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VORWÄRTS/1449: Zucktown? Im Hinterhof von Silicon Valley


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 07/08 vom 7. März 2019

Zucktown? Im Hinterhof von Silicon Valley

Interview mit Ofelia Bello von Katja Schwaller (*)


Linkerhand ragt ein übergrosser "Gefällt-mir"-Daumen in die Luft und ein paar Touristen machen Selfies vor dem Welthauptsitz von Facebook. Rechts geht es nach East Palo Alto - zu denen, die das Büro putzen und den hochbezahlten Tech-Mitarbeitenden in den firmeneigenen Kantinen das Essen servieren. Warum die ärmste Stadt im Silicon Valley trotz aller Probleme auch Anlass zum Träumen gibt, erklärt die Latina-Aktivistin und Stadtforscherin Ofelia Bello im Interview.


Frage: Im Herzen des Silicon Valleys liegt das reiche Palo Alto mit der prestigeträchtigen Standford Universität. Gleich daneben findet sich die separate Stadt East Palo Alto (EPA). Was ist East Palo Alto, und wie ist der Ort zu dem geworden, was er heute ist?

Ofelia Bello: East Palo Alto ist die einzige Stadt im Silicon Valley, die bereits seit Längerem eine überwiegend nicht-weisse, der Arbeiterklasse zugehörige Bevölkerung mit sehr geringem Einkommen beherbergt. Historisch gesehen war es vor allem eine schwarze Stadt, und heute ist sie sie stark von Latin@s geprägt. Im Gegensatz zum überbordenden Reichtum der umliegenden Tech-Campusse und wohlhabenden Suburbs kämpft EPA mit einer kleinen Steuerbasis, sehr wenigen Jobs und überproportional vielen Gesundheitsproblemen in der Bevölkerung, was zum Teil auf die Verseuchung des Bodens sowie die umliegenden Autobahnen, die EPA vom Rest des Valley abspalten, zurückzuführen ist. Dies sind alles Eigenschaften, die typisch sind für Communities of Color in den USA - und sie kristallisieren sich alle hier in EPA, trotz des makellosen High-Tech-Image des Silicon Valley.

Frage: Wie kommt es denn, dass EPA zu einer so segregierten und armen Gemeinde heranwuchs, während Palo Alto immer reicher wurde?

Ofelia Bello: Einer der Gründe ist ihr industrielles Erbe. Bald nachdem das Land hier den Native Americans abgejagt wurde, etablierte sich das heutige EPA als Standort für die Leichtindustrie, denn unser Gebiet grenzt ans Wasser. Das hat die Landpreise auf dieser Seite der entstehenden Stadt gedämpft, verglichen mit Palo Alto, das rund um die Standford Universität heranwuchs. Während Palo Alto schnell zu einer typischen suburbanen Gemeinde aufstieg, blieb EPA - das durch ein Bahngeleis von den umliegenden Gebieten abgeschnitten war - unterentwickelt. Bis zum Zweiten Weltkrieg war EPA eine überwiegend weisse und proletarische sowie später auch japanisch geprägte Nachbarschaft mit Jobs in der Landwirtschaft und Blumenzucht - schliesslich war das Silicon Valley damals noch von Obstbäumen übersät. Dann kam es zur "Great Migration", als viele Schwarze aus dem segregierten Süden zu den Jobs in der Kriegsindustrie im Norden aufbrachen. Einige gingen nach San Francisco und Oakland, und andere liessen sich hier nieder, um in den umliegenden Fabriken und in der Dienstleistungsindustrie zu arbeiten. In dieser Zeit wurde EPA zu einer überwiegend schwarzen Stadt - und das war auch der Moment, als die Autobahnen gebaut wurden. Die Bevölkerung in EPA setzte sich verbissen dagegen zur Wehr, denn EPA wurde dadurch nicht nur in zwei Teile gehackt, sondern auch von den umliegenden Gemeinden abgeschnitten, was den Ausschluss der Stadt aus dem übrigen Silicon Valley in Stein meisselte. Leider ist es ihnen aber nicht gelungen, das Projekt aufzuhalten.

Frage: Damals verfügten auch viele Quartiere über vertraglich festgelegte rassistische Beschränkungsklauseln, die Nicht-Weisse fernhalten sollten. Und die Immobilienindustrie übte sich fleissig im sogenannten "Blockbusting" ...

Ofelia Bello: Richtig. Nachdem die erste schwarze Familie nach EPA gezogen war, ging die Immobilienindustrie zur gängigen Taktik des Blockbusting über: Vertreter der Immobilienfirmen gingen im Quartier herum und erzählten überall, dass der Damm nun gebrochen sei und massenhaft Schwarze zuziehen würden und der Wert des Hauseigentums dadurch drastisch sinken würde - damit die Leute ihren Besitz günstig verkaufen. Danach verkauften Spekulanten die Häuser zu exorbitanten Preisen an schwarze Familien, die keine andere Wahl hatten, da sie in den meisten Quartieren ohnehin kein Haus erwerben konnten, sei es aufgrund rassistischer Ausschlussklauseln oder der schieren Gewalt eines Bürgermobs. Es war also ein sehr aktiver und gezielter Prozess.

Frage: In den 1990er Jahren erhielt EPA dann den Übernamen "Mordhauptstadt der USA". Vielleicht mögen sich einige Leser*innen noch an den Film Dangerous Minds und seinen Themensong "Gangsta's Paradise" erinnern. Aber vermutlich wissen nur die wenigsten, dass dieser Film auf einer wahren Geschichte aus EPA beruht. Du bist in dieser Zeit in EPA aufgewachsen - wie hast du das damals erlebt, und was ist deine Analyse?

Ofelia Bello: Man kann nicht über die 90er Jahre reden, ohne zu erwähnen, dass schwarze Quartiere in den USA in den 80er Jahren gezielt mit Crack infiltriert wurden. Und zu der Zeit war EPA etwa 76 bis 80 Prozent schwarz. Was dann geschah, war offen gesagt die Dezimierung einer ganzen Stadt, die Dezimierung einer schwarzen Gemeinde. Und heute wissen wir, dass dies das Resultat gezielter politischer Machenschaften war, die von der Regierung und dem CIA gesteuert wurden. Ohne die Crack-Epidemie und die damit einhergehende Besatzung durch die Polizei könnte man schlecht erklären, wieso ausgerechnet eine so kleine Stadt wie EPA, umgeben von so viel Wohlstand, zur Mordhauptstadt der USA werden konnte. Meine Familie ist ursprünglich aus Mexiko und lebt seit 1989 hier. Ich bin hier zur Schule gegangen. EPA war meine ganze Welt, ich kannte gar nichts anderes, und so meinte ich, das sei der normale Gang der Dinge. Andererseits war mir bereits bewusst, dass wir uns grundsätzlich von unseren reichen Nachbarn unterschieden. In den Medien wirst du das nicht lesen, aber es war nicht die Polizei, die der Gewalt ein Ende bereitete, es waren langjährige Anwohner*innen, die sich einmischten und sagten: "Das ist nicht die Community, die wir sein wollen." Die Kriminalitätsstatistiken erreichten in den 90er Jahren einen Höhepunkt und sind dann bald wieder gesunken, doch das Stigma blieb haften. Man sagte nicht gerne, dass man aus EPA kommt, das stand so in Verruf.

Frage: Eine der krassesten Auswirkungen der boomenden Tech-Industrie im Silicon Valley ist die Verdrängung der eingesessenen Bewohnerschaft, eine Entwicklung, die sich mittlerweile fast überall in der Bay Area beobachten lässt. Sogar in EPA sind die Mieten durch den Zuzug von Facebook-Angestellten rasant angestiegen. Wird EPA gentrifiziert? Oder ist EPAs schlechter Ruf heute vielleicht sogar manchmal ein Vorteil?

Ofelia Bello: Du hast völlig Recht, lustig, dass du das so formulierst. Genau so war es bis vor etwa fünf Jahren. Die Leute hatten einfach Angst - irgendwie unbegründet, aber was soll's - und das hat uns lange vor gewissen Entwicklungen wie Gentrifizierung bewahrt.

Frage: Und nun sieht man aber auch gutbezahlte Facebook-Angestellte und Studierende der Standford Universität zuziehen?

Ofelia Bello: Genau, denn die ganze Region ist mittlerweile unbezahlbar, und wir sind zurzeit noch etwas günstiger. Besonders im Westen von EPA gibt es nun mehr Standford-Student*innen, sowie Programmierer und Entwicklerinnen von Facebook, Google und Hewlett-Packard, den drei nächstgelegenen Tech-Unternehmen. Neuerdings haben wir hier auch noch einen Amazon-Hub, der zusätzliche 1300 Angestellte bringen soll. Angesichts des schlechten ÖV-Systems und endloser Verkehrsstaus, kann man davon ausgehen, dass die alle auch hier wohnen wollen, in der Nähe ihres Arbeitsplatzes.

Frage: Es kommt also zu Kündigungen, Zwangsräumungen und Verdrängung?

Ofelia Bello: Sehr viele Leute haben bereits ihr Zuhause verloren. Bei Phänomenen wie Verdrängung und Rauswürfen von Mieter*innen ist das ja jeweils nicht ganz so einfach mit den Zahlen. Klar, wenn der Sheriff zu dir nach Hause kommt und eine Zwangsräumung durchführt, dann wird das dokumentiert. Aber in vielen Fällen werden einfach die Mieten verdoppelt oder sogar verdreifacht, oder Leute werden aus total gesuchten Vorwänden auf die Strasse gestellt. Zudem gibt es hier viele überbelegte Haushalte. Gerade Latin@- und polynesische Haushalte funktionieren meist generationsübergreifend. Das bedeutet, dass der Rauswurf einer einzigen Familie oft sehr viele Leute betrifft.

Frage: Und viele der Leute, die nun verdrängt werden, haben jahrzehntelang hier gewohnt, durch all die schwierigen Jahre hindurch. Kaum wird es etwas besser, fliegen sie raus.

Ofelia Bello: Das ist richtig. Viele der Anwohner*innen, die Vorbilder sind, da sie dazu beigetragen haben, unsere Community aus der Gewaltspirale zu befreien, werden nun von der Gentrifizierung verdrängt. Sie haben eine Gemeinschaft mitaufgebaut und können nicht einmal geniessen, was sie mitgeschaffen haben. Das ist echt brutal. Verdrängung und Gentrifizierung hinterlassen ein Gefühl des tiefgreifenden Verlustes. Ein Teil davon betrifft materielle Dinge, die Leute verlieren ja buchstäblich ihr Zuhause. Aber vieles davon betrifft den Verlust von Community und sozialen Beziehungen. Und das wirkt sich in beide Richtungen aus. Wer verdrängt wird, verliert viel, und die Nachbarschaft, die von der Anwesenheit dieses Menschen profitierte, verliert ebenfalls.

Frage: Als Folge hat die Obdachlosigkeit im Silicon Valley in den letzten Jahren stark zugenommen, genauso wie die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit, was sich immer wieder in der Räumung von Trailer-Camps äussert...

Ofelia Bello: Leider, ja. Immer mehr Familien leben heute in Wohnwagen, oder sie ziehen von einer Couch zur nächsten oder kommen bei Angehörigen in bereits überfüllten Räumlichkeiten unter. Und das hat ganz grundsätzlich negative Auswirkungen: Es schränkt die Funktionsfähigkeit unserer Stadt ein, gefährdet die Finanzierung unserer Schulen - kurz, es schadet allen. Leider waren wir bislang nicht sehr erfolgreich darin, diesen Prozess zu verlangsamen. Oder vielleicht haben wir in diesem Bereich mehr getan als angrenzende Städte, aber es ist eben nicht genug.

Die Leute in den Wohnwagen sind alle Working Poor. Sie haben Vollzeitjobs und arbeiten nicht selten im Dienstleistungsbereich für angrenzende Tech-Unternehmen, verdienen aber nicht genug zum Leben. Nebst den schwierigen Lebensbedingungen kommt es auch immer wieder zu Übergriffen durch die Polizei, wenn sich Zuzüger*innen mal wieder über die Trailer am Strassenrand beklagen.

Frage: Eine jüngere Studie der Second Harvest Food Bank kommt zum Schluss, dass eine von vier Personen im Silicon Valley an sogenannter Nahrungsmittelunsicherheit leidet, also Gefahr läuft, Hunger zu haben - mitten in einer der reichsten Gegenden der Welt. Manche nennen es das "Silicon Valley Paradox)) - wenn ein Vollzeitjob in einer der firmeneigenen Cafeterien, wo die hochbezahlten Angestellten der Tech-Industrie alles kostenlos bekommen, nicht mehr ausreicht, um zuhause Essen auf den Tisch zu bringen ...

Ofelia Bello: Die soziale Ungleichheit ist einfach nur noch widerlich. So lange ich mich erinnern kann, waren über 90 Prozent der Kinder in unserer Schulgemeinde für das kostenlose oder kostenreduzierte Schul-Mittagessen angemeldet - weil ihre Familien nicht genug Geld hatten. Sehr viele hart arbeitende Familien sind obdachlos, weil die Mieten schlicht nicht mehr bezahlbar sind. In den letzten Jahren sind sie derart hochgegangen, dass viele vor der Wahl stehen, entweder 70 Prozent ihres Einkommens für die Miete zu aufzuwenden - was die einen tun, aber dann bleibt nicht mehr genug für das Essen übrig - oder man entscheidet sich, in einem Trauer zu wohnen, um wenigstens Essen auf den Tisch zu stellen.

Gleichzeitig sind Tech-Unternehmen für gutverdienende Angestellte Spielwiese und Kindergeburtstag in einem, man kann während der Arbeitszeit ins Fitness-Studio gehen und sich jedes erdenkliche Essen servieren lassen - kostenlos, versteht sich. Aber die, die den Dreck hinter ihnen wegputzen und das Essen servieren, stehen vor der Wahl, ein Dach über dem Kopf oder genug zum Essen zu haben. Und das beschreibt das Lebensgefühl in EPA eigentlich ganz gut: Man rackert sich immer ab, während rund herum alles im Überfluss schwimmt. Und das war schon immer so, soweit ich mich erinnern kann. Auch meine Eltern haben sich immer so gefühlt.

Frage: Deine Eltern arbeiten seit Jahrzehnten für die Tech-Industrie. Doch im Gegensatz zu den privilegierten, hochbezahlten Programmierinnen und Entwickler tauchen Arbeitskräfte wie sie - mit niedrigen Einkommen, einer Migrationsgeschichte, papierlos - in den offiziellen Belegschaftsstatistiken kaum auf. Stattdessen arbeiten sie meist für Subunternehmen. Was sind das für Arbeiten, die Menschen wie deine Eltern für Tech-Unternehmen ausführen?

Ofelia Bello: EPA ist bereits seit den 70er Jahren eine Gemeinschaft von Billiglohn-Arbeitnehmenden, hauptsächlich aus dem Dienstleistungssektor. Die Leute arbeiten im Einzelhandel, in der Raumpflege und in anderen schlecht bezahlten Jobs. Auch meine Eltern haben fast ihr ganzes Leben lang in solchen Jobs gearbeitet, hauptsächlich im Bereich Hauswartung und Raumpflege von Tech-Büros. Und ganz offensichtlich ziehen es die Tech-Unternehmen vor, die Verantwortung für die Billiglohn-Angestellten an Subunternehmen abzugeben. Sie möchten lieber nicht für die Menschen verantwortlich sein, die hinter ihnen den Dreck wegputzen. Das ist die Realität, mit der Menschen wie meine Eltern leben müssen. Und es bedeutet, dass sie unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten.Es ist einfach ein himmelschreiender Unterschied, wie Leute wie meine Eltern behandelt werden, gegenüber der privilegierten Behandlung, die Programmierinnen und Entwickler erfahren. Es zeigt dir ganz klar, wessen Arbeit Wertschätzung erfährt, und wessen nicht. Angestellte im Dienstleistungsbereich an der nahen Stanford Universität oder in den umliegenden Tech-Unternehmen sind komplett unsichtbar. Sie tauchen wieder in den Belegschaftsstatistiken ihres Arbeitgebers auf, noch erhalten sie angemessene Sozialleistungen. Hier in EPA arbeiten fast alle in solchen Jobs, und das ist schon lange die Realität unserer Stadt, was es sehr schwierig macht, uns als Community of Color eine wirtschaftliche Grundlage aufzubauen.

Frage: In einem medial wohl inszenierten Schritt hat Facebook kürzlich zehn Millionen Dollar an NGOs und Schulen in EPA gespendet - wie steht es um die Beziehung von EPA und Facebook?

Ofelia Bello: Also hier in EPA nennen wir das "auf den heissen Stein spucken". Schliesslich ist das nicht mehr als ein bisschen Spucke auf den heissen Stein, wenn es darum geht, die bestehenden Bedürfnisse und die von Facebook selbst verursachten negativen Auswirkungen zu adressieren. Eigentlich heisst es ja "ein Tropfen auf den heissen Stein", aber wir nennen es nicht Tropfen, sondern Spucke, denn wir mussten sie dafür gehörig in die Mangel nehmen. Denk bloss nicht, Mark Zuckerberg sei eines schönen Morgens aufgewacht und hatte plötzlich das Bedürfnis, zehn Millionen an EPA zu spenden. Dieses Geld ist das Ergebnis von jahrelangen Kämpfen und Organisierungen. Eigentlich stammt das Geld nämlich aus einem Vergleich für einen Prozess, den Aktivist*innen in EPA gegen Facebook anstrebten. Das Unternehmen zog jedoch einen Vergleich vor, statt eine Verzögerung für ihr Projekt zu riskieren. In AktivistInnenkreisen - fragen wir - uns noch immer, ob wir sie nicht besser verklagt hätten. Denn das ist einfach nicht genug, um den Schaden, den sie angerichtet haben, wieder auszubügeln. Aber die Medien liegen ihnen natürlich zu Füssen, ihre PR ist makellos. Sie wissen genau, was sie sagen müssen, und wie sie es sagen müssen.

Frage: Viele der NGOs und Organisationen in EPA, die Facebook und anderen Tech-Unternehmen die Stirn bieten und ihre Rolle kritisch beleuchten, sind von denselben Tech-Unternehmen finanziert. Ist EPA eine Company Town?

Ofelia Bello: Das ist eine gute Frage, die wir uns in EPA oft stellen. Ich würde sagen ja und nein. Viele der lokalen NGOs leisten sehr wichtige Arbeit, aber viele von ihnen erhalten auch Gelder von Facebook, was ihnen gegenüber diesen Unternehmen auf die eine oder andere Weise die Hände bindet. Man will ja nicht die Hand beissen, die einen füttert. Das ist der Ja-Teil. Es gibt aber auch viele Aktivist*innen und Gruppen, die aktiv nichts mit Facebook zu tun haben wollen. Sie wollen keine Gelder, sie wollen keine Verhandlungen - vielleicht reden sie mal mit denen, wenn es nötig ist, aber sie wollen keine Beziehungen mit Facebook, sie wollen sich nicht vereinnahmen lassen. Denn genau das ist es, was Facebook macht, sie vereinnahmen NGOs, die eigentlich wirklich gute Arbeit leisten. Und das ist ein grosses Problem hier, es schürt viel Misstrauen.

Frage: Denn die allgemeine Haltung in EPA ist, dass die Leute Facebook nicht mögen?

Ofelia Bello: Ja, auf jeden Fall, die allgemeine Haltung ist, dass Facebook das Problem ist. Je höher das Einkommen, desto weniger sehen die Leute Facebook als Problem an. Aber Leute mit geringen Einkommen, die 40 oder 50 Prozent davon für die Miete aufwenden müssen, wissen, dass Facebook das Problem ist. Es macht die Situation noch schwieriger, wenn da ein Tech-Unternehmen kommt und Misstrauen in einer Gemeinschaft sät, die bereits an allen Fronten am Kämpfen ist.

Frage: Und nun will Facebook auch noch expandieren, unter anderem mit dem Bau eines sogenannten "Willow Village" im benachbarten Menlo Park, das komplett mit 1500 neuen Wohnungen, Parks und Cafés aufwarten soll. Kritiker*innen haben dieser auf dem Reisbrett geplanten Stadt bereits den Übernamen "Zucktown" verpasst. Sie fürchten eine auch (stadt)räumliche Übernahme durch grosse Konzerne wie Facebook und Google ...

Ofelia Bello: Genau, wir sehen heute immer öfters, wie Tech-Unternehmen ihre Räumlichkeiten solcherart ausgestalten, dass sie immer mehr wie ganze Quartiere oder Städte erscheinen, und das ist beunruhigend. Von einem politischen Standpunkt aus wird klar, dass es hier um die Entwicklung von exklusiven - sehr exklusiven - Quartieren geht.

Frage: Du befürchtest, dass es in diesen von grossen Unternehmen dominierten, halb-öffentlichen Räumen mehr Ausschluss und mehr racial profiling geben wird als im eigentlich öffentlichen Raum?

Ofelia Bello: Gentrifizierung geht immer auch mit einer erhöhten Polizeipräsenz einher. So hat Facebook zeitgleich mit der geplanten Expansion auch angeboten, die Gehälter von acht neuen Polizisten zu finanzieren. Diese sollen für die Überwachung rund um das Willow Village zuständig sein, also für den östlichen Teil von Menlo Park, der an EPA angrenzt. Das führte natürlich zu einem Aufschrei in unserer Community, und viele haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass mit den Gehältern von acht Polizisten sehr viel bezahlbarer Wohnraum gebaut werden könnte. Stattdessen entsteht da nun diese exklusive Siedlung. Und zur gleichen Zeit werden unsere Mieten ins Astronomische steigen. Wir haben bisher noch keinen Gegenbeweis gesehen: Diese Expansion wird die Immobilienpreise in ganz EPA stark anheben, da unsere Wohnlage dadurch begehrter wird, einfach weil es so nahe gelegen ist.

Frage: Trotz seiner schwierigen Geschichte und den zahlreichen Herausforderungen war EPA historisch auch Ort von mehreren utopischen Projekten, die sich unternehmensgesteuerten Versionen wie Zucktown entgegensetzen. 1968 gab es sogar eine Initiative, welche die Stadt in "Nairobi" umtaufen wollte.

Ofelia Bello: Das war ein Ausdruck der Black-Power-Ära und dem Kampf für politische Autonomie und Selbstorganisierung, der auch in EPA - einer historisch schwarzen Gemeinde - mit Leidenschaft geführt wurde.

Frage: Und dann laufen zurzeit auch viele soziale Kämpfe rund um Verdrängung und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse?

Ofelia Bello: Auf jeden Fall, ja. EPA ist sehr politisch. Unsere Anwohner*innen sind sehr politisiert. Das Problem ist, dass wir isoliert sind. Bei der Bildung von Allianzen und Solidarität mit anderen Städten oder regionalen Bewegungen könnten wir uns noch verbessern. Aber es ist nicht einfach, uns fehlen dafür einfach die Kapazitäten. Aber historisch gesehen sind wir eine sehr politische Stadt, eine Art Schwester von Oakland. Die lokale Bevölkerung lässt sich nicht so einfach einschüchtern, die Leute sind engagiert und gehen zu den Anhörungen und verschaffen sich Gehör. Die Leute sind sehr aktiv, sie halten sich auf dem Laufenden und wissen meist sehr gut, was ihnen fehlt. Wir brauchen hier keine fremden Retter*innen ... nur Unterstützung und Solidarität!


Technopolis. Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area

(*) Obenstehendes Interview ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Buch "Technopolis". Als Hauptsitz der IT-Giganten Apple, Google, Facebook, Twitter und Co. nimmt die San Francisco Bay Area (Silicon Valley) eine weltweite Vorreiterrolle ein. Gleichzeitig ist der städtische Raum von rekordhohen Mieten und extremen sozialen Gegensätzen geprägt. Die Bay Area ist aber auch Schauplatz zahlreicher urbaner Bewegungen und sozialer Initiativen, die seit den 1960er-Jahren Widerstand gegen die kapitalistische Modernisierung entwickeln und eine vielfältige Gegenkultur hervorgebracht haben. Die Beiträge der Autorinnen reflektieren diesen Spannungsbogen: Er reicht von den Konzernsitzen im neuen "Dotcom-Korridor" zu den Anti-Gentrifizierungskämpfen im traditionell von Einwander*innen bewohnten Mission District, von Occupy Oakland zu den Arbeitskämpfen in East Palo Alto, von rassistischer Polizeigewalt zu Black Lives Matter, von der exklusiven High-Tech-Metropole zur Sanctuary City, die die Rechte der Migrant*innen verteidigt.

KATJA SCHWALLER (HRSG.): TECHNOPOLIS. URBANE KÄMPFE IN DER SAN FRANCISCO BAY AREA. ASSOZIATION A, ERSCHEINT IM MAI 2019.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 07/08/2019 - 75. Jahrgang - 7. März 2019, S. 10-11
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2019

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