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VORWÄRTS/1575: Danke» ist nicht genug!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 11/12 vom 27. März 2020

Danke» ist nicht genug!

von Florian Sieber


Es ist überfällig, dass unzähligen Angestellten in prekären Berufen, die unter zusätzlichen Abbaumassnahmen leiden, mehr Anerkennung entgegengebracht wird. Vor allem ist es aber nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Jahrelang wurde im Gesundheitsbereich ein Notstand ignoriert, jetzt zeigen sich die fatalen Folgen.

Mehrere meiner Kolleginnen sind über Nacht quasi verschwunden. Klar sieht man sie weniger häufig, da ja Selbstisolation angesagt ist. Aber normalerweise würde man von ihnen das eine oder andere Lebenszeichen in den sozialen Medien wahrnehmen. Nicht so bei den beschriebenen Kolleginnen. Sie arbeiten nämlich im Gesundheitsbereich und leisten dort momentan noch mehr als sowieso schon. Und in den letzten Tagen waren sie im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft recht präsent. Promis lichteten sich mit Botschaften auf Instagram ab, in denen sie Krankenpfleger*innen danken. Leute stellten sich auf ihren Balkon und begannen zu klatschen und selbst die Medien titelten: «Danke!».

Doch wenn Gestalten, wie die konservative US-Moderatorin Tomi Lahren, ihres Zeichens Gegnerin eines Mindestlohns, in den Chor einsteigen, zeigt sich, dass dieses Dankeschön nicht überall gleich ernst gemeint ist. Dabei wäre jede Form von Solidarität für die Kolleg*innen, die im Moment zur Arbeit müssen, nötig. Vor allem, da viele von den Ar-beiter*innen, die jetzt noch täglich chrampfen müssen, zu den am meisten prekarisierten Berufsgruppen des Landes gehören.

Zuwenig Material, zuwenig Personal

Vor kurzem machten die schlechten Arbeitsbedingungen im Detailhandel Schlagzeilen (der vorwärts berichtete). In der momentanen Situation leiden die Kolleg*innen dort nicht nur - wie üblich - unter den knappen Löhnen, dem Druck und den langen Arbeitszeiten. Sie sind eine speziell exponierte Gruppe und besonders gefährdet, sich mit dem aktuellen Coronavirus anzustecken. Auch bei den Bauleuten ist die Situation kritisch. So sind laut der Gewerkschaft Unia die Hygienebedingungen auf den Baustellen völlig ungenügend, Abstände werden nicht eingehalten, Sicherheitsmaterial, wie Handschuhe und Schutzmasken, nicht von den Unternehmen gestellt. Angesichts der Massenentlassungen in den letzten Tagen steigt der Druck auf die Arbeiter*innen, ebenfalls arbeiten zu gehen, wenn ihre Stelle behalten wollen. Dass die Arbeitsbedingungen in vielen Berufen in den vergangenen Jahren schlechter wurden, ist vor allem eine Folge des verschärften Konkurrenzkampfs seit Beginn der Krise 2008. Es muss «wettbewerbsfähiger» denn je produziert werden. Das heisst im Klartext: Das Personal soll mehr Profit erwirtschaften und dabei weniger kosten.

Besonders in einem Sektor wirken sich die Massnahmen zur Verschlechterung der Arbeit sehr heftig aus: im Gesundheitswesen. Der vorwärts sprach mit der Luzerner SP-Kantonsparlamentarierin und Pflegefachfrau Sara Muff, die sich in ihrem Spital in Luzern mit ihren Kolleg*innen auf das mögliche Worst-Case-Szenario vorbereitet: «Meiner Ansicht nach hat die Austeritätspolitik der letzten Jahre sehr viel damit zu tun, wie wir nun insgesamt reagieren können, oder eben nicht reagieren können.» Die Folgen der Abbaupolitik seien Mangel an Material und Personal. «Durch die Sparerei wurde der Pflegeberuf immer unattraktiver und so bleibt nur ein marginaler Teil in diesem Berufsfeld tätig. Viele wechseln in den ersten fünf Jahren nach einer Pflegeausbildung in einen anderen Sektor», erzählt uns Muff.

Sparübungen, die Leben kosten

Eigentlich müsste das abschreckende Beispiel der Lombardei ausreichen, um jeden und jede bürgerlichen Sparpolitiker*in zum Schweigen mit schamrotem Gesicht zu verurteilen. Dort zeigt sich, dass sich eine Gesundheitsinfrastruktur, die für die Profite von Kassen und anderen Konzernen kaputtgespart wurde, in vermeidbare Todesfälle übersetzt. In solchen Situationen müssen Angestellte in Gesundheitsberufen noch stärker als sonst das Versagen von Märkten und bürgerlicher Politik kompensieren. Der Mangel an Pflegekräften auf allen Ebenen sorgt dafür, dass jene, die einen solchen Beruf ergreifen, während einer Krisensituation einen unglaublichen zusätzlichen Effort leisten müssen. Die Gesundheitsbestimmungen für Pflegeangestellte bezüglich ihrer Ruhe- und Arbeitszeiten wurden jedenfalls schon einmal per Notrecht für die kommenden sechs Monate ausgesetzt.

Eine katastrophale Situation: Der zusätzliche Stress bei der Arbeit, der Effort, welcher die Kolleg*-innen stemmen werden müssen, wird sich auch auf das Immunsystem der Betroffenen auswirken. Das wird vermehrt zu Ansteckungen und unter Umständen auch schweren Krankheitsverläufen unter den Angestellten aus Gesundheitsberufen führen. In China stellte sich die massenhafte Ansteckung von Gesundheitsarbeiter*innen als fatal für die Bekämpfung der Pandemie heraus. Am 18.März warnten chinesische Ärzt*innen, dass Europa diesen Fehler aus Wuhan aktuell wiederhole, indem das Gesundheitspersonal zu wenig geschützt wird. Zwar werden sich die Kolleg*innen in den Gesundheitsberufen solidarisch einer weiteren Verschlechterung ihrer Arbeit beugen. Dennoch muss klar sein und klar gemacht werden, dass solche Prekarisierungsmassnahmen nur nötig sind, weil jahrelang ein Pflegenotstand ignoriert wurde, vor dem die Arbeiter*innen im Pflegebereich gewarnt haben.

Profitabilität über Existenzen

Im Spital, in dem Sarah Muff arbeitet, ist es im Moment noch relativ ruhig. «Es fühlt sich aktuell an, wie die Ruhe vor dem grossen Sturm», sagt sie dem vorwärts. Doch beruhigt ist sie nicht. Zu schwer könnten sich der Mangel an Personal und Material auswirken: «Alles muss wirtschaftlich sein, möglichst wenig Material verwendet werden und daher sind die Lager aus Angst vor Verlusten auf ein Minimum bestückt. Genau diese Minimalbestückung der Lager kriegen wir nun in aller Härte zu spüren. Bereits bevor uns die Pandemie so richtig erreicht, kämpfen wir mit Materialengpässen.» Stark betroffen davon sind Schutzmasken und Desinfektionsmittel, sowie auch fehlende Personal für die Bedingung von Beatmungsgeräten für schwerste Fälle. Zwar existiert in der Schweiz seit 1995 ein Pandemieplan. Der scheint aber nicht miteinbezogen zu haben, dass vom eigenen Gesundheitssystem abhängt, wie gut man mit einem Katastrophenfall wie dem aktuellen klarkommt. Das Virus ist nicht menschgemacht. Die Bedingungen hingegen schon, die dazu führen, dass man bei Ausbruch einer Pandemie Menschen ab einer gewissen Schwere der Erkrankung zum Sterben heimschickt, weil Intensivplätze, Beatmungsgeräte und Personal fehlen. Umso wichtiger ist, dass wir auch nach der Pandemie nicht locker lassen und umso härter für bessere Arbeitsbedingungen für die Werktätigen kämpfen, die momentan der Rettungsring sind, der die Schweiz vor dem Untergang bewahrt.

Unglaublich traurig

Auch Pflegefachfrau Sara Muff will, dass das momentane Opfer, das in den Spitälern geleistet wird, irgendwann mit mehr als nur Klatschen honoriert wird: «Seit Jahren warnen wir die Bevölkerung vor dem Pflegenotstand, doch es wurde nicht auf uns gehört. Dass es nun soweit kommen musste, damit der Bevölkerung die Augen geöffnet werden, ist unglaublich traurig.» Sie fügt hinzu: «Ich hoffe aber, dass die Menschen, welche nun für das Pflegepersonal applaudieren, uns auch in Zukunft unterstützen werden, wenn wir ihre Hilfe brauchen. Die Pflegeinitiative ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber auch, dass Politiker*innen, welche eine bürgerliche Abbaupolitik im Gesundheitswesen vorantreiben, nicht mehr gewählt werden.»

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 11/12 - 76. Jahrgang - 27. März 2020, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
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Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
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Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2020

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