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VORWÄRTS/1461: Frauen*geschichte


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 13/14 vom 26. April 2019

Frauen*geschichte

von Sabine Hunziker


Oft wird Frauen*- und Geschlechtergeschichte eine Art Sonderstatus zugewiesen. Allgemein herrscht hegemoniale Geschichtsschreibung mit "grossen" Männern* vor, die von Männern* erforscht und festgehalten wird. Historiker*Innen und Aktivist*innen wehren sich nun und es gibt Rundgänge zu Frauen*geschichte für alle.


"Frauen*geschichte" und insbesondere Frauen*figuren, die in der Schweizer Geschichte schrieben, sind kaum bekannt. Doch die eidgenössische Frauen*geschichte hat nicht wenige spannende Ereignisse zu bieten, die geheimnisvolle "Stauffacher*in" ist nur ein Beispiel davon. Immer wieder versuchen Gruppen, entsprechende Themen aufzuarbeiten und der Bevölkerung zugänglich zu machen. Das Netzwerk Frauen*platz Biel ist eine davon. Aus über 275 Mitglieder*n bestehend, regionale Organisationen, Firmen und Einzelpersonen* umfassend, arbeitet Frauen*platz Biel zu gleichstellungsrelevanten Anliegen und setzt sich aktiv für deren Umsetzung ein. Der Frauen*platz Biel versteht sich als eine engagierte Stimme, die sich in die gesellschaftlichen und politischen Debatten in Biel und der Region einmischt, diese mitgestaltet und mitprägt.


Von Männern für Männer*

Warum wird Frauen*geschichte nicht zur Allgemeingeschichte? "Die hegemoniale Geschichtsschreibung, also die Geschichte der grossen Männer*, die von Männer*n erforscht und festgeschrieben wird, wird ja seit längerem kritisch reflektiert und in Frage gestellt", antwortet das Netzwerk aus Biel. "Auf universitärer Ebene konnte sich die Frauen*- und Geschlechter*geschichte aufgrund der Hartnäckigkeit, Unerschrockenheit und Ausdauer vieler Historiker*innen institutionell verankern. Es gibt heute sehr viele exzellente Forschungen." Die Aktivist*innen vom Netzwerk fügen hinzu: "Leider ist es eine Tatsache, dass die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Forschungen von verschiedenen Seiten immer noch angezweifelt wird. Oftmals bekommt die Frauen*- und Geschlechter*geschichte eine Art Sonderstatus zugewiesen, die eine gleichberechtigte Positionierung und Anerkennung innerhalb der öffentlichen Geschichtsschreibung der Schweiz verunmöglicht." Gleich fügen sie Beispiele an und nennen den Schulunterricht. "Aber gerade die letzten Jahre haben gezeigt, dass hier ein gesellschaftlicher Wandel stattfindet und sich ein allgemeines Interesse und Bewusstsein für Frauen*- und Geschlechter*geschichte durchsetzt."


Weiber* im Streik 1918 bis 2018

Frauen*platz Biel arbeitet die Geschichte ihrer Stadt aus einer explizit weiblichen Perspektive auf. "Dabei geht es uns einerseits um das Sichtbarmachen der Frauen* als handelnde und aktive Subjekte im öffentlichen Raum. Andererseits ist es für uns wichtig, eine Würdigung des bereits Erreichten zu formulieren und damit eine positive Identifikation mit den Frauen*, die vor uns für ihre Rechte eingestanden sind, zu schaffen", erklärt das Netzwerk auf Anfrage des vorwärts. Wie geschieht dies konkret? Frauen*platz Biel informiert mit der zweisprachigen Zeitschrift KulturElle zweimal jährlich über aktuelle Themen und legt dabei ihre Position differenziert dar. Mit zwei Frauen*stadtrundgängen zeigt das Netzwerk die Geschichte einzelner Frauen* in der Uhrenstadt auf. Indem die Erfahrungen und das Handeln dieser Frauen* ins Zentrum gerückt werden, sind die Stadtrundgänge gleichzeitig konkrete. Passend zum 100-Jahre-Jubiläum des Landesstreikes organisierte Frauen*platz Biel in Zusammenarbeit mit Expertinnen* der Schweizer Frauen*geschichte den einmaligen Stadtrundgang "Wir Weiber* - Frauen* im Streik 1918-2018". In dieser geschichtlichen Darstellung der Geschehnisse rund um den Landesstreik stehen Frauen* im Zentrum. Hauptforderungen der Aktivist*innen waren bezahlbare Lebensmittel, faire Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Auch bei den Forderungen des Streikkomitees (Oltener Aktionskomitee) war das aktive und passive Frauen*stimmrecht aufgeführt. Die Frauen*streik-Geschichte hatte auch später Kontinuität in Biel - vom "Milchkrieg" in den 1930er Jahren bis hin zum Frauen*streik 1991. Wichtig beim Rundgang waren auch der Brückenschlag von den Ereignissen von 1918 über die Geschichte der Frauen*bewegung bis hin zur Gegenwart und das Nachdenken über erkämpfte Forderungen.


Männer* überrumpelt

In Bern heisst der geschichtliche Rundgang 2019 "Damenwahl." Lisia Bürgi von "Bern StattLand" erklärt den Titel "Wieso Schneckentempo Männer* überrumpelt", der in der Broschüre "Damen*wahl - 50 Jahre Frauenstimmrecht in Bern" zu finden ist. "Die bezieht sich darauf, dass ein Teil der Schweizer Männer* bei der Einführung des Frauen*stimmrechts auf eidgenössischer Ebene überrumpelt wurde, obwohl die Schweiz im internationalen Vergleich klar ein Schlusslicht war." Der Ausdruck "Schneckentempo" bezieht sich zudem auch auf die Frauenrechtler*innen, die bereits 1928 mit der sogenannten SAFFA-Schnecke gegen das Schneckentempo in Sachen Frauen*stimmrecht demonstrierten.

Besucher*innen von "Damen*wahl" werden in Bern Orte wie das Bundeshaus, das immer wieder Schauplatz von Demonstrationen und Aktionen zugunsten von Gleichstellung zwischen den Geschlechtern* wurde, oder die Reitschule, die bekannt für ihr aussenparlamentarisches Engagement von Frauen* und spezifische Frauen*räume ist, besuchen. Auch die Helene-von-Mülinen-Treppe oder das Casa d'Italia, das für seine Rolle zugunsten von Migrant*innen in der Schweiz bekannt ist, steht auf der Liste von StattLand. Ziel eines Rundganges ist, dass dadurch ein breites Publikum angesprochen und dieses sowohl auf die Geschichte als auch auf die Aktualität von Gleichstellungsfragen sensibilisiert werden kann. Einerseits soll der Rundgang bei denjenigen Menschen, die selbst in der neuen Frauen*bewegung oder einer anderen sozialen Bewegung engagiert sind oder waren, Erinnerungen wecken und hoffentlich auch mittels bisher vielleicht weniger bekannten Anekdoten einen zumindest teilweise neuen Blick auf Erlebtes ermöglichen. Jüngere Menschen sollen daran erinnert werden, dass diejenigen Rechte, die heute als selbstverständlich gelten, hart erkämpft und grösstenteils noch gar nicht so alt sind. Gleichzeitig soll aufgezeigt werden, dass auch heute noch auf verschiedensten Ebenen Ungleichbehandlungen zu beobachten sind.


Frauen* als Anhängsel im Mainstream

Lisia Bürgi ist im Moment Assistentin am Historischen Institut an der Universität Bern. Sie meint, dass sich die Geschichtswissenschaft seit den 1970er Jahren dank dem unermüdlichen Einsatz feministischer Historiker*innen, die mittlerweile zentrale Positionen besetzen und Debatten prägen, auf jeden Fall merklich verändert hat. Dadurch kamen Subjekte in den Blick, die weniger stark als andere in schriftlichen Quellen vertreten sind, so zum Beispiel eben Frauen*, Arbeiter*innen oder Migrant*innen. Nach ihrer Wahrnehmung ist es aber so, dass in der Mainstream-Geschichtswissenschaft Frauen* weiterhin eher Anhängsel sind, das heisst, dass zum Beispiel bei Tagungen ein einziges von vielen Panels die untersuchte Thematik aus Frauenperspektive beleuchtet. "Bei StattLand wird dagegen versucht, die in einem Rundgang abgedeckten Themen aus einem möglichst breiten Blickwinkel zu beleuchten und insbesondere auch weniger offensichtliche (historische) Figuren in den Vordergrund zu stellen - auch bei Rundgängen, die sich nicht wie Damen*wahl explizit mit der Gleichstellung der Geschlechter* befassen."

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 13/14 - 75. Jahrgang - 26. April 2019, S. 15
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2019

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