu sprechen, wenn der Krieg in Syrien seit 2011 andauert und seit Monaten bekannt ist, dass die Schweiz ein neues Kontingent von 3000 Flüchtlingen aufnehmen will? Wie kann sie es wagen, hierbei von einer "temporären Massnahme" zu sprechen, obwohl alle wissen, dass Asylsuchende für Monate, wenn nicht Jahre in solchen Bunkern untergebracht werden? Es ist notwendig, dass man endlich zugibt, dass das Problem des Platzmangels im Asylwesen nicht einer besonderen Konjunktur geschuldet ist, sondern dass es sich um ein wiederkehrendes Problem handelt. Die Ursachen dafür sind bekannt: die Anpassung der Strukturen auf 10.000 Asylanträge pro Jahr - durchgesetzt in der Ära Blocher, die allgemeine Wohnungsnot und die Untätigkeit der Regierung. Das Problem wird nicht durch eine überstürzte Unterbringung in Zivilschutzanlagen gelöst. Vielmehr sind Massnahmen gefordert, die es den Kantonen erlauben, ihre Kapazitäten der fluktuierenden Zahl von Asylanträgen anzupassen.

Es besteht tatsächlich Handlungsbedarf, aber nicht dort, wo man ihn sich einbildet. Handlungsbedarf besteht darin, der grassierenden kollektiven Psychose in Bezug auf Flüchtlinge ein Ende zu setzen. Handlungsbedarf besteht darin, mit der Kriminalisierung von denjenigen aufzuhören, die Widerstand leisten und nicht akzeptieren, wie Waren behandelt zu werden. Handlungsbedarf besteht darin, eine Lösung zu finden, die diesen Menschen ein menschenwürdiges Leben garantiert. Menschen, die zum Äussersten getrieben wurden und ihrer Wut und ihren Forderungen mit Mut und Entschlossenheit Ausdruck geben.

Die grosse Solidarität, die diese Asylsuchenden und ihre UnterstützerInnen gegenwärtig zeigen, macht uns Hoffnung. Hoffnung, dass ihr Slogan einmal der Wirklichkeit entsprechen wird: "Say it loud, say it clear, refugees are welcome here!"

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 25/26 - 71. Jahrgang - 3. Juli 2015, S. 1
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: Vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang