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VORWÄRTS/1528: Keine Häuser dem Leerstand überlassen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 35/36 vom 1. November 2019

Keine Häuser dem Leerstand überlassen

von Sabine Hunziker


Als Reaktion auf die herrschende Wohnungsnot wurde das Betagtenheim in Zollikofen besetzt. Schon kurze Zeit später - trotz grosser Solidarität von Seiten der Bevölkerung - drohte der Gemeinderat mit polizeilichen Massnahmen. Schlussendlich räumten Polizeieinheiten das Gebäude. Trotzdem kam die Botschaft des Kollektivs an.

Leer stand das Heim-Gebäude an der Wahlackerstrasse 5 in Zollikofen bei Bern schon lange Zeit, wiederbelebt wurde es für kurze Zeit am Donnerstag, dem 3. Oktober 2019. Der mächtige Baukomplex war in die Jahre gekommen. Noch vor zwanzig Jahren modern, nun marode geworden und geschlossen, so dass die zukünftige Besitzerin GVB (Gebäudeversicherung Bern) bald einen Umbau in Angriff nehmen würde - oder einen Abriss. Das "noch namenlose 150-köpfige Kollektiv", welches das Gebäude mit rund hundert Räumen erneut für alle öffnete, wollte den Raum für Visionen und Ideen nutzen: "Wir dulden den seit zwei Jahren andauernden Leerstand nicht. Wir tolerieren es nicht, dass ein Objekt mit so viel Potenzial ungenutzt bleibt, während elementare Bedürfnisse von Teilen der Bevölkerung um Bern ungedeckt bleiben". Auf einem ersten Flyer listeten die Aktivist*innen Projektideen auf, denn die Neubelebung des Heim-Altbaus sollte etwas Einmaliges und Grosses werden. So stehen Bedürfnisse wie ein Kinderspielpark im Zentrum. Regelmässig sollen auch ein Mittagstisch und ein Quartiercafé da sein, wo zusammen gekocht, gegessen und genossen wird. Neben den Ideen zum sozialen Treffpunkt sollen auch Bildung mit Musik- und Tanzräumen und einem Sport- und Kulturangebot im Zentrum stehen.


Breites Netzwerk

All dies sind Angebote, die zurzeit in vielen Gemeinden aufgrund der so genannten "Sparpakete" bereits gekürzt wurden oder auf wackligen Beinen stehen - umso brisanter ist diese Hausbesetzung und ihre Botschaft heute. "Die neuen Nachbarn" öffneten von Beginn an Türen für die Quartierbewohner*innen oder Bewohner* und gaben Kontakt bei Fragen, Anregungen und Wünschen an, was von der Bevölkerung auch genutzt wurde. "Innert kürzester Zeit konnten wir ein breites Netzwerk aufbauen, unsere Anliegen sind auf Resonanz gestossen."

Jetzt war das Kollektiv schon seit Tagen im Heim: jeden Tag wurde instand gesetzt, geschraubt, geschrieben, gemalt, genäht, gebastelt, organisiert und kommuniziert. "Wir sind viele. Wir sind Familien. Wir sind jung und alt. Menschen mit klaren Zielen und grosser Überzeugung. Dazu gehört auch die Wiederbelebung dieses Hauskomplexes." Die Eingangstüren sind offen, als ich am Montag nach der Besetzung am Mittagstisch vorbei gehe, wo Frauen*, Männer* und Kinder zusammen in der Eingangshalle sitzen - gemütlich bei Kuchen, Sirup und Kaffee. Eine Gruppe macht sich an den Abwasch. Nach dem Tellerturm auf der Ablage zu urteilen, war die Mittagspause hier gut besucht. Bereitwillig geben die Aktivist*innen Auskunft und ich kann mich im ganzen Gebäude frei bewegen. Neun Stockwerke hoch geht es und auch im Keller gibt es riesige Räume, wo früher Lagerräume oder die Wäscherei waren.


Riesiges Polizeiaufgebot

Das Ultimatum, war einen Tag zuvor zum zweiten Mal abgelaufen. Der Gemeinderat von Zollikofen zeigte kein Interesse an den Ideen und Bedürfnissen der Besetzer*innen und suchte kaum den Dialog mit ihnen. An seiner Seite stellte sich ein 13-köpfiges Bürgerkomitee, das erst anonym agierte und sich erst später und auf Druck zu erkennen gab. Medien aus der ganzen Schweiz berichteten vor Ort und rahmten die Ereignisse so, dass sie nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprachen. Aktivist*innen vermummten sich aufgrund dieser hohen Medienpräsenz, um ihre Persönlichkeit zu schützen, was von Fotograf*innen sogleich negativ ausgeschlachtet wurde. Gefährlich aussehende "Terroristen" waren Bildmotiv, was aber eigentlich nicht zu der farbig geschmückten Fassade des Heims im Hintergrund passen wollte. Die Räumung passierte dann am Donnerstagmorgen - ein riesiges Aufgebot an entsprechend ausgerüsteten Polizeibeamt*innen brach ins Gebäude ein, um eine Handvoll gewaltlos agierender Besetzer*innen abzuführen. Alle Hoffnung ist jetzt vorbei, obwohl einige Leute das Projekt begrüsst hatten. Es gab unter anderem eine Online-Petition, die 626 Menschen unterzeichnet haben. Sie wurde aber mit der Räumung zurückgezogen.


Schüsse mitten im Quartier?

In der Online-Petition wurde der Gemeinderat von Zollikofen zu konstruktiven Verhandlungen mit dem Kollektiv aufgefordert, denn die Aktivist*innen machen ja auf ein wichtiges Thema aufmerksam, so der Verfasser: "Das Fehlen bezahlbaren Wohnraumes für finanziell Schwache, die Aneignung öffentlichen Raumes durch private Investoren, Gesellschaften und konsumorientierte Gebilde zwecks eigennütziger Gewinnoptimierung, das Verschwinden niederschwelliger Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten durch staatliche Über-Regulierung. ..."

Nun ist es wieder ruhig im Betagtenheim. Ein Zaun umgibt da das Haus und Sicherheitspersonal kontrolliert die Liegenschaft regelmässig, damit sie nicht wiederbesetzt wird. Doch so "grau und ungenutzt" wie es das Kollektiv in einer Medienmitteilung beschrieben hatte, war das Gebäude niemals und wird es auch in näherer Zukunft nicht sein: Das Gebäude wurde zuvor von der Kapo Bern als Trainingsort benutzt und hier wird wohl auch in Zukunft bei fingierten Geiselbefreiungen und ähnlichen Szenarien durch die Räume gerannt oder herumgeschrien. "Vorzufinden war pure Zerstörung. Ist dies wirklich eine sinnvolle Art von Zwischennutzung?!" Auf Instagram sind Beweise zu sehen: Schüsse in Fensterscheiben und in Wänden, durchbrochene Wände oder aufgehebelte Türen. Beim Besuch vor Ort im Heim waren Spuren der Polizeiübungen zu sehen: Schlösser waren mit Gewalt aus den Rahmen gerissen worden, so dass Holz splitterte. Schlussendlich hat sich der von einem SVPler präsidierte Gemeinderat entschieden - doch angekommen ist die Botschaft der Aktivist*innen.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 35/36 - 75. Jahrgang - 1. November 2019, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2019

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