Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

WILDCAT/024: Ausgabe 89 - Frühjahr 2011


Wildcat 89 - Frühjahr 2011



Inhalt:
Editorial
Ägypten: Vom Aufstand zur Revolution?
Die Ölrente läuft aus
Unmut wird Wut: Bewegung gegen die Krise in Italien
Landflucht und Food Riots: keine Agrarrevolution in Sicht
Theologie versus Teleologie?
Moral, Diskurse und Staatsbezug in der Global Labor History
Buchbesprechungen:
Arbeiter und Arbeiterklasse im heutigen Indien
Der geplante Tod einer Fabrik
Tschechien: Angriff auf die Klasse bisher ohne Antwort
Was bisher geschah...

Raute

EDITORIAL

Endlich haben wir mal wieder ein Heft in großer Aufbruchstimmung produziert! In der Stagnationsphase der kapitalistischen Krise verallgemeinern sich die Kämpfe! Aber kurz vor Druckbeginn gab es einen doppelten Dämpfer. Zunächst die Katastrophe in Japan, dann die militärische Einkreisung der Aufstände im arabischen Raum durch die Interventionen in Bahrain und Libyen. Wir können im Heft auf diese neuesten Entwicklungen nicht mehr eingehen, aber unsere Schwerpunktsetzung Erdöl / Nahrung / Ägypten ist umso aktueller geworden.

Der 11. März 2011 müsste eigentlich das Ende des nuklearen Zeitalters eingeleitet haben. Eigentlich! Im Editorial der Wildcat 87 hatten wir gefragt, auf was wohl der 20. April 2010 hinausliefe: »Die Pleite eines Öl-Multis? Das Tschernobyl der Öl-Industrie? Oder nur Obamas Katrina?« Obama hätte die Midterm Elections am 2. November wohl so oder so verloren, die Ölindustrie bohrt weiter in der Tiefsee, und bp macht schon wieder üppige Gewinne. Aber die Katastrophe von Fukushima war im Gegensatz zu Tschernobyl von Anfang an eine globale Frage. Die Aufstände in Afrika, die Produktion unserer Energie und unserer Lebensmittel, die Katastrophen des Kapitalismus, sind heute alles Fragen einer globalen Arbeiterklasse.

Die Aufstände im arabischen Raum und die Nuklearkatastrophe in Japan kommen zu einem Zeitpunkt, an dem die zwischenzeitliche Erholung der Weltwirtschaft schon wieder an Schwung verloren hatte. Und die Financial Times Deutschland kam am 17. März unter der Überschrift »Die Kernschmelze des Kapitalismus« zum Schluss: »Atom- und Finanzkrise hängen zusammen.« »Fukushima« wird die Nachfrage nach nicht-atomaren Energieträgern steigern, während Erdöl durch die Aufstände im arabischen Raum sowieso dauerhaft teurer wird. Somit werden die Energiepreise deutlich steigen. Die beiden Artikel zu Erdöl und Lebensmitteln behandeln diese Fragen parallel: Kann China seine Landwirtschaft so schnell rationalisieren, wie es der »Westen« im 20. Jahrhundert gemacht hat? Eine neue Akkumulationsweise setzte jeweils einen neuen Energieträger mit höherer Dichte voraus. Aber die lange Zeit verfolgten Technologien - Gentechnik und Kernkraft - sind in beiden Fällen kein Ausweg.


Peak Oil?

Seit November, also schon vor den Aufständen im arabischen Raum, pumpten die opec-Länder 700.000 Barrel am Tag (B/T) mehr als sie offiziell angaben. Durch die Unruhen in Libyen fiel eine Million B/T weg. Die opec kündigte an, sie könnte den Ausfall libyscher Ölexporte leicht durch höhere Förderung auffangen. Das ist Propaganda, denn die tatsächlichen Reservekapazitäten liegen bei nur noch zwei Millionen B/T, minus 0,2 Millionen B/T, die Japan nun zusätzlich importiert, um Strom draus zu machen. So niedrig waren die Reservekapazitäten zuletzt im Sommer 2008, was damals zum Rekordpreis von 147 Dollar je Barrel führte. Ende Februar 2011 kostete ein Barrel Rohöl der Nordsee-Sorte Brent 110 Dollar. Dies war der höchste Preis seit über zwei Jahren. Nur fünfmal in den letzten 70 Jahren hat sich das Erdöl in zwei Jahren so schnell verteuert - viermal davon kam es danach zu schweren Kriseneinbrüchen.

Die BRD deckt noch immer ein Drittel ihres Energiebedarfs mit Öl - 1980 waren es 40 Prozent. Dass der Anteil überhaupt sinkt, geht ganz überwiegend auf den stärkeren Einsatz von Erdgas beim Heizen zurück; die Ölimporte sind in drei Jahrzehnten um gut ein Fünftel zurückgegangen, die Gaseinfuhren erhöhten sich fast um die gleiche Menge. 2010 stieg der deutsche Energiekonsum sogar stärker als das BIP und die Ölimporte nahmen zu.

Vor die mögliche geologische Erschöpfung der Vorräte haben sich in den letzten Wochen politische Fragen geschoben: Wie belastbar sind denn noch Zusicherungen der opec, wenn die meisten Öl-Regimes ums Überleben kämpfen? »Der wirkliche Schlüssel ist das Ansteckungsrisiko« (durch die Aufstände), hat sogar die Investmentbank Goldman Sachs erkannt.


Inflation?

Die Zentralbanken bereiten Zinserhöhungen vor. Die Europäische Zentralbank sieht ihre Hauptaufgabe mal wieder im Kampf gegen »Zweitrundeneffekte«, sprich Lohnerhöhungen. Im Februar kündigte ihr Präsident Trichet Zinserhöhungen für Anfang April an. Sie sollen verhindern, dass die Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln zu Forderungen nach höheren Löhnen führen. Gerade wurden die Daten des US-Labor Departments für Februar veröffentlicht: dort verzeichneten die Großhandelspreise für Nahrungsmittel ihren stärksten Anstieg seit 1974!

Schlimmer als ein womöglich drohender Öl- und Nahrungsmittel-Preisschock ist das, was die Zentralbanken draus machen. Bernanke, Chef der US-Notenbank Fed, weiß das: Er war 1997 Mitverfasser einer Studie zu den Auswirkungen von Ölpreiserhöhungen und Geldpolitik auf die Realwirtschaft (Systematic Monetary Policy and the Effects of oil Price Shocks), die zu dem Schluss kam, dass die Reaktion der Notenbank auf den steigenden Ölpreis größere »Kontraktionswirkung auf die Realwirtschaft« hat als der Ölschock selber.

Die Europäische Zentralbank hält trotz der absehbaren ökonomischen Folgen der Katastrophe in Japan an ihren angekündigten Zinserhöhungen fest. Dass die Proleten bluten und die Kosten der Krise tragen, ist wichtiger als ein paar Prozentpunkte Wirtschaftswachstum.


Die Krise ist nicht vorbei.

Propagandistisch waren die Bankenrettungen und die ultralockere Geldpolitik der Notenbanken so verkauft worden, dass die Banken dann mehr Kredite vergäben - wäre es darum gegangen, so wäre das Geldpumpen ein krasser Fehlschlag gewesen. In Wirklichkeit sollten die Preise an den Wertpapiermärkten stabilisiert bzw. angehoben werden - und das hat ja auch geklappt. Die bewusst herbeigeführte Aktienblase hat das Ende der Rezession bewirkt. Mit zwei Konsequenzen:

- Insolvente Banken werden mit Steuergeldern am Leben gehalten, die Verluste, die sie eingefahren hatten, wurden zu Staatsschulden. Diese Staatsschuldenkrise führte zur zweiten Krisenwelle, die sich seit Anfang 2010 als »Eurokrise« entfaltet.

- Die Banken machen Rekordgewinne, indem sie die gewaltigen Geldmengen aus den Rettungsprogrammen in Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Energie anlegen. Diese »Profite ohne Akkumulation« führen zu gewaltigen Preiserhöhungen, aber zu keinen neuen Jobs, die weltweite Arbeitslosigkeit stagniert auf einem Rekordhoch. Der Krisenverlauf ist V-förmig für die Reichen (Luxuskonsum nimmt stark zu), L-förmig für den Rest (Dinge des täglichen Bedarfs werden teurer, der Konsum der Armen stagniert).


USA - Banken, Immobilien, Schulden, Dollar: Ein Loch ist im Eimer.

Das bisschen nominales Wachstum beim BIP wurde mit noch stärker steigenden Schulden erkauft. Die USA können praktisch unbegrenzte Beträge gratis borgen; die Realzinsen fünfjähriger Staatsanleihen liegen noch immer bei minus 0,5 Prozent. Mit diesen Geldern wird eine Flucht nach vorn finanziert: »mehr vom selben«, noch mehr Autos bauen und mit noch mehr Krediten in den Markt drücken... Und die Gegenfinanzierung heißt: noch größere soziale Ungleichheit; noch mehr Sparprogramme.

Die mit großem Aufwand künstlich am Leben gehaltenen Banken sind in Wirklichkeit insolvent (»Zombiebanken«). Gleichzeitig gab man ihnen (neue) Möglichkeiten, Profite zu machen. Ihre »Maschinenräume der Spekulation« laufen auf vollen Touren, selbst der Handel mit verbrieften Hypothekarprodukten und Autokrediten lebt mit Furor wieder auf. »Bei Kopf streiche ich Gewinne ein, bei Zahl wird die Regierung mich raushauen« nannte sogar Barofsky, der staatliche Aufseher über das US-Bailout-Programm, Ende Januar 2011 dieses »asymmetrische Risikoprofil«. Er warnte vor den Konsequenzen: Das sei »ein Rezept für Katastrophen«.

Die globale Krise brach im Immobiliensektor der USA aus, und ist weder dort noch in den Immobilienblasen Irlands und Spaniens ausgestanden. Die Fed kaufte für weit mehr als eine Billion Dollar hypothekenbesicherte Wertpapiere auf und hält mit ihrer Nullzins-Politik die Hypothekenzisen historisch niedrig. Darüberhinaus gab sie im November bekannt, in den nächsten sechs Monaten nochmal 600 Milliarden Dollar ins Bankensystem zu pumpen (Quantitative Easing 2). Trotzdem waren im Februar die Neubauten von Einfamilienhäusern auf dem tiefsten Niveau seit mindestens 50 Jahren. Und die Immobilienpreise fallen weiter. Man spricht vom double dip des Immobilienmarkts. Seit 2007 wurden in den USA über sechs Millionen Zwangsräumungen vollstreckt. Solange die Arbeitslosigkeit nicht zurückgeht, kommt der Immobilienmarkt nicht aus der Krise - aber solange nicht mehr Häuser gebaut werden, bleibt die Arbeitslosigkeit hoch (nur in der Baubranche wurden im letzten Boom nennenswert »einfache« Arbeitsplätze geschaffen).

Die offizielle Arbeitslosigkeit in den USA bleibt zwischen neun und zehn Prozent; real dürfte sie bei 20 Prozent liegen. Und zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es massenhafte Langzeitarbeitslosigkeit. Mehrere Bundesstaaten stehen vor der Zahlungsunfähigkeit; die Staatsverschuldung liegt bei 14 Billionen Dollar; das Leistungsbilanzdefizit bei sechs Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Auch gegen diesen miserablen Zustand der US-Ökonomie setzte die Notenbank das Rezept »mehr vom selben« ein: den Finanzsektor aufplustern, die Spekulation anheizen, die Preise für Vermögenstitel hochjagen.

Diese ultralockere Geldpolitik hat einen erwünschten Nebeneffekt: der Dollar wird schwächer, und damit fällt der Wert der gewaltigen Schulden, die die USA im Ausland haben. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA ihr »einzigartiges Privileg« als Besitzer der Leitwährung dazu benutzen, ihre Schulden »wegzuinflationieren«. Anfang Oktober warnte der brasilianische Finanzminister vor einem internationalen »Währungskrieg«, den die USA losgetreten haben. Mehrere Länder ergriffen Maßnahmen gegen die Aufwertung der eigenen Währung. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand aber, dass es den USA nicht gelang, China zur massiven Aufwertung des Yuan zu zwingen. Auf dem G20-Treffen in Südkorea Anfang November waren die USA isoliert.

Der Status des Dollar als Leitwährung bröckelt; am Ende des dritten Quartals 2010 wurden nur noch 61,3 Prozent der internationalen Währungsreserven in Dollar gehalten - noch ziemlich viel, aber ein historisches Tief. Der weltweit größte Privatinvestor Pimco gab am 10. März bekannt, dass er sich von allen US-Staatsanleihen getrennt habe; angeblich soll auch China den Ankauf eingestellt haben. Die Folgen sind noch gar nicht abzuschätzen (siehe die Artikel in den letzten Wildcats zu Chimerica). Der bisher schleichende Niedergang des Dollars als Leitwährung könnte sich dramatisch beschleunigen. Damit verlören die USA die Möglichkeit, ihren gewaltigen Schuldenberg weiterhin zu finanzieren.

Mit den Umwälzungen im arabischen Raum verschwindet eine weitere Grundlage der Dollar-Hegemonie. Selbst wenn sich die Aufstände nicht weiter ausbreiten würden, müssten die Regimes verstärkt in ihren eigenen Ländern investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen und den Reichtum breiter zu verteilen, damit es nicht zu Unruhen kommt. Der saudische Herrscher hat 36 Milliarden Dollar für Lohnerhöhungen, mehr Arbeitslosengeld und Mietsubventionen angekündigt. Und aus Angst vor weiteren Unruhepotenzialen werden sie die bevölkerungsreichen Länder Nordafrikas unterstützen. Damit entfällt die Geschäftsgrundlage für das Recycling der Ölgelder, die sogenannten »Petrodollar«. Ein weiterer Mechanismus, der fast fünf Jahrzehnte das Rückgrat der Dollar-Hegemonie bildete.


Die Systemkrise ermöglicht fundamentale Umwälzungen.

Die Krise hat viele Leute über das Wesen der Staaten, der Banken usw. aufgeklärt, und weltweit haben sich Betroffene gegen die Krisenfolgen zur Wehr gesetzt. Aber soziale Utopien von der Überwindbarkeit des Kapitalismus sind bisher nicht zum Ausdruck gekommen. In den letzten Monaten von 2010 haben in Frankreich, Griechenland, England und Italien größere Mobilisierungen angefangen, die nun solche Fragen aufwerfen (siehe Italien-Artikel).

Wir haben immer versucht, die aktuelle Weltkrise als »Krise der Krise« zu verstehen, als Krise des seit Mitte der 70er Jahre dauernden Angriffs auf alle kollektiven Strukturen. Damit wollten wir den Blick auf die zentrale Frage richten: Wo entstehen kollektive Prozesse gegen die Krisenangriffe und -folgen? Der egalitäre Drive in den Aufständen in Tunesien und Ägypten macht uns diesbezüglich sehr viel Hoffnung. Sie haben eine Wahrheit wieder ins Bewusstsein aller gerückt: ohne große Menschenmassen ist keine Umwälzung zu haben, ohne Arbeiterstreiks keine Revolution. Seit Ausbruch der Krise haben sich Vorläufer einer globalen Streikbewegung aufgebaut: u.a. in Bangladesch, Vietnam, erste offensive Arbeiterkämpfe in China seit dem Tien'an Men-Massaker... Davon war Ägypten eines der Zentren, dort gab es in den letzten Jahren mehr als 3000 Streiks, in denen mehr als zwei Millionen ArbeiterInnen aktiv wurden. (siehe den Ägypten-Artikel)

Weltweit wird der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit massiver. Die Empörung über »die Banker« ist eine mildere Version derselben grundlegenden Forderung. Sie kann in systemerhaltende Personifizierungen abgelenkt werden, sie kann aber auch wie in Tunesien (siehe das Interview auf unserer Website) und Ägypten den Schirm bilden, unter dem ganz andere soziale Aspirationen zusammenkommen und sich Bahn brechen. Diese Aufstände haben auf die ganze Welt ausgestrahlt, nach Wisconsin (Seite 22), nach Europa, in den Irak... (siehe den Überblick auf den nächsten Seiten).

Die Aufstände werden durch die militärische Besetzung von Bahrain und die Bombardierung Libyens in dem Moment in die Zange genommen, in dem sie die Wirtschaft lahm zu legen drohten. Angesichts der Ereignisse in Libyen und Jemen erscheint Sinhas Aufsatz Arbeiter und Arbeiterklasse im heutigen Indien (Besprechung weiter unten) nochmal in einem ganz anderen aktuellen Licht. Aber die militärischen Angriffe können nur dann politisch siegen, wenn sie es schaffen, die Leute anhand von Hautfarbe, Religion, Sprache, Stamm gegeneinander auszuspielen. Wenn das ganze Mittelmeer zum militärischen Kampfgebiet wird, haben die MigrantInnen keine Chance dorthin zu kommen, wo sie hin wollen. Und wenn die Euro-Krisenstaaten die erste Angriffswelle fliegen, wird die Solidarisierung zwischen den Opfern der Krise schwieriger. Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders.


Am 20. März 2011 sind Prognosen schwierig geworden.

Frühlingsanfang 2011

Raute

Wie rasch sich die Situation in drei Monaten verändert hat!!

In Tunesien und Ägypten wurden die Regierungen gestürzt, im Jemen und in Bahrain kämpfen die Leute seit Wochen auf den Straßen. Im arabischen Raum hat eine Zeitenwende begonnen, die die Welt weit darüber hinaus entscheidend verändert.

Am 14. Januar floh Präsident Ben Ali aus Tunesien. Elf Tage später gingen die Aufstände in Ägypten los, am 11. Februar wurde Mubarak nach Scharm El-Scheich abgeschoben. Nun gingen im gesamten arabischen Raum die Leute auf die Straßen, vor allem im Jemen, in Bahrain und Libyen. In Libyen sind die politischen Institutionen, ganz anders als zuvor in Ägypten, innerhalb von Tagen regelrecht auseinandergebrochen (hunderte von Diplomaten, Generäle, Minister, vor allem Richter und Rechtsanwälte gingen von der Fahne - der ehemalige Justizminister wurde schnell zur führenden Figur der Opposition). Aber Gaddafi hat den Aufstand gegen ihn und seinen Clan, der am 17. Februar losbrach und zunächst genauso populär aussah wie zuvor die Bewegungen in Tunesien und Ägypten, militärisch zurückgeschlagen. Aus massenhaften Protesten wurden heftige bewaffnete Auseinandersetzungen. Vor allem aber ist in Libyen viel unklarer, was die Opposition eigentlich will - was an sozialen Forderungen in der Auseinandersetzung noch übriggeblieben ist.

Nicht nur in Libyen, in allen ölreichen Staaten am Golf wird sich die Richtung der Proteste an der Frage der MigrantInnen entscheiden; in diesen Ländern sind zwischen 25 Prozent (Libyen) und 80 Prozent (Katar) der Bevölkerung ArbeitsmigrantInnen. Die Regimes (und die sich als politische Oppositionsführer profilierenden Kräfte) versuchen alles, um die Basis der Proteste zu spalten; der "eigenen" Bevölkerung wird neben dem Knüppel zumindest noch etwas Geld und Jobs versprochen - dass die Almosen nicht für die Migranten gelten, versteht sich. In Bahrain, Libyen und dem Jemen sollen die schwarzafrikanischen Migranten als Sündenböcke für die Repression herhalten - Gerüchte über "Söldner" Gaddafis, Salehs usw. werden gestreut und Übergriffe provoziert.

Die zu hunderttausenden geflohenen Gastarbeiter kehren in ihre armen Herkunftsländer zurück oder hängen unterwegs an irgendwelchen Grenzen fest; welche Konsequenzen diese Rückkehrwelle für Länder wie Ägypten, Pakistan, Bangladesh, Nepal, Vietnam, Niger, Ghana, Tschad, usw. haben wird, ist nicht zu übersehen.

Im Jemen kommt es seit dem 3. Februar zu großen, zunächst friedlichen Demos, Millionen verlangen den Rücktritt der Regierung. Alle Stämme, politische Parteien und Organisationen, Gewerkschaften und Unis haben sich angeschlossen, zudem religiöse Führer. Auch hier treten Dutzende von Offizieren und Mitgliedern der Regierungspartei aus Protest gegen die Brutalität des Regimes zurück. Hunderte von Menschen werden getötet - trotzdem hält die Bewegung bis heute durch. Scheich Saleh hat ähnliche Vorschläge gemacht wie Mubarak: nicht wieder zu kandidieren usw. Am 20. März sieht es danach aus, dass dieses Regime als nächstes fällt.

In Bahrain, einem kleinen Inselstaat im Persischen Golf, geht es am 14. Februar los. Die schiitische Mehrheit kämpft gegen die 230 Jahre alte Monarchie der Al-Khalifa-Familie. Zehntausende sind auf den Straßen - bei insgesamt einer Million Einwohnern, davon die Hälfte MigrantInnen. Der Perlenplatz wird wochenlang besetzt. Das Regime geht von Anfang an hart vor; daraufhin radikalisieren sich die Forderungen der Bewegung. Am 14. März schickt der Golf-Kooperationsrat (Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und Oman) 2000 Soldaten und Bullen zur Niederschlagung des Aufstands; offensichtlich mit Billigung der USA - Bahrain ist der Heimathafen der Fünften Flotte. Die Länder des Golfrats verfolgen damit auch innenpolitische Ziele: in Oman und Saudi-Arabien hatten sich inzwischen ebenfalls die Menschen auf die Straßen getraut. Die Golfstaaten führen in Bahrain mit gewaltiger Übermacht vor, dass die Revolte das sunnitische Königshaus nicht bedrohen darf. Der saudische König hatte eine Gehaltserhöhung von 15 Prozent für Beamte und Staatsangestellte bekannt gegeben, zudem schoss er elf Milliarden Dollar zusätzlich in einen Fonds, der kleine Privatkredite für Hochzeiten, Hausbau oder Existenzgründung vergibt. Trotzdem gab es Demos im Osten Saudi-Arabiens wenige Kilometer von Bahrain entfernt, Bullen eröffneten das Feuer.

Die einmarschierten Truppen gehen in Bahrain äußerst brutal vor, es gibt viele Tote. Am 18. März zerstören bahrainische Streitkräfte das Perlenmonument auf dem Platz, das die Einheit des Golf-Kooperationsrates symbolisieren sollte, aber nun zum Symbol der Proteste geworden war.

Derweil kommen auch die Königshäuser in Marokko und Jordanien unter Druck. Der jordanische König entließ die Regierung und nahm Gespräche mit der Opposition auf. Trotzdem gehen die Proteste auf den Straßen weiter.

In Syrien hält sich das Regime seit 1963 mit Notstandsgesetzen an der Macht, ein Aufstand in der Stadt Hamah war 1982 mit 20.000 Toten blutig niedergeschlagen worden. Obwohl Präsident Assad einige politische Gefangene freiließ und finanzielle Beihilfen versprach, geht die Bewegung weiter. Kleineren Demonstrationen in verschiedenen Städten folgten ab dem 17. März heftige Riots in der südlichen Stadt Deraa; mehrere Menschen wurden getötet. Die Armee riegelte die Stadt ab.

Im Libanon geht eine Jugendbewegung gegen die Hisbollah-Regierung auf die Straße. Und sogar in Mauretanien kam es zu größeren Demos, woraufhin der Präsident politische und ökonomische Reformen versprach.

Algerien stellt wegen der Geschichte der letzten drei Jahrzehnte einen Spezialfall dar. Im Oktober 1988 hatten sich Proteste gegen Teuerungen in einen landesweiten blutigen Aufstand ausgeweitet. Als dann bei Wahlen die FIS (Islamische Rettungsfront) die Mehrheit der Stimmen gewann, putschte das Militär. Das mündete in einen jahrelangen äußerst brutalen Bürgerkrieg zwischen Rebellengruppen, Staatlichem Geheimdienst und Militär mit 200.000 Toten. Seit 1992 herrschte Ausnahmezustand. Die 2004 verkündete Amnestie kehrte v.a. die Verbrechen der staatlichen Organe unter den Teppich. Trotzdem gelang es dem Regime nie, Ruhe herzustellen. Auch 2010 soll es im Land Tausende von riots gegeben haben, es ging um Ausbildung, Gesundheitsversorgung und gegen die weitverbreitete Korruption. Seit Ende Dezember nahmen gewalttätige Demos gegen die Wohnungsnot zu; als Anfang 2011 die Lebensmittelpreise dramatisch stiegen, brachen in allen algerischen Provinzen Unruhen aus. Arbeitslose blockierten Überlandstraßen, um Jobs zu erzwingen, ArbeiterInnen geschlossener Fabriken gingen für Abfindungen auf die Straße, andere für Wohnungen, bessere Wasserversorgung u.a.m. Am 8. Januar senkte die Regierung Steuern und Gebühren. Am 22. Januar griffen 20.000 Bullen Proteste an und töteten fünf Menschen. Trotzdem gingen die Mobilisierungen weiter, der Rücktritt Mubaraks gab der Bewegung Rückenwind; auf einer Demonstration lieferten sich Tausende heftige Auseinandersetzungen mit zehntausenden Sicherheitskräften. Mitte Februar hob Präsident Bouteflika den Ausnahmezustand auf und versprach politische Reformen. Seither herrscht gespannte Ruhe im Land.

Irak: Im Sommer 2010 hatte es Demos gegen die schlechte Versorgungslage bei Lebensmitteln, Energie und Wasser und die allgegenwärtige Korruption gegeben. Anfang Februar kam es zu größeren Protesten; in Kut setzte nach Schüssen der Polizei auf Demonstranten eine zornige Menge drei Regierungsgebäude in Brand. Die Proteste erfassten in der Folge fast alle größeren und viele kleinere Städte des irakischen Kernlandes und des kurdischen Nordens. Schon im Januar und Februar waren 40 Demonstranten und Journalisten umgebracht worden. Nach dem Tod von 30 Menschen bei landesweiten Protesten Anfang März wurden an vielen Orten die Regierungsgebäude und Polizeiwachen gestürmt. Die Demonstrationen wurden von mehreren Streiks begleitet, u.a. in der Lederindustrie in Bagdad, in einer Textilfabrik in Kut, in der Northern Oil Company in Kirkuk und den Elektrizitätswerken in Basra.

Auch hier versucht die Regierung, Zeit zu gewinnen: Jeder Haushalt erhielt zwölf Dollar als Entschädigung für die Kürzung der Rationen. Strom (so er denn fließt), wird günstiger abgegeben. Provinzgouverneure traten zurück. Trotzdem protestieren seitdem jeden Freitag viele IrakerInnen weiter.

Palästina: Am 31. Dezember veröffentlichte die "Free Gaza Youth" ihr Manifest. Schon die Einleitung ist im Gazastreifen eine ungekannte Provokation: "Fuck Hamas. Fuck Israel. Fuck Fatah. Fuck UN. Fuck UNWRA. Fuck USA!", machen sie ihrem Ärger über alle Luft, die in der Region irgendetwas zu melden haben - von der Hamas bis zum UN-Flüchtlingswerk UNWRA. "Wir fordern drei Dinge: Wir wollen frei sein. Wir wollen ein normales Leben führen können. Wir wollen Frieden. Ist das zu viel verlangt?", enden die Autoren.

In Israel gab es soweit wir wissen keine Resonanz auf die Aufstände - abgesehen von einem Streik von Angestellten der Sozialbehörde in den "arabischen" Gebieten von Israel. Tragisch.


Konterrevolution

Hinter der Eskalation in Libyen sammelt sich die Konterrevolution: Nicht nur Protestbewegungen lernen voneinander, sondern auch die Herrscher. Seit dem Vormarsch Gaddafi-treuer Verbände gegen Bullen und Militär im Jemen und in Bahrain deutlich härter gegen die dortigen Bewegungen vor.

[Stand 20. März 2011]

Raute

Vom Aufstand zur Revolution?

Nach dem Sturz der tunesischen Regierung ging auch in Ägypten "das Volk", vor allem "die Jugend" auf die Straße - und wie in Tunesien so auch hier: nach dem Sturz Mubaraks bleibt es dort. Die Menschen protestieren bis heute gegen die hohe Arbeitslosigkeit, explodierende Lebensmittelpreise und dagegen, dass die alte Garde an der Macht bleibt. Eine noch vor kurzem kaum für möglich gehaltene Fähigkeit zur Selbstorganisation tritt im Aufstand zutage, das "Gemeinwohl" wird zur eigenen Verantwortung: Müll wird eingesammelt, sanitäre und medizinische Versorgung eingerichtet, eine Kampagne zum Aufräumen der Slums ausgerufen. An den Protestorten und in den Wohnvierteln bildeten sich Komitees, um Provokateure, Zivilbullen und Plünderer abzuwehren. Wenn Leute aus der "Mittelschicht" (bspw. Ärzte) die Straßen fegen, Hand anlegen, arme Leute verarzten, brechen "mentale" Klassengrenzen auf, die in Ägypten bisher sehr stark waren.


Ägypten

1. Globale Krise - globale Kämpfe
In der Geschichte kam es meistens in den Stagnationsphasen kapitalistischer Krisen zu einem qualitativen Sprung der Kämpfe. Die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten sind der fortgeschrittenste Punkt einer globalen Revolte (Streikwelle im Sommer 2010 in China, die Bewegungen in Griechenland, Frankreich, Italien, Großbritannien, USA, Bolivien...). Hamas, das chinesische Regime, die Emirate..., alle Herrschenden haben gewaltige Angst davor, dass in Form des "Überschwappens" diese bisher fragmentierten Bewegungen zusammenfinden - es wäre die erste Schlacht einer globalen Arbeiterklasse.

2. Der Aufstand in Ägypten ist "ein Schrei nach Frieden"
Zwei Jahrzehnte lang wurde soziales Aufbegehren in Nordafrika in blutige Religionskämpfe umgedreht - inklusive des von allen Regimes geschürten Konflikts um Israel / Palästina. Die Menschen haben Bürgerkriege, Islamismus vs. Staat und den Terrorismus satt. All die politischen und ideologischen Positionen, mit denen die Leute gegeneinander aufgehetzt wurden, haben sich überlebt. (Und seit Anfang März finden sich in den gestürmten Geheimdienstzentralen Belege für die staatliche Verwicklung in dieses Gegeneinander Hetzen.)

3. Egalität
"Ökonomische" Bedingungen spielen eine wesentliche Rolle: Brot- und Energiepreise, Löhne, Perspektivlosigkeit. In der Bewegung, den Blockaden, in den Streiks, auf dem Tahrir Platz... werden grundsätzliche und allgemeine Bedürfnisse gemeinsam artikuliert. Im gemeinsamen Handeln erkennt die Bewegung ihre größte Stärke. Ein großartiger egalitärer Schwung geht durch den Alltag, die Straßen, die Stadtteile, die Betriebe - und hat eine gewaltige globale Ausstrahlung, bis nach Wisconsin und China.

4. Aufstand gegen den Neoliberalismus
Die Aufstände gegen Diktatur, Korruption und Klientelwirtschaft unterscheiden sich grundlegend von den osteuropäischen "bunten Revolutionen" der letzten 20 Jahre. Der Neoliberalismus hatte in seinem Drang, jede Legitimation sozialer Ansprüche zu zerstören, Sozial- und Beschäftigungssysteme zerschlagen und Vetternwirtschaft zum Prinzip gemacht. Sein Versprechen, (individuelle) Freiheit und (individuellen) Aufstieg durch das Aufbrechen verkrusteter Strukturen zu ermöglichen, hat sich in schwer befestigten Grenzen und repressiven Diktaturen materialisiert. Nur eine kleine Schicht hat tatsächlich profitiert, während die breite Masse junger Menschen unter großen Opfern und mit Elan auf Schulen und Unis stürmte - und danach komplett enttäuscht wurde.

5. Mehr als Mittelschicht
Die soziale Basis der Proteste waren "alle Teile" der Gesellschaft, von der die Mehrheit nicht lesen kann und keinen Internetanschluss hat. In der Geschichte haben die Aufstände immer die neuesten Kommunikationsmittel benutzt, aber es sind eben: Mittel. Das Gerede von der gebildeten Mittelschicht und ihrer "Facebook-Revolution" will die unteren Schichten der politischen Führung bürgerlicher Kräfte unterordnen.

6. Kein Staat ist die Lösung
Die vielen einzelnen Probleme und Forderungen verdichteten sich in der Parole "Weg mit der Regierung!" Die Menschen wollen "das Regime" und seine Polizei weg haben - aber der Antiimperialismus ist keine Perspektive. Weder ein unabhängiges Palästina noch ein Kalifat in der afghanischen Wüste bringen ein besseres Leben. Bis auf die ägyptische wurden keine Fahnen getragen; niemand verbrannte amerikanische oder israelische Fahnen - sie wurden einfach ignoriert. Es gab keine Führer, keine Ansprechpartner für das Regime, keine Organisationen, die sich in staatliche Strukturen integrieren ließen. Die Stärke der Aufstandswelle liegt in den (globalen) sozialen Prozessen von Gegenmacht, nicht in der Erstürmung der Präsidentenpaläste.

7. Epochenwende
Die unmittelbare Vorgeschichte der Aufstände beginnt meist Anfang der 90er Jahre mit den Versuchen des IWF, Strukturanpassungsprogramme durchzusetzen. Ihre historische Bedeutung reicht weit tiefer: Sie jagen Diktatoren davon, die am Ende der antikolonialen Befreiungskämpfe an die Macht kamen. Und sie beenden womöglich 126 Jahre nach der Berliner Kongokonferenz endlich die koloniale Aufteilung Afrikas. Diese Epochenwende ist mindestens vergleichbar mit den Kämpfen Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre ("winds of change"), und sie wird diesmal hoffentlich über den Nationalstaat hinausgehen.

8. Kein neuer Hegemon in Sicht
Die Aufstände besiegeln das Ende der "Pax Americana", aber kein neuer Welthegemon steigt empor. China kann diese Rolle aus vielen Gründen nicht spielen und ist seit der Streikwelle im Sommer 2010 intern massiv unter Druck. Die EU ist mit ihrer eigenen Krise beschäftigt und war wochenlang in Bezug auf die Entwicklungen in Nordafrika handlungsunfähig. Sie haben keinen Plan und versuchen, Zeit zu gewinnen. Weltpolitisch ist die Situation so offen wie nie.

9. Globale Ausstrahlung
Bewegungen überall auf der Welt beziehen sich bereits auf die Aufstände im arabischen Raum. Noch viel deutlicher ist die Verbindung nach Europa: Mit den Regimes zerbricht auch ihre Riegelfunktion gegen MigrantInnen. Aber die sozialen Aspirationen überschreiten die Grenzen nicht nur in Form der Migration. Und könnten sie den Menschen in Ägypten Geld geben, um sie kurzfristig zu beruhigen, und gleichzeitig knallharte Sanierungsprogramme in Griechenland durchsetzen??

10. Revolution?
Die sozialen Prozesse werden sich nur dann revolutionär entwickeln und ihre Potenziale freisetzen können, wenn sie die Umwälzung der Produktionsverhältnisse in den Blick nehmen. Dazu braucht es neue Konzepte. Formen von Staatssozialismus kennen die Leute in Ägypten, Algerien und Libyen zur Genüge. Und betriebliche Selbstverwaltung hat sich nicht nur in der Vergangenheit als Sackgasse erwiesen - sie greift auch gar nicht bei einer Wirtschaft, in der nur eine Minderheit in der Industrie und in der formalen Wirtschaft arbeitet.

11. Draus lernen!
Die Leute stehen vor "modernen" Fragen, und die Aufstandswelle ist voller Anregungen für uns, für unsere Kämpfe hier! Ersparen wir uns also gutgemeinte Ratschläge.



*


Die Vorgeschichte des ägyptischen Aufstands

1991 beschloss Mubarak ein vom IWF gefordertes Strukturanpassungsprogramm; 1997 wurden die Landreformen Nassers rückgängig gemacht, 1999 die Beschäftigungsgarantie für Hochschulabsolventen abgeschafft. Schon Mitte der 90er Jahre stieß dieser Umbau Ägyptens von einer "staatssozialistischen" Wirtschaft zur "Marktwirtschaft" auf große Widerstände. Gegen die Beschleunigung dieser "Reformen" ab 2004 entwickelten sich wachsende Kämpfe, die nun in der Aufstandsbewegung kulminierten.


Wirtschaftliche Stagnation

Unter der Oberfläche beeindruckender statistischer Wachstumszahlen konnte sich Ägypten nicht von seiner Abhängigkeit von Renteneinkünften lösen; noch immer sind die Gebühren des Suezkanals, der Tourismus, die Gasexporte und die US-Militärhilfe sowie (ohne das als "Rente" bezeichnen zu wollen) die Überweisungen der Arbeitsemigranten die Haupteinnahmequellen. Steuereinnahmen machen lediglich 15 Prozent des BIP aus (im Vergleich zu Marokko, Tunesien und Jordanien mit jeweils 20-24 Prozent); acht Prozent des BIP bestehen aus Subventionierungen für Lebensmittel und Energie. Das Staatsdefizit hat sich weiter erhöht. Neben der kapitalintensiven Textilfertigung wurde in den letzten Jahrzehnten eine arbeitsintensive Bekleidungsindustrie hochgezogen, die mit niedrigen Löhnen und bevorzugtem Zugang zu den Märkten der EU- und den USA den asiatischen Ländern Konkurrenz machen sollte. Trotzdem trägt die verarbeitende Industrie nach wie vor wenig zum Bruttosozialprodukt bei.

Die versteinerten Strukturen der autoritären Gesellschaft verhindern soziale Mobilität; Qualifikation und Arbeitswillen helfen nichts, wenn man nicht die entsprechenden Beziehungen hat. Die vom Staat beförderte Islamisierung der Gesellschaft sollte die sozialen Konflikte ersticken, sie führte aber aus Sicht der Unternehmer in eine Sackgasse - der Glaube als Form des Bummelstreiks; die Unternehmer können zwar Urlaubsansprüche streichen, aber wer will in einem islamischen Land den Menschen verbieten, auch während der Arbeit ihre Gebete zu verrichten oder sie zwingen, während des Fastenmonats volle Leistung zu bringen?

Ausländische Investoren beklagten häufig die mangelnde Produktivität ihrer ägyptischen Betriebe. In einem Bericht über die ägyptische Bekleidungsindustrie führte die amerikanische Handelskammer v.a. drei Probleme an: Absentismus, hohe Fluktuation, mangelndes Training. Sie zitieren den Manager einer Textilfabrik, dass an normalen Tagen zehn bis zwölf Prozent der ArbeiterInnen nicht zur Arbeit kommen, vor Feiertagen bis zu 18 Prozent. Derselbe Manager gibt die normale monatliche (!) Fluktuation der Belegschaft mit acht bis 15 Prozent an. Um diesem Dilemma zu entgehen, haben gerade ausländische Firmen zunehmend auf ausländische ArbeiterInnen zurückgegriffen, vor allem in höheren Positionen: deutsche Ingenieure, philippinische Vorarbeiterinnen in den Nähfabriken, Thais, Koreaner und Chinesen als Ausbilder. Das wiederum steigerte die Wut der vielen ägyptischen Arbeitslosen und Hochschulabsolventen.

Mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise stagnierten die Exporte (vor allem landwirtschaftlicher und textiler Produkte), die ausländischen Direktinvestitionen sind 2010 um 16,7 Prozent gesunken. Die meisten Beschäftigten im produktiven Sektor arbeiten in der Bauindustrie - auch sie wurde von der globalen Krise stark getroffen: 2010 sanken die Hausverkäufe um 40 Prozent.


Soziale Prozesse

Die in dem Artikel "Land am Nil, Land im Aufruhr" in der Wildcat 82 vom Sommer 2008 beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen (Urbanisierung, soziale Polarisierung) haben sich seitdem fortgesetzt.

Urbanisierung. Die Subzentren sind stark angewachsen, fast die gesamte Bevölkerung lebt im Nildelta und -tal sowie im Großraum Kairo. 80-100 Millionen Menschen leben auf einer Fläche der Größe Belgiens und betreiben dort noch Landwirtschaft. Im Nildelta gibt es keine klassischen "Dörfer" mehr, sondern eine Vielzahl von Hochhaussiedlungen und Städten.

Perspektivlose Jugend. 32 Prozent aller Ägypter sind jünger als 14, das Durchschnittsalter liegt bei 24 Jahren. Im Zuge der Urbanisierung entstand eine "arme Mittelschicht", das meint eine große Schicht formal gebildeter Jugendlicher aus proletarischen und ländlichen Familien, die keine Aufstiegsperspektive haben - 50 Prozent der männlichen und 90 Prozent der weiblichen Jugendlichen sind auch zwei Jahre nach ihrem Schulabschluss noch arbeitslos. Und wenn sie eine Arbeit finden, ist diese befristet und so schlecht bezahlt, dass sie davon kaum leben, geschweige denn einen eigenen Hausstand gründen können.

Die Inflation hat weiter zugenommen und die relativen Erfolge der Arbeiterkämpfe mehr als aufgefressen. Seit Anfang 2010 haben sich die Preise für Grundnahrungsmittel verdoppelt, für einige Güter sogar verfünffacht!

Soziale Polarisierung. Ein zunehmender Teil der Bevölkerung fällt aus den sowieso rudimentären sozialen Sicherungssystemen raus: Der Trend der De-Formalisierung der Wirtschaft macht den Zugang zu staatlichen Sozialleistungen zunehmend schwierig. 75 Prozent der neuen Jobs sind im informellen Sektor entstanden. Das kostenlose staatliche Gesundheitswesen wird immer weiter zusammengestrichen. Die Aufhebung der staatlichen Regulierung von Pacht- und Mietverhältnissen vertreibt Menschen von ihrem Land und aus ihren Wohnungen (Nasser hatte in den 60er Jahren Pacht und Miete auf dem damaligen Status quo eingefroren - die heute unverhältnismäßig niedrigen Mieten der Großelterngeneration halten die jungen Menschen zu Hause fest). Der Katalog von subventionierten Grundnahrungsmitteln und Energie wurde erstens zusammengestrichen und zweitens auf ein individuelles Bezugsrecht umgestellt - mit der Konsequenz, dass manche Bevölkerungsschichten keine Möglichkeit mehr haben, verbilligte Lebensmittel zu beziehen (etwa verstoßene Ehefrauen, Witwen, uneheliche Kinder, Waisen, illegale Flüchtlinge u.a.m.).


Die erste Phase des Widerstands kulminiert im Aufstand von Mahalla

Der Widerstand gegen die "neoliberale" Wirtschaftspolitik hat in den letzten Jahren mehrere Phasen durchlaufen:

Zunächst wehrten sich Bauern ab Mitte der 90er Jahre gegen die Rücknahme der Nasserschen Landreform und ihre Vertreibung. In dieser ersten Phase war ihr Widerstand oft vereinzelt und gewaltsam. Es war die Zeit des militanten Islamismus, in der Kämpfe zwischen Großgrundbesitzern und Kleinbauern sich teilweise als Konflikte zwischen verschiedenen "Clans" oder zwischen muslimischen Kleinbauern und christlichen Klöstern oder christlichen Grundbesitzern darstellten.

Ab 2004 regte sich in den Fabriken zunehmend Widerstand gegen die Privatisierung der staatlichen Industriebetriebe. Gleichzeitig organisierte sich die bürgerliche Opposition für demokratische Reformen (z.B. wurde 2004 das Kefaya-Wahlbündnis zwischen Linksliberalen, Nasseristen und Moslembrüdern geschlossen). Die parlamentarische Opposition wurde unterdrückt, während den streikenden Fabrikarbeitern und Staatsangestellten in vielen Fällen nachgegeben (und nicht mehr, wie noch zehn Jahre zuvor, das Militär gegen sie eingesetzt) wurde, so dass sie einige Erfolge erringen konnten. Die herausragenden Ereignisse waren der Streik von 50.000 überwiegend weiblichen "tax collectors" im Oktober 2007 und die Streikwelle in den Textilfabriken, die 2008 im Aufstand von Mahalla al Kubra kulminierte.

Die Steuereinsammlerinnen erkämpften 30 Prozent Lohnerhöhung, die TextilarbeiterInnen gewannen ebenso deutliche Lohnzuwächse und das Versprechen, die Privatisierung der Fabriken werde ihre Standards nicht angreifen. Diese Arbeiterkämpft haben die Jugend und die Landbevölkerung inspiriert. Ein Teil der gebildeten Jugendlichen brachte fortan ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ein, sie gingen zu Streiks und Demonstrationen und verbreiteten die Informationen über Blogs, Facebook und You Tube. Junge JournalistInnen konnten in neu gegründeten Zeitungen wie Al-Masri-al-Youm abseits der Staatsmedien relativ offen über soziale Kämpfe berichten. Parallel dazu übernahmen die Kämpfe auf dem Land neue direkte Kampfformen, wie etwa die Blockade wichtiger Überlandstraßen, um staatliche Stellen zu zwingen, bspw. die Trinkwasserversorgung zu verbessern.


Zweite Phase: Die Erfolge werden erodiert, aber die Gesellschaft bleibt in Bewegung.

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise wurden schätzungsweise 800 Fabriken stillgelegt. Bis zum Sommer 2010 wurden die Streiks gerade in der Textilindustrie zunehmend defensiver und erfolgloser. Ihre Anzahl ging nicht zurück, aber sie veränderten ihren Charakter: Die Zugeständnisse, die die Regierung und die Unternehmen 2008 gemacht hatten, wurden in vielen Fällen nicht erfüllt oder durch die enorme Inflation aufgefressen, die Reallöhne sanken deutlich.

Es war enorm wichtig, dass sich die ArbeiterInnen auch in der globalen Finanzkrise weiterhin wehrten - und dass die " Jugendbewegung" nicht mehr locker ließ.

Am deutlichsten war diese Entwicklung seit Februar 2010 vor dem Parlament in Kairo zu beobachten. Zunächst zogen hunderte Arbeiter der Tanta Linen, Flax und Oil Company aus der Provinzhauptstadt Tanta nach Kairo vor das Parlament und campierten dort zwei Wochen. Seit ihre Fabrik fünf Jahre zuvor an einen saudischen Geschäftsmann verkauft worden war, hatten sie immer wieder gegen die Nichtauszahlung zugesagter Prämien und Lohnerhöhungen gestreikt und seit Jahresbeginn 2010 die Produktion endgültig stillgelegt. Da der Besitzer der Fabrik sie einfach ihrem Schicksal überließ, zogen sie vor das Parlament. Ohne Rückhalt der Staatsgewerkschaft waren sie in einer verzweifelten Verfassung; viele überlebten nur dank der Spenden von Passanten. Nach zwei Wochen öffentlichen Campierens bekamen sie 1550 LE ausstehende Löhne für Januar und Februar 2010 sowie 40.000 LE für Frühverrentung. Die vielen Bauern, denen die Gesellschaft Geld für Flachs schuldete, gingen leer aus.

Nach und nach wurde der Platz vor dem Parlament zur "Hyde Park Corner" Kairos. Ebenfalls im Februar campierten dort Arbeiter der Landentwicklungsbehörde des Beheira Governorates, der Nubaria Company for Agricultural Equipment (Forderung nach Zahlung ausstehender Löhne) und Dutzende Behinderte. Letztere forderten adäquate Wohnungen und mehr Arbeitsmöglichkeiten für Behinderte. Mehr als 140 Arbeiter einer dem Landwirtschaftsministerium angegliederten Behörde protestierten drei Wochen lang für Lohnerhöhungen. Später gesellten sich zu den Protestierern 90 Familien aus Duweiqa, einem Armenviertel Kairos; sie waren nach einem Erdrutsch aus ihren Wohnungen zwangsevakuiert worden, hatten aber keinen Ersatz bekommen.

Im März kamen 1700 Textilarbeiter der Firma Amonsito dazu. Seit November 2008 war ihre Firma pleite, der syrische Besitzer abgehauen. Sie beendeten das Sit-in, nachdem die Bank versichert hatte, jedem über dem Rentenalter eine Abfindung von drei Monatslöhnen pro Beschäftigungsjahr zu zahlen. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten, also kamen sie im Mai wieder. Im Juli versuchten sie, die Mauer zum Parlament zu übersteigen, nachdem ein parlamentarischer Arbeitsausschuss sich geweigert hatte, ihre Forderungen zu unterstützen. Im Anschluss zogen sie zur Zentrale der Bank Misr, wurden aber von der Polizei mit Gewalt vertrieben. Danach wurde generell das Demonstrieren vor dem Parlament verboten - der Staat bekam Angst vor dieser Art von "proletarischer Öffentlichkeit". Denn auch vor Provinzparlamenten hatte sich regelmäßig Ähnliches abgespielt.

Auch in anderen Bereichen kam es zunehmend zur Konfrontation zwischen Staat und "Bürgern", etwa in den wütenden Demonstrationen in Alexandria nach der Ermordung des Aktivisten und Bloggers Khaled Said durch Geheimpolizisten im Juni 2010 (weil er über Drogenhandel durch Polizisten berichtet hatte), oder in den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Angehörigen von 20 Arbeitern, die beim Einsturz einer Fabrik in Alexandria im Dezember 2010 umgekommen waren.

In dieser Phase war entscheidend, dass ArbeiterInnen angesichts schwacher ökonomischer Druckmittel an die Öffentlichkeit gingen - nicht nur medial, sondern real auf die Straße. Dort begegneten sich viele, unterschiedliche ProletarierInnen und kamen manchmal in ihren Kämpfen auch zusammen. Der ausgeprägt informelle Charakter der ägyptischen Wirtschaft zwischen Tagelöhnerei und Selbstständigkeit wurde in diesen Kämpfen um allgemeine Lebensbedingungen nach außen gedreht. Im Dezember 2010 protestierten z.B. in der Kleinstadt Al Sayala im Nildelta Einwohner gegen die vernachlässigte Infrastruktur, während gleichzeitig Trucker unter anderem wegen derselben Probleme mit unpassierbaren Straßen streikten. Ein weiteres Beispiel: oft verbanden sich Streiks von Krankenhauspersonal mit Demonstrationen von Angehörigen gegen die vielfach tödliche Vernachlässigung der staatlichen Gesundheitsversorgung.


Übergang zum Aufstand

Der Kampf von Amonsito markierte den Übergang zur Phase unmittelbar vor der Januarerhebung. Der Staat war immer weniger in der Lage, die Probleme der Arbeitenden zu managen und der allgemeinen Wirtschaftskrise entgegen zu wirken - in gleichem Maße griff er wieder auf polizeiliche Repression zurück. Gleichzeitig waren auch die ArbeiterInnen frustriert und gingen Konfrontationen mit dem Staat und seinen Institutionen ein - im September versuchten dutzende Arbeiter verschiedener Betriebe, die Gewerkschaftszentrale zu stürmen, und lieferten sich Kämpfe mit der Polizei.

Neben verschiedenen örtlichen Streiks von Minibusfahrern ist vor allem der dreiwöchige Streik der LKW-Fahrer und Kleinunternehmer im Dezember 2010 zu erwähnen. Mit über 70.000 Beteiligten war es der größte und längste Streik der letzten Jahre. Er brachte Ägypten an den Rand des Stillstands. Der Staat reagierte mit partiellem Zurückweichen und verschärfter polizeilicher Unterdrückung. Die Fahrer nahmen aber die Verhaftung von Kollegen nicht mehr hin, sondern zogen in Tanta vor den örtlichen Knast und forderten ihre Freilassung.

Die Al Ahram kommentierte diesen und einen vorangegangenen Streik von 45.000 Apothekern am 19. Dezember unter der Überschrift "Petit Bourgeois of Egypt unite!" - nicht das Potenzial der Arbeiter, sondern das der Mittelklasse seien in der ägyptischen Gesellschaft für "kollektiven Kampf und organisierte Aktion" von Bedeutung.

Die letzte Karte der Herrschenden war das Schüren von religiösen Auseinandersetzungen - aber sie ist endgültig ausgereizt: der Bombenanschlag auf eine Kirche in Alexandria in der Silvesternacht und Morde an Christen u.a. durch Polizisten in Südägypten führten zu Straßenschlachten von jugendlichen Kopten mit der Polizei, dem Staat, aber kaum zu Auseinandersetzungen mit Muslimen - stattdessen gab es große gemeinsame Demonstrationen von Christen und Muslimen gegen religiöse Gewalt.


Der Aufstand

In dieses Pulverfass schlug die Erhebung in Tunesien ein. Sofort gab es Solidaritätsdemonstrationen in den großen Städten - und leider auch eine zunehmende Zahl von Selbstverbrennungen, auch von Arbeitern, die die Bedingungen nicht mehr ertrugen und ein Signal setzen wollten. Schließlich rief ein Bündnis aus der liberalen Mittelschicht (der "Bloggerszene") zum "Tag des Zorns" auf Am 25. Januar gingen in Kairo 10.000 auf die Straße, überwiegend Jugendliche. Aber im Gegensatz zu früheren Mobilisierungen wurde nicht nur in Kairo und Alexandria protestiert, sondern im ganzen Land, bis hin zu kleineren Städten und auf dem Sinai, wo es Demonstrationen und auch Schießereien mit Beduinen wegen der schon lang andauernden Vertreibungen gab.

Die härtesten Auseinandersetzungen mit den ersten Toten gab es in Suez, einer Industrie- und Hafenstadt am Südausgang des Suezkanals. Suez ist in einer besonderen Position: Einerseits wird hier viel Geld eingenommen, durch die Gebühren für die Benutzung des Kanals, durch Transitgebühren einer Ölpipeline, durch den Hafen, durch die großen Chemie- und Textilfabriken. In der Nähe von Suez ist eine der ältesten Qualified Industrial Zones - Sonderwirtschaftszonen, aus denen zollfrei in die USA und nach Israel exportiert werden kann. Bei der Masse der Bevölkerung kommt dieser Reichtum aber nicht an. Lukrative Posten werden von Außenstehenden besetzt, die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie im Rest des Landes. In Suez treten die oben benannten Probleme zwischen Vetternwirtschaft, mangelnder Produktivität und Arbeiterwiderstand deutlicher hervor als in anderen Städten - ebenso aber auch die Potenziale des Aufstands. Am 9. Februar verbanden sich hier ein dreitägiges Sit-in von Textilarbeitern für Lohnerhöhungen und ein Streik von 1300 Stahlarbeitern für höhere Löhne mit einer Demo von Arbeitslosen, die vor einer Ölfirma ihre Einstellung forderten. (Was wäre in der BRD los, wenn die festangestellten VW-Arbeiter nicht nur höhere Prämien für sich, sondern mit Arbeitslosen zusammen auch noch deren Einstellung fordern würden?!?)

Am 27. Januar wurde das Internet nahezu komplett gesperrt, das Mobilfunknetz und schließlich auch das Festnetz abgeschaltet. Abends versuchte Mubarak, mit dem Verzicht auf eine weitere Kandidatur, einer Regierungsumbildung und vagen Reformversprechen, den Konflikt zu entschärfen. Als auch das nichts half und die Proteste weiter anschwollen, zog die Regierung am nächsten Tag eine Karte, die schon Sadat bei den "Brotunruhen" 1977 gespielt hatte - einerseits wurde eine Ausgangssperre erlassen, andererseits verschwand die Polizei aus den Städten (nicht unbedingt vom Land - in Beni Suef wurden am 29. Januar 17 Menschen von der Polizei erschossen), und es wurde freie Hand für Plünderungen durch Polizisten in Zivil und die mit der Polizei verbundenen Gangs aus Armenvierteln gegeben. Die Ausgangssperre und die Evakuierung vieler ausländischer Beschäftigter legte das ganze wirtschaftliche Leben lahm, das sollte den ökonomischen Druck erhöhen, die Proteste abzubrechen. Das Regime tat alles, um die Versorgung der Menschen zu unterbinden: Schließung der Häfen, Schließung der Banken (somit keine Lohnzahlungen und für die kleinen Selbstständigen keinen Kredit). Viele Menschen, die sowieso schon am Rande des Hungers oder darüber hinaus leben, standen von jetzt auf gleich vor dem Nichts.

Ob die Plünderungen und später am 2. und 3. Februar die Überfälle von Mubarak-Anhängern auf den Tahrir-Platz tatsächlich nur das Werk von bezahlten Agenten und angeheuerten Tagelöhnern war, oder ob sich in ihnen die verschärfte gesellschaftliche Spaltung zwischen "Mittelschicht" und "Subproletariat" ausdrückte, lässt sich von außen nicht beurteilen. Wohl aber, dass auch dieses Manöver nicht gelang: Nach zwei Tagen musste die Armee einschreiten und die "Sicherheit der Demonstranten" durchsetzen. Weitere Zugeständnisse des Regimes, etwa die Einsetzung eines Komitees zur Neuformulierung der Verfassung, Aufnahme von Gesprächen mit Vertretern von Oppositionsparteien, die Anhebung der Gehälter im Öffentlichen Dienst um 15 Prozent, Versprechen auf Kompensation der Verluste der Protestzeit, Entschädigung der Opfer von Polizeiterror usw. haben den Protest nach einer kurzen Phase der Verunsicherung eher angestachelt. Am 8. Februar sollen vier bis sieben Millionen Menschen auf der Straße gewesen sein.

Nun beschränkte sich die Bewegung nicht mehr auf politische Demonstrationen, sondern knüpfte an die sozialen Kämpfe bis Dezember 2010 an. An einer neuen Streikwelle in den letzten Tagen Mubaraks beteiligten sich etwa 20-30.000 ArbeiterInnen und Angestellte. Arbeiterkämpfe und Mobilisierungen von Arbeitslosen verbanden sich. Und schließlich breitete sich die Revolte auf das Land aus, wo die Polizei und bewaffnete Gruppen der lokalen Oligarchie gewalttätiger und brutaler als in den Städten die Proteste unterdrückten.

In dieser Situation wurde Mubarak in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar nach Scharm El Scheich abgeschoben. Das Militär war in einer Zwickmühle; erstens konnten sie nicht auf die Loyalität der 'Wehrpflichtigen zählen, wenn sie eine gewaltsame Niederschlagung des Aufstands befohlen hätten. Zweitens stellt das Militär, vergleichbar mit der Türkei, einen großen Wirtschaftskomplex dar - in gewissem Sinne das Herz des ägyptischen Sozialstaats, mit Bereicherungsmöglichkeiten für die oberen und Beschäftigungsmöglichkeiten in den unzähligen zivilen Fabriken des Militärs für die unteren Ränge (das Militär ist nahezu der einzige Weg, sozial nach oben zu kommen - alle Präsidenten von Nasser bis Mubarak und Suleiman kamen aus einfachen Verhältnissen und aus der Armee). Wenn diese Institution durch die Massakrierung des Aufstands ihre Legitimationsbasis verliert, hätten sich die Generäle selber den Ast abgesägt, auf dem sie bislang bequem sitzen.


Wie geht's weiter?
Vereinnahmungsversuche, innere Widersprüche und Potenziale

Die bisherigen organisatorischen Kerne der Bewegung stehen für die Widersprüchlichkeiten zwischen Aufbruch und kapitalistischer Modernisierung; die Begründer der Facebook "Bewegung 6. April" kommen aus der ägyptischen Parteienlandschaft (Al-Ghad) und haben gute Verbindungen zu El Baradei. In Tunesien konnte man sehen, wie schnell kritische Blogger sich in Regierungen einbinden lassen - und dann auch staatstragende Positionen von sich geben. Wael Ghonim, der Begründer der Facebookgemeinschaft "Wir sind alle Khaled Said", ist Google-Manager und lebt in Dubai - gerade ihn hat die Militärregierung als einen der ersten in das neue Verfassungsberatungsgremium berufen.

Der Lieblingsfeind von Bahamas, taz und Seehofer, die "Islamisten", dürfte der Bewegung hingegen kaum gefährlich werden können. Die Muslimbruderschaft hat als Organisation keine Rolle bei den Protesten gespielt, aber ihre Jugendlichen haben sich an den Demonstrationen beteiligt. Nun fordern sie den Sturz der alten Garde, mehr innerorganisatorische Transparenz, Auflösung der Geheimstrukturen - also alles andere als religiöse Forderungen, sondern "Demokratie"!

Die unabhängige, gewerkschaftlich orientierte Linke hat in dem Prozess zunehmender Arbeitermilitanz in den letzten Jahren sicherlich eine Rolle gespielt - soweit sie von außen kam, hat sie für eine (mediale) Öffentlichkeit gesorgt und z.B. rechtliche Unterstützung geleistet. Ihre Fähigkeit, selber Kämpfe zu organisieren, war dagegen beschränkt. Ihre Kampagne für die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns im Frühsommer 2010 war wahrnehmbar, hatte aber keine Massenbasis.

Modernisierer
Die Formalisierung der Arbeiterkämpfe in einem neuen Gewerkschaftsverband wird sich als widersprüchlich erweisen; das Regime hatte noch vor dem Aufstand die Weichen gestellt, unabhängige Gewerkschaften zuzulassen. Die Funktionäre der neuen Gewerkschaftsbewegung sind z.T. Dissidenten der alten Staatsgewerkschaft und lassen sich mangels anderer internationaler Bündnispartner auf eine Kooperation mit westlichen Gewerkschaften ein. Der Preis für die Unterstützung des neuen Dachverbands z.B. durch den berüchtigten US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO wird hoch sein.

Die "Modernisierer" bei der Gewerkschaft und ihr nahestehenden Kräften wollen die Aktivisten in den Betrieben für eine Produktivitätsoffensive und Leistungslöhne gewinnen. Damit werden sie die Leistungsfähigen von den Unproduktiven zu trennen versuchen.

Sie werden Anreize in der informellen Wirtschaft schaffen, diese zu formalisieren; wer das dafür nötige Kapital nicht aufbringen kann, wird weiter an den Rand gedrängt. Des weiteren wollen sie "die sozialen Sicherungssysteme modernisieren" - was "individuelle Bedarfsprüfung" heißt, dürfte aus den Erfahrungen mit Hartz IV bekannt sein. (vgl. zu diesen Plänen: Mideast Foreign Policy vom 28.2.2011: "Labor and the future of the Egyptian revolution")

Potenziale
Die Frage nach den Grenzen eines revolutionären Prozesses entscheidet sich daran, ob und wie sich die "Jugend- und Arbeiterbewegung" nach der ersten Euphorie sozial nach unten abzugrenzen versucht. Gehen die kapillaren sozialen Prozesse weiter? Oder etablieren sich nennenswerte Teile als neue gesellschaftliche und betriebliche Führungsschicht?

Aktuell sind die Versuche ungeheuer wichtig, das Leben selber neu zu organisieren und die Gestaltung der Lebensbedingungen in die eigenen Hände zu nehmen: Studenten und Anwohner organisieren die Reinigung von Slums, reparieren Straßen, setzen Häuser instand, organisieren freie Kliniken usw.

... in den Betrieben
An der Mobilisierung zum Sturz Mubaraks waren ArbeiterInnen stark beteiligt, aber erst ab dem 8. Februar, in den letzten Tagen vor seinem Rücktritt, kam es zu größeren selbständigen Aktionen von Arbeitern und Angestellten, vor allem aus der staatlichen Verwaltung und wirtschaftlich prosperierenden Betrieben.

20-30.000 Streikende sind in einem Land von 80 bis 100 Millionen sicher kein Generalstreik, den sich die Gewerkschaftslinken gewünscht hätte. Aber die Streikwelle dauert bis heute an und umfasst nun alle Bereiche der Wirtschaft: Textil-, Chemie-, Energie- und Agrarindustrie. Die jeweils spezifischen Forderungen haben einige grundsätzliche Ziele:

Einkommen. Beschäftigte und Arbeitslose schließen sich zusammen, nicht nur in Suez (s.o.). In Luxor führte das Versprechen der Regierung, Entschädigungen für aufstandsbedingte Verluste im Tourismusgeschäft zu leisten, zu gemeinsamen Protesten von Beschäftigten im informellen Sektor und Arbeitslosen: Entschädigungszahlungen nicht nur für Kleinunternehmer, sondern auch für Tagelöhner, Angestellte und Arbeitslose!

Die Entfristung von Zeitverträgen ist für die 13 Millionen Arbeiter im informellen Sektor ein drängendes Problem, ebenso für die 2 Millionen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und für die jeweils eine halbe Million Arbeiter auf dem Bau und im Öffentlichen Dienst. Bei Streiks bei der Post, in Krankenhäusern und verschiedenen Behörden wurde die Festeinstellung von Befristeten gefordert.

Egalitäre Forderungen gegen krasse Lohnunterschiede und Vetternwirtschaft. Die Streikenden z.B. bei Telekom Egypt prangerten an, dass einfache Angestellte 600 LE bekommen, Abteilungsleiter 30.000, der Unternehmensleiter 250.000 LE. Sie wollen Mindest- und Maximalsätze für Prämien und die Abschaffung der gängigen Praxis, dass Günstlinge der Chefs auf dem Papier mehrere Positionen ausfüllen und entsprechend mehrfaches Gehalt beziehen. Es gab Arbeitsniederlegungen und "Geiselnahmen", um der Forderung nach Absetzung verhasster Manager Nachdruck zu verleihen.

Sogar die kleinen Stützen der Gesellschaft scheinen von einem Druck befreit; auch viele Polizisten und Geistliche streiken für höhere Löhne oder zünden schon mal ein Gebäude des Ministeriums an, um Entlassungen rückgängig zu machen. Am 28. Februar protestierten tausende Geistliche gegen die staatliche Zensur - und forderten bei der Gelegenheit auch gleich mehr Geld.

... auf dem Land
Seit dem Sturz Mubaraks dringt die Revolte weiter bis in die kleinen Provinzstädte und in den Agrarsektor vor; Bauern protestieren gegen Brotknappheit und Korruption der Provinzfürsten, gegen die Rückkehr der verhassten Polizei und deren Übergriffe. Sie blockieren Straßen und zünden Polizeistationen und Gouverneurspaläste an. Landarbeiter streiken für höhere Löhne (in Toshka, einem gigantischen Bewässerungsprojekt in der Wüste, streikten wie schon 2008 tausende Landarbeiter).

... in den Slums
Am 9. Februar setzten in Suez mehrere hundert SlumbewohnerInnen den Palast des Gouverneurs in Brand, weil er ihnen neue Wohnungen verweigert hatte. Davon abgesehen waren bis zum Sturz Mubaraks an den Protesten so gut wie keine der offiziell rund 12 Millionen SlumbewohnerInnen beteiligt. Aber inzwischen mobilisieren auch sie sich stärker gegen ihre unzumutbaren Lebensbedingungen, vor allem wegen der Wohnverhältnisse und der schlechten Lebensmittelversorgung. Am 19. Februar forderten 2000 Einwohner von Duweiqa von der Regierung Hilfen für von einem Feuer zerstörte Häuser; im Sommer 2010 hatten sie noch Sit-ins gemacht (s.o.), nun blockierten sie eine Hauptverkehrsstraße und legten den Verkehr lahm. Am 9. März wurde ausgerechnet dieses Viertel koptischer Müllsammler von regierungsnahen Provokateuren angegriffen! Ebenso waren die gewaltsamen Ausbrüche gegen die Frauendemonstration am 8. März die direkte Antwort der Staatssicherheit auf die Angriffe auf ihre Zentralen. Die Opposition sprach von der "erbittertsten Schlacht seit der Entthronung von Mubarak".


Randnotizen

Die "Bewegung 6. April" wurde vom Ingenieur Ahmed Maher und der Sachbearbeiterin Israa Abdel Fattah gegründet. Ihr Ziel: einen für den 6. April 2008 anberaumten Arbeiterstreik in der Stadt Mahalla al-Kubra zu unterstützen und zum gleichzeitigen Generalstreik gegen die steigenden Brotpreise zu mobilisieren.

"Ein bisschen Zensur brauchen wir, denn die Tunesier wollen keine Pornoseiten im Internet sehen!" Slim Amamou, Mitglied der tunesischen Piratenpartei, während der Proteste politischer Häftling, jetzt Regierungsmitglied im Amt eines Staatsekretärs für Jugend und Sport.

Raute

Die Ölrente läuft aus

Der Anstieg der Ölpreise auf das Rekordhoch von 147 Dollar je Barrel im Jahr 2008, die erneute Preissteigerung im Verlauf von 2010 und nun die Aufstände im arabischen Raum lassen die Debatte über das globale Ölfördermaximum wieder hochkochen. Seit dem Beginn der Erdölförderung vor ca. 150 Jahren wuchs die Fördermenge weltweit stetig oder in Schüben auf 85 Millionen Barrel Rohöl pro Tag (mb/d). Seit Jahrzehnten wird unter dem Stichwort Peak Oil darüber diskutiert, wann der Höhepunkt auf der Förderkurve erreicht ist, wann Stagnation oder ein Rückgang einsetzt. Den Begriff hatte M.K. Hubbert, Geophysiker am Shell-Forschungslabor in Houston, in den 1960er Jahren geprägt. Demnach folgt der Verlauf der Ölförderung bei einzelnen Quellen, Ölfeldern oder Regionen einer Logistischen Verteilung, die oft mit einer Glockenkurve illustriert wird. Damit hatte er das Ölfördermaximum für die USA korrekt für Anfang der 1970er Jahre vorhergesagt. Für die Weltgesamtförderung hatte er den Peak auf den Anfang dieses Jahrtausends berechnet.

Heute hat die Ölförderung in mehr als 60 von etwa 100 Ländern, in denen Öl gefördert wird, ihren Höhepunkt überschritten. Die konventionell abbaubaren Ölvorräte sind vermutlich alle entdeckt. Und die Förderung aus existierenden Feldern sinkt schneller als noch vor ein paar Jahren gedacht. Der Rückgang der Ölförderung in allen aktiven Feldern liegt laut Internationaler Energieagentur (IEA) bei jährlich 6,7 Prozent - noch 2007 war die Organisation von nur 3,7 Prozent ausgegangen. Gleichzeitig wächst die Nachfrage weiter an. Allein die chinesischen Ölimporte stiegen 2010 um 17,5 Prozent auf die Rekordmenge von 4,79 mb/d. Dazu kommt die Nachfrage aus Indien und anderen Schwellenländern, sowie der steigende Konsum in den ölproduzierenden Ländern selbst (auch Indonesien importiert inzwischen Erdöl).

Eine neue Energiequelle, die das Öl - v. a. seinen Einsatz in Motorfahrzeugen - ersetzen könnte, ist nicht in Sicht. Zwar wurden in der Vergangenheit durch höhere Preise neue Ölquellen rentabel und die Fördermengen immer wieder über das jeweils prognostizierte Maximum hinaus gesteigert. Aber aus den Ölpreissteigerungen der letzten Jahrzehnte haben Ökonomen errechnet, dass 20 Dollar Preiserhöhung pro Barrel Erdöl das globale Wirtschaftswachstum um einen Prozentpunkt drückt, 50 Dollar Preiserhöhung käme einem transportbedingten Aufschlag von 11 Prozent auf alle weltweit gehandelten Güter gleich. Die aktuelle Flucht der Ölmultis zu Tiefsee- und Polarbohrungen, zur Ölgewinnung aus Ölsand und Ölschiefer steigert die Kosten (und die Risiken der Exploration) exponentiell. In der Folge werden Benzin, Heizöl und auch landwirtschaftliche und industrielle Erzeugnisse deutlich teurer. Alles nur eine Frage des Preises?


Peak Cheap Oil

Zwei Studien von 2010 zeigen die Wichtigkeit der Überlegungen zu der Maximalen Fördermenge. Die Bundeswehr beschäftigt sich in einer noch nicht freigegebenen Studie des Dezernats Zukunftsanalyse vom Juli 2010 mit Peak Oil. Und in ihrem World Energy Outlook 2010 schlägt die Internationale Energieagentur (IEA) ungewohnt neue Töne an. Die erste Studie sieht den Peak mit einer "gewissen Wahrscheinlichkeit" für das Jahr 2010 und damit "ein hohes systemisches Risiko [...] in Anbetracht des Globalisierungsgrades Deutschlands" - bemerkenswerterweise "unabhängig von der eigenen Energiepolitik". Umfangreichere militärische Auswirkungen erwartet sie allerdings erst mit einer zeitlichen Verzögerung von 15 bis 30 Jahren. Aber schon für die kommenden Jahre erwarten die Bundeswehr-Forscher sowohl weltweit als auch insbesondere für Deutschland erhebliche ökonomische und soziale Konsequenzen der Ölverknappung, darunter "auf mittlere Sicht das Ende der wirtschaftlichen Wachstumsdynamik". Das werde zu Versorgungsengpässen, dem "wirtschaftlichen Bedeutungsverlust westlicher Industrieländer", Hungerkrisen und einer Neuverteilung der geopolitischen Macht führen. Die betroffenen Bereiche wie Verkehr, Landwirtschaft, chemische und Automobilindustrie, sinkende Kaufkraft und die zu erwartende "Transformationsarbeitslosigkeit" fügen sich zu einem Katastrophenszenario. Es könne ein Wendepunkt erreicht werden, ab dem das Wirtschaftssystem kippt (kein Wunder, dass die Bundesregierung öffentlich eine andere Meinung vertritt).(1)

Auch die IEA spricht offen von Peak Oil und zeigt, dass die Förderung höchstens noch ein paar Jahre stabil gehalten werden kann und dann endgültig abrutscht (siehe Grafik). Nur wenn "noch nicht entwickelte Felder" bereits jetzt die Produktion aufnähmen, könnte das heutige, leicht abgesunkene Niveau bis etwa 2015 stabilisiert werden. Ab dann müssten Felder dazu kommen, die noch nicht gefunden sind! Im Jahr 2020 erreicht die Rohölforderung ein instabiles Plateau von ca. 67-69 mb/d, der absolute Höchstwert des Jahres 2006 kann nie mehr erreicht werden. Weil sie stark auf wachsende Fördermengen bei nicht-konventionellem und Tiefseeöl, sowie Kohle- und Gasverflüssigung setzt, verneint und bestätigt die IEA Peak Oil im selben Atemzug. Aber so oder so ist auf jeden Fall Peak Cheap Oil erreicht.


Flucht in die Tiefe

Tiefsee-Öl macht heute etwa sechs Prozent der weltweiten Ölförderung aus, aber es ist das letzte Reservoir der Ölmultis. Darin liegt die große strategische Bedeutung des Deep-Water-Horizon-Unfalls im Golf von Mexiko.(2) Die Bundesanstalt für Rohstoffe hatte für 2015 mit Peak Oil gerechnet und sieht es durch den Unfall nun ein Jahr früher.

Auch der Ausweg zum Polaröl führt zu krassen ökologischen und geopolitischen Konsequenzen. Zudem zeigt er den Trend zum weltweiten Machtverlust der Ölmultis gegenüber staatlichen Konzernen. Nur durch einen Aktientausch mit Rosneft, den die FTD "russisches Roulette" nannte, konnte sich BP perspektivisch den Zugang zum begehrten Öl aus der Arktis verschaffen.

Peak Oil hängt also ab von der Menge förderbaren Öls, von Neufunden, von Preisen (plus Spekulation)(3), von möglichen Alternativen, von der Nachfrage, vom technologischen Fortschritt - und von einer ganzen Menge an politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.

Aber wie kommt das Erdöl zu seinem Preis? Der "Ölschock", die Ölkrise Anfang der 1970er Jahre hatte diese Frage und die politische Bedeutung der Energiefrage im Klassenkampf auf die Tagesordnung gebracht. Viele linksradikale/marxistische Analysen spürten diesem Zusammenhang nach und sahen unterschiedliche Akteure hinter den Bewegungen des Ölpreises: die OPEC, die Ölmultis, das US-Kapital. Die Vordenker des Kapitals stellten hingegen die zur Neige gehenden Rohstoffe in den Mittelpunkt und schleuderten diese "Grenzen des Wachstums" (Club of Rome) gegen die weltweiten Kämpfe - "die Bäume wachsen nicht mehr in den Himmel". Bis heute sind viele Debatten von dieser Frontstellung geprägt.


Öl und Klassenkampf

Die Energiepreise sind heftig umkämpft; 2010 wurde z.B. in der BRD ca. 800.000 Haushalten der Strom und 400.000 das Gas abgestellt. Es ist bezeichnend, wie stark die Mineralölsteuer das Kapital gegenüber den Autofahrern (ca. 60-70 Prozent Steueranteil) bevorzugt. Die niedrigere Besteuerung von Dieselkraftstoff gegenüber Ottokraftstoff subventioniert den Straßengüterverkehr, Flugbenzin ist steuerfrei, dasselbe gilt für Treibstoffe in der Schifffahrt usw.

Uns hatte deshalb in den 70er und 80er Jahren der Ansatz von Zerowork (später Midnight Notes bzw. Midnight Oil) überzeugt, die auch den Ölpreis politisch zu fassen versuchen und in der globalen Erdölindustrie eine neue Klassenzusammensetzung, das "Erdölproletariat", heranwachsen sehen - gegen das die Kriege der USA gerichtet waren und sind.(4) Aber drei Einwände sind nicht von der Hand zu weisen: Eine Theorie, die sich mit Peak Oil nicht kritisch auseinandersetzt, sondern es schlichtweg bestreitet, ist historisch neben der Spur. Zweitens ist die Figur des "Erdölproletariats" nicht sichtbar geworden. Midnight Notes zählen dazu die Wanderarbeiter auf den arabischen Ölfeldern, die dort arbeitenden Prostituierten, die hochbezahlten Technikerarbeiter auf den Ölplattformen, die Tanklastfahrer usw.

Es ist auf jeden Fall richtig, dass diese Leute in den letzten 120 Jahren sehr viele Kämpfe ausgefochten haben. Es kam dabei aber zu keiner Homogenisierung, zu keiner Angleichung der Bedingungen; diese sind krass unterschiedlich. Drittens ist die These von der Manipulation des Erdölpreises Kampf gegen die Arbeiterklasse marxistisch schwer zu halten. Aufheben entgegnet mit Cyrus Bina, der Erdölpreis ließe sich ohne Marxens Rententheorie nicht verstehen - dreht sich dann aber im Kreis der kapitalistischen Konkurrenz.(5) Dazu weiter unten, zunächst zum Zusammenhang von Klassenkämpfen und Erdöl/Energie.

Kämpfe auf den Ölfeldern
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die russischen Ölunternehmen mit Nobel an der Spitze bereits die USA in der Ölgewinnung überflügelt, die Hälfte der damaligen Weltproduktion kam aus Baku.(6) Als 1897 Shell gegründet wurde und 1901 nach riesigen Ölfunden in Texas die neuen Wettbewerber Texaco und Gulf hinzu kamen, versuchten die Rothschilds, Nobels und Rockefellers zu einer Annäherung und Kartellbildung zu kommen. Dass dieses Projekt scheiterte, hängt auch mit der explosiven Lage in Baku und dem Kaukasus-Gebiet zusammen. Was in Romanen der 30er Jahre über die Verhältnisse auf US-amerikanischen und mexikanischen Ölfeldern zu lesen war, lief dort eine Generation früher ab. Die "wahre Brutstätte der Revolution" (Lenin) in Russland lag weniger im aristokratischen St. Petersburg oder im altgläubigen Moskau, sondern in diesem "ölgetränkten Prometheus-Land im Kaukasus mit Baku im Zentrum." (Barudio) Die dortige Streikbewegung von 1903 bildete den Auftakt zum Flächenbrand, der bis zur russischen Revolution weiterglimmte. Dazu kam die veraltete Ölfördertechnik. Die Produktion des Nafta-Konzerns sank bis 1920 kontinuierlich auf ein Drittel, während sich die Weltförderung verfünffachte.

Die große Kraft hinter dieser Entwicklung waren die Arbeiter auf den Ölfeldern.

1919 hatte die Raffinerie von Abadan im Iran etwa 3400 Beschäftigte, darunter 2500 indische und 800 iranische. Hier kommt es am 9. Dezember 1920 zum ersten großen Streik. Indische Arbeiter fordem mehr Lohn, am nächsten Tag schließen sich ihnen iranische und arabische Arbeiter an - mit Erfolg. Als im Mai 1922 die indischen Arbeiter erneut in Streik treten und die Verdopplung ihrer Löhne fordern, werden die Streikführer vom englischen Militär verhaftet. Etwa 2000 indische Arbeiter werden entlassen und nach Indien deportiert. Bis 1927 vervierfacht sich die Zahl der Beschäftigten, nun arbeiten hier etwa 10 170 Iraner, 4060 Inder und 530 Europäer. Im Mai 1929 wird die Abadan-Raffinerie erneut durch einen großen Streik lahmgelegt, der sich diesmal auch auf andere Ölstädte ausdehnt. Die Engländer schicken das Kriegsschiff Cyclamen in die iranischen Gewässer. Der Chef der Anglo-Persian Oil Company, der sich zur Verlängerung der umstrittenen Ölkonzession in Teheran aufhält, muss angesichts der Unruhen den Iran verlassen. 800 Polizisten und Tausende Soldaten werden eingesetzt, 300 Arbeiter verhaftet, einige von ihnen sollten dann bis zur Abdankung von Reza Schah in Haft bleiben. Trotzdem konnte die Revolte von 1929 Forderungen durchsetzen, darunter Lohnerhöhungen von 25 Prozent, bezahlten Urlaub und Acht-Stunden-Tag. (Ganz ähnlich entwickelte sich die Geschichte Mexikos vor 1938 und Venezuelas vor 1948.) Bekannt ist zudem die Rolle der iranischen Ölarbeiter in der letzten großen Revolution des 20. Jahrhunderts; ihr Streik führte zum Sturz des Schah und zur "zweiten Ölkrise".

Andere "Störungen" in der Ölversorgung
Steffen Bukold, der in seinem Buch "Öl im 21. Jahrhundert" alle Ölkrisen seit Beginn der Ölindustrie aufzählt und die wichtigeren seit 1973/74 eingehend untersucht, kommt zu folgendem überraschenden Ergebnis: "Die unmittelbarsten Störungen der Ölversorgung der EU seit 1974 waren allerdings nicht auf externe Ursachen zurückzuführen sondern auf soziale Konflikte in den EU-Staaten, vor allem in England und Frankreich." Nur ein paar Beispiele: Ein Streik von Tanklastwagenfahrern brachte Großbritannien im Jahr 2000 an den Rand einer ernsten Wirtschaftskrise. Das Land war nur wenige Tagen vom Stillstand entfernt. 1996 hatte ein Streik der französischen LKW-Fahrer ebenfalls die Belieferung der Tankstellen unterbrochen. Die Hälfte der Departements musste das Benzin rationieren. 2007 unterbrach ein Streik französischer Hafenarbeiter wochenlang die Belieferung europäischer Raffinerien. Noch nicht untersuchen konnte Bukold die Streiks 2010 in den französischen Raffinerien und Häfen; die dadurch ausgelösten Versorgungsprobleme waren so gewaltig, dass Umwelt- und Energieminister Jean-Louis Borloo im Anschluss erklärte: "Wir sind haarscharf einer absoluten wirtschaftlichen Katastrophe entgangen". Zu erwähnen sind auch die Aktionen der LKW-Fahrer in Griechenland 2010.

Die Revolten gegen Lebensmittelpreise
Höhere Rohölpreise übersetzen sich in steigende Preise bei Nahrungsmitteln und anderen grundlegenden Gütern: durch steigende Kosten beim Betrieb von Maschinen, bei der Wasserversorgung, beim Transport, durch teurere Düngemittel und Pflanzenschutzmittel, oder indirekt weil der Anbau von Agrotreibstoffen rentabel wird und die Ackerflächen verknappt. Nach Schätzungen der OECD wurden bereits 2007 allein in den USA mehr als 80 Millionen Tonnen Mais für die Erzeugung von Bioethanol verwendet - mehr als zehn Prozent der Weltproduktion. Die "Tortilla-Revolte" 2007 in Mexiko war die Folge der sprunghaft gestiegenen Nachfrage nach Biotreibstoffen und dem Wettbewerb um begrenzte Anbauflächen.

Die Nahrungsmittelrevolten von 2008 haben diesen Zusammenhang in mehr als 30 Ländern auf die Straßen gebracht. Bei den Aufständen in Nordafrika Ende 2010, Anfang 2011 waren gestiegene Lebensmittelpreise ein wichtiger Zündfunke. Und auch die Regierung Morales in Bolivien war in der zweiten Februarhälfte 2011 mit einem Generalstreik, Blockaden und Demonstrationen gegen steigende Energie-/Lebensmittelpreise konfrontiert.


Rententheorie

Die Rententheorie ist entstanden beim Versuch, die Fluktuationen des Weizenpreises zu erklären. Ricardo lebte in einer Periode, in der die Weizenpreise beständig stiegen (1770-1815). Diese Verteuerung erklärte er mit der Flucht auf immer unfruchtbareren Boden. Weil in einer Zeit von Getreidemangel und knappem Ackerland auch dieser Weizen gebraucht wird, sei der schlechteste Acker preisbestimmend. Die Differenz zu ihren Kapitalerträgen auf den besseren Böden, die (Differential)-Rente, erhält der Grundeigentümer.

Marx erlebte dagegen, dass der Getreidepreis seit 1815 stark fiel. Er stellte fest, dass Ricardos Theorie rein statistisch nicht (mehr?) stimmte: auch bei sinkenden Weizenpreisen kann die Grundrente steigen (siehe Brief an Engels von 1851, MEW 27, S.158). Im Lichte seiner eigenen Ausarbeitungen begriff er Ricardos Diffirentialrente ähnlich wie den industriellen Extraprofit, mit dem Unterschied, dass hier der Extraprofit mit einer monopolisierbaren Naturkraft zusammenhängt. Viel wichtiger ist aber seine Erkenntnis, dass es neben oder besser unterhalb der Differentialrente eben das gibt, was er die absolute Rente nennt. Denn warum sinkt durch die kapitalistische Konkurrenz der Wert landwirtschaftlicher Produkte nicht auf ihren Kostenpreis, wie es in der Industrie geschieht? Hier bringt Marx die Frage der organischen Zusammensetzung hinzu: das landwirtschaftliche Kapital hat eine niedrigere Zusammensetzung als das durchschnittliche industrielle Kapital, kommandiert also mehr lebendige Arbeit. Das Grundeigentum verhindert aber den vollständigen Ausgleich der Profitrate, die Grundrente kommt hinzu und resultiert in einem höheren Marktpreis. Es gibt Stellen bei Marx, wo er die niedrigere organische Zusammensetzung in der Landwirtschaft geradezu als Voraussetzung für die absolute Rente sieht. Vor allem aber sind Boden und Naturkräfte nicht wie ein industrielles Produkt beliebig zu vervielfältigen. Das Kapital kann die Landwirtschaft ungeheuer rationalisieren, aber es kann sich dem Anspruch des Grundeigentums auf einen Teil des Agrarprodukts nicht entziehen. Es muss dem Grundeigentümer den Überschuss des Wertes über den Kostenpreis lassen. Marx schreibt selbst, dass er erst 1862 "endlich auch mit der Grundrentescheiße ... im reinen" war und nach "langen Bedenken ... über die völlige Richtigkeit der R[icardo]schen Theorie ... endlich den Schwindel aufgefunden" hatte (MEW 30, 248f). Weil Marx Ricardos Rententheorie 1862 nach langer Kritik vollständig verworfen hat, kann man mit Marxens Aussagen zur Grundrente vor diesem Zeitpunkt nicht weiterkommen.

Wenn Marx die unterschiedlichen Eigenschaften der Erde als Produktionselement (Landwirtschaft), als Produktionsbedingung (Bauplatz) und als Reservoir von Gebrauchswerten (Bergwerke) behandelt, widerspricht er Ricardos Erklärung, die Rente werde dem Grundeigentümer "für den Gebrauch der ursprünglichen und unzerstörbaren Kräfte des Bodens gezahlt". Erstens habe der Boden keine unzerstörbaren Kräfte, zweitens habe er insofern auch keine ursprünglichen Kräfte (original powers), als der Boden überhaupt nichts "Originelles" sei, sondern das Produkt eines naturhistorischen Prozesses. Im Unterschied zu Ricardo hat Marx die Endlichkeit der Natur(kräfte) vor Augen. Das zeigt an mehreren Stellen seines Werks, etwa im Kapital, Band 1: "Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter." (S. 530) Noch deutlicher wird seine Position in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD, weil es hier auch um die Frage nach der möglichen Befreiung von der Arbeit geht. Weil sich im Jahrhundert danach das Ricardianische bzw. sozialdemokratische Verständnis dieses Zusammenhangs als das angeblich "marxistische" in den Köpfen festgesetzt hat, sei hier Marxens Kritik am Paragraphen "Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur" zitiert: "Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte ... als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. ... Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzudichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andern Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben." (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19. S.15)

Ricardianer unter sich
Gegen Midnight Oil greift die englische Zeitschrift Aufheben die Thesen von Bina auf; der "die historische Entwicklung der Ölpreisfestsetzung auf Marxens Rententheorie zu beziehen und gleichzeitig die Vorstellung zurückzuweisen versucht, dass die Erdölpreise einfach von der OPEC, den Erdölmultis oder der US-Regierung manipuliert seien."

Aufheben referiert die Thesen kurz so: "Alle natürlichen Ressourcen ... haben nur insofern Wert, als sie gehoben und dorthin transportiert werden müssen, wo sie gebraucht werden. Freilich können sich natürliche Bedingungen stark verändern. Die Erdölförderung in der Nordsee oder in den USA ist wesentlich teurer als im Nahen Osten, und so lange solch teures Erdöl nötig ist, um die weltweite Nachfrage zu befriedigen, ist es der Wert dieser marginalen High cost-Produzenten, der den Preis des Erdöls bestimmt. Der Unterschied zwischen diesem Marktpreis und dem Low cost-Erdöl, der eine höhere als die Durchschnittsprofitrate ermöglicht, kann insoweit als Rente gefasst werden..."

Man sieht: Aufheben bringt gegen Midnight Notes die "Ricardianische Rente" in Anschlag. Das tun übrigens nicht nur Linke, viele Ökonomen arbeiten mit dieser Vorstellung, beziehen sich dabei aber nicht vermeintlich auf Marx, sondern direkt auf Ricardo. Nur zwei Beispiele: Der damalige Ölminister des Iran, Amuzegar, schrieb 1975: "Das Erdöl aus dem Nahen Osten und Nordafrika hat seinen Besitzern bisher enorme windfall-Profite verschafft - Ökonomen nennen das die Ricardianische Rente, sie entsteht aus den unterschiedlichen Produktionskosten im Vergleich zu Ölfeldern im Golf von Mexiko oder an anderen high cost-Produzenten." (Johangir Amuzegar: "The Oil Story: Facts, Fiction and Fair Play", in: Foreign Affairs, Bd. 53, Nr. 4) Auch ein BP-Manager sprach damals davon, die "Differentialrente" sei unheimlich hoch (Der Spiegel 6/74).

Auch Bina, auf dessen Ausarbeitungen sich Aufheben stützte, vertritt eine Differential-Ölrenten-Theorie. Er begründet das damit, dass die absolute Rente nach dem Konzept von Marx in Bezug auf die Ölindustrie keinen Sinn mache, da die organische Zusammensetzung des Erdölkapitals höher sei als die durchschnittliche industrielle. Unserer Ansicht nach stützt er sich damit auf eine schwache Stelle bei Marx, der andeutete, die absolute Rente könne historisch entfallen, wenn die Differenz in der organischen Zusammensetzung entfiele. Gegen den Vorwurf, auf Ricardos Rententheone zurückzufallen, grenzt Bina sich ab, indem er auf Marxens Differentialrente II (hoher Kapitaleinsatz auf schlechten Ölfeldern) verweist. Bina beschäftigt sich nicht mit den Voraussetzungen der Tauschwertproduktion, er spricht von "Grundeigentumsverhältnissen", meint damit aber die Eigentumsformen (privat und staatlich); seine Periodisierung (Preissetzung durch Kartelle, danach Übergang zur "freien Konkurrenz") ist Geschichte von oben.

Wir haben die kritischen Punkte dieser Theorien nur angetippt. Bezeichnend ist allemal, dass sie zwar das Wertgesetz hochhalten, dabei aber nur die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten wahrnehmen und den Klassenkampf komplett ausblenden. Verrückterweise war aber auch George Caffentzis (der nacheinander bei Zerowork und Midnight Notes aktiv war) in seiner Ablehnung von Peak Oil letztlich Ricardianer. Es ist der typische Versuch eines falsch verstandenen "Marxismus", das Wertgesetz zu retten, indem man von den zugrundeliegenden Gebrauchswerten absieht.

Nochmal einen ganz anderen Weg schlagen seit kurzem die Negrianer ein, v.a. Vercellone(7), indem sie nun alles zu "Rente" erklären und sich somit nicht mehr mit der spezifisch kapitalistischen Mehrwertproduktion beschäftigen müssen.

Wir werden uns im nächsten Heft ausführlich mit all diesen "Rententheorien" beschäftigen.


Umverteilung der Rente - oder Abschaffung des Staates?

Scheinbar ganz anders argumentieren viele Linke, die vom "Recht der Völker auf ihre Naturressourcen" sprechen. Auch die ersten radikalen Anhänger Ricardos vertraten zunächst die Ansicht, dass "alles in Ordnung wäre, würde die Grundrente an den Staat bezahlt." (Marx im Brief an Sorge, 18.6.1881, MEW 35, S.199) Auch im Kommunistischen Manifest wurde noch die "Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben" gefordert (MEW 4, S.481). 33 Jahre danach, 1881, schrieb Marx: "Diese Ansicht ist ursprünglich den Bourgeoisökonomen angehörig" (Marx im erwähnten Brief an Sorge).

Die Forderung "die Ressourcen gehören denen, die drauf sitzen", bleibt im Rahmen des Kapitalismus. Wenn schon, dann gehören sie der ganzen Menschheit - und auch der zukünftigen. Die Abschaffung des Grundeigentums ist nicht mit der "Aneignung der Grundrente durch den Staat" gleichzusetzen, sondern mit der Abschaffung des Staates.

Zur Sicherung ihres politischen Überlebens bestechen viele erdölproduzierende Staaten Teile der Bevölkerung durch die Verteilung der Ölrente, und sie finanzieren damit die ständige Aufwertung der Landeswährung zur Verbilligung der (importierten) Lebensmittel. Diese Ölrente ist global erzeugter Mehrwert - sie ist nichts Unerschöpfliches, sie entkommt nicht dem Wertgesetz. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel: Die OPEC hat 2010 mit ihren Ölexporten einen Gewinn von 750 Milliarden Dollar erzielt (2009 waren es 571 Milliarden). Im Februar 2011 hat allein das Königshaus von Saudi-Arabien angesichts der Aufstandsbewegungen der saudischen Bevölkerung zusätzliche Sozialleistungen von 40 Milliarden Dollar versprochen. Hieran wird deutlich, wie brisant die Erschöpfung der Ölfelder auch innenpolitisch ist. Vor dem Hintergrund der Erschöpfung der Ölvorräte erklären sich die hohen Preisausschläge während der Aufstandsbewegungen in Libyen und Bahrain mit der Angst vor ihrer Ausbreitung. Nur wenn wir die Gebrauchswertseite und die politische Seite zusammen diskutieren, wird aus dem "geologischen Problem" eine Frage von Klassenkampf und der möglichen Umwälzung aller Verhältnisse.


Anmerkungen

(1) s. World Energy Outlook 2010, www.worldenergyoutlook.org; Zentrum für Transformation der Bundeswehr, Dezernat Zukunftsanalyse: Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologien im 21. Jahrhundert, Teilstudie 1: Peak Oil.

(2) Zur größten Ölkatastrophe in der amerikanischen (oder globalen?) Geschichte siehe "Not Another Disaster Movie" von John Garvey in: Insurgent Notes 1, http://insurgentnotes.com/2010/10/not-anotherdisaster-movie/

(3) Heute haben die Terminmärkte (hier werden Kontrakte, nicht physisches Öl gehandelt) den Handel auf den Spotmärkten (physische Ölgeschäfte), der Mitte der 80er Jahre noch weit verbreitet war, verdrängt. Die oft zitierte Nachfrage Chinas nach Öl stieg von 2003 bis 2008 in etwa genauso stark wie die Nachfrage der Spekulanten nach Terminkontrakten (im Sommer 2008 hielten Indexinvestoren Kontrakte, die einer Ölmenge von 1,1 Milliarden Barrel entsprechen). Dazu passend haben heute die "Spekulanten" die "Ölscheichs" als Verursacher hoher Ölpreise vom ersten Platz in der öffentlichen Debatte verdrängt.

(4 ) Wir haben verschiedene Texte übersetzt und veröffentlicht, u.a.: Midnight Oil - Arbeit, Energie, Krieg, TheKla 17; Ölwechsel, TheKla 14; Zerowork, TheKla 10. Einige davon findet Ihr in Archiv auf www.wildcat-www.de

(5) "Solche Konflikte können wir theoretisch nur verstehen, wenn wir verstehen, wie der Klassenkampf durch Konkurrenz vermittelt wird und umgekehrt."
Aus der Besprechung des Buchs Midnight Oil in der englischen Zeitschrift Aufheben, Nr. 3, Sommer 1994, Deutsch: Wildcat-Zirkular 6, http://www.wildcat-www.de/zirkular/06/z06midni.htm.

Cyrus Bina hat zahlreiche Bücher zum Thema verfasst und versucht, Marxens Rententheorie auf das Erdöl anzuwenden.

(6) Vgl. Tränen des Teufels, Günter Barudio; vor allem die Seiten 267-278

(7) Carlo Vercellone: Vom Massenarbeiter zur kognitiven Arbeit. Eine historische und theoretische Betrachtung". In: Marcel van der Linden, Karl Heinz Roth (Hg.) Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin-Hamburg 2009, Assoziation A.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Weltölproduktion (Diagramm)
- streikende Ölarbeiter in Boryslaw 1904
- Der Preis für Rohöl seit 1970 (Diagramm)

Raute

USA

Mubarak for Governor!

Knaststreik in Georgia

Aus den USA kamen 2009 und 2010 vor allem deprimierende Nachrichten. Die Situation der Leute ist katastrophal, jede/r siebte lebt unter dem offiziellen Armutsniveau, viele verelenden regelrecht. Abhängigkeit von Essensmarken und kostenfreier ärztlicher Versorgung im örtlichen Fußballstadion wird zum Massenphänomen. Schon im "Aufschwung" mussten viele mehrere Jobs machen, um über die Runden zu kommen und/oder hatten sich verschulden müssen, um zum Arzt zu gehen und die Ausbildung der Kinder zu finanzieren. In der Krise hat sich diese Situation durch Massenentlassungen und Kürzungen der öffentlichen Ausgaben massiv verschärft. Und es wird schlimmer kommen: Im Immobilien- und Bankensektor stehen weitere Einbrüche bevor; wenn die staatlichen Konjunkturprogramme weltweit auslaufen, wenn die USA ihre expansive Geldpolitik radikal zurückfahren, werden weitere Jobs abgebaut und Mittel gekürzt werden. Es geht dabei nicht um ein paar Bücher weniger in der Bibliothek, sondern darum, dass Leute keine Rente mehr kriegen und Hunger leiden.

Aber Proteste, Gegenwehr, kollektive Selbsthilfe? Lange Zeit gab es nur ein paar Meldungen über die Bewegung der StudentInnen und einige wenige Streiks. Erst im Herbst 2010 entwickelte sich zumindest Widerstand gegen Zwangsvollstreckungen. Und dann kam im Dezember ausgerechnet aus den Knästen ein starkes Signal des Aufruhrs: der größte Gefangenenstreik in der Geschichte der USA! In Georgia hatten sich die Gefangenen mehrerer Knäste koordiniert und die Arbeit verweigert. Die offiziellen Medien haben sehr wenig berichtet, die Behörden falsche Informationen verbreitet, die Angst vor einer Ausbreitung war groß. Und das nicht ohne Grund: die Integration weiter Teile der Arbeiterklasse über den Sozialstaat und Wohlstandsversprechen ist gescheitert, die massenhafte Einknastung und folgende Stigmatisierung der Armen die einzige Möglichkeit, mit dem Zerfall der Gesellschaft klarzukommen. Seit 1980 ist die Gefangenenzahl von 300.000 auf 2,5 Millionen gewachsen, damit liegen die USA weltweit sowohl absolut als auch in Relation zur Bevölkerung auf dem ersten Platz.

Vor allem Nichtweiße werden kriminalisiert. 70 Prozent der Gefangenen sind "schwarz" oder "hispanisch", obwohl sie lediglich 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Mit vielen Strafen geht eine lebenslange Degradierung einher, viele Verurteilte haben beispielsweise keinen Anspruch auf Essensmarken und Sozialwohnungen mehr. In zahlreichen Bundesstaaten führt eine Verurteilung zur Aberkennung bürgerlicher Rechte, 13 Prozent aller schwarzen Männer in den USA haben kein Wahlrecht mehr.

Die Strategie der Masseninhaftierung wurde als Antwort auf die Kämpfe der 1960er Jahre eingesetzt: viele rebellierten, maßgeblich auch die billigen Arbeitskräfte in den schwarzen Ghettos. Nixon, Reagan und die folgenden Regierungen riefen einen "War on Drugs" aus, obwohl bis dahin niemand Drogen für ein großes Problem hielt, und beschafften sich mit Kampagnen gegen schwarze Crack-User (natürlich wurden nur die Drogen der armen Leute ins Visier genommen) Stimmen im Wahlkampf. Gleichzeitig wurden Gangster und Eliten durch Drogenhandel reich, wurde der Krieg der Contra in Nicaragua durch Drogengelder finanziert. Black Power wurde von Staat und Gangs in die Zange genommen, bis sich viele nur noch ums Überleben kümmern konnten.

Gesetze wurden verschärft - hier tat sich die Regierung Clinton besonders hervor - Polizei und Knäste mit viel Geld aufgerüstet. Ein Teil der Gefängnisse wurde privatisiert, die beteiligten Unternehmen haben nun natürlich ein Interesse daran, dass die Knäste erhalten bleiben und voll belegt sind. Gesamtgesellschaftlich verursachen sie zwar hohe Kosten, aber viele Kommunen hoffen, dass der Bau und Betrieb von Gefängnissen Arbeitsplätze schafft und die lokale Wirtschaft über diese "prison revenue"(1) stützt. Außerdem wird in den Knästen gearbeitet: Insgesamt arbeiten mindestens 600.000 Gefangene, wahrscheinlich eher eine Million in Vollzeit. Sie stellen Möbel für Unis und die Regierung, Nummernschilder und Kleidung für die Army her. In vielen Staaten arbeiten die Gefangenen für große Firmen wie BP, TWA, Best Western Hotels, Honda, Chevron, IBM, Microsoft und Boeing, beispielsweise im Call Center.

Im Bundesstaat Georgia arbeiten die Gefangenen für den Gefängnisbetrieb, machen Küchen- und Putzarbeiten, dafür werden sie gar nicht bezahlt. Allerdings brauchen sie immer mehr Geld etwa für Telefonate über Privatunternehmen, die hohe Gebühren verlangen (in einigen Staaten wird sogar Geld für Arztbesuche und den Gefängnisaufenthalt selbst verlangt).

Am 9. Dezember 2010 weigerte sich die Frühschicht in vier staatlichen Gefängnissen in Georgia (Hays State, Macon State, Telfair State, Smith State), in der Küche anzutreten, den Rest deqs Tages traten auch alle anderen Gefangenen in Streik. In sechs weiteren Gefängnissen ließen zumindest Teile der Gefangenen die Arbeit ruhen. Sie forderten u.a. die Entlohnung ihrer Arbeit, bessere medizinische Versorgung, besseres Essen, besseren Kontakt zu Freunden und Familie, mehr Bildungsmöglichkeiten, gerechte Entscheidungen über Freigang, und dass geringste Regelübertretungen nicht mehr grausam bestraft werden dürfen.

Am 13. Dezember gab die zuständige Behörde bekannt, dass die Gefangenen in den vier vollständig bestreikten Gefängnissen in ihren Zellen eingeschlossen worden waren. Angestellte behaupteten, sie hätten frühzeitig vom geplanten Streik erfahren und die Leute vorbeugend eingesperrt. Zum Teil wurden Warmwasser und Heizung abgestellt, die vermeintlichen Anführer verlegt, Handies beschlagnahmt. Die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) berichtete, dass im Augusta State Prison mehrere Gefangene aus ihren Zellen gerissen und ihnen Rippen gebrochen worden waren. In Telfair wurde das komplette Eigentum von Gefangenen zerstört und in Macon wurden Gefangene bedroht und einige vermeintliche Anführer in Isohaft gesteckt. Die Gefangenen in Telfair wehrten sich, indem sie ihre Zellen mit Bettlaken verhängten, damit sie nicht gezählt werden konnten.

Der Streik wurde nach sechs Tagen beendet, nachdem er wohl ursprünglich nur für einen Tag geplant gewesen war. Die Gefangenen ließen verlautbaren, sie hätten den Streik friedlich abgebrochen, um der Verwaltung Zeit zu geben, sich um ihre Anliegen zu kümmern. Eine andere Begründung war: damit sie nicht mehr in ihren Zellen eingesperrt wären, sondern in die Bibliothek gehen und eine Klage gegen die Haftbedingungen vorbereiten könnten.

Die Aktion war sehr gut vorbereitet, allein die Koordinierung zwischen mehreren Gefängnissen erfordert einiges. Das war durch die Verwendung von Handies möglich, die zwar verboten sind, aber vor allem durch Gefängniswärter eingeschmuggelt (und zu horrenden Preisen verkauft) werden. Mehrere Gefangene riefen bei der New York Times an, einige berichteten, sie hätten vom Streik per SMS von Unbekannten erfahren. Im Voraus waren Lebensmittel gesammelt und ein Zeitpunkt mit passenden klimatischen Bedingungen gesucht worden. Vermutlich waren die Anführer der Aktion gut auf die verschiedenen Knäste verteilt und traten nicht öffentlich in Erscheinung, so dass sie nicht sofort entfernt werden konnten.

Von einem bestimmten Punkt an haben sich die Leute an Organisationen draußen gewandt, wie Critical Resistance und AntiknastaktivistInnen, die dann ihre Forderungen zusammenfassten und Öffentlichkeitsarbeit machten. Maßgeblich daran beteiligt war Elaine Brown, Mitbegründerin der National Alliance for Radical Prison Reform und ehemalige Vorsitzende der Black Panther Party, die dafür mit über 200 Gefangenen gesprochen hat. Sie betont aber auch, der Streik sei von den Gefangenen selbst organisiert worden. Das war überhaupt nur möglich, weil die unterschiedlichen "ethnischen Gruppen", Gangs usw. sich zusammengetan haben. In der Vergangenheit liefen Auseinandersetzungen in den Knästen oft darauf hinaus, dass die unterschiedlichen Gruppierungen gegeneinander vorgegangen sind. In der California Institution for Men in Chino, in der die Zahl der Angestellten trotz doppelter Belegung der Zellen reduziert worden war, lief ein Riot im August 2009 hauptsächlich zwischen Latinos und Afro-Amerikanern. Der Streik in Georgia war in dieser Form nur möglich, weil dieses Gegeneinander überwunden wurde: "Sie wollen unsere Einheit kaputt machen. Wir haben hier Crips und Bloods [zwei Jugendbanden], Muslime, Mexikaner und Weiße, alle in friedlicher Übereinkunft, alle auf einer gemeinsamen Grundlage", sagte einer der Anführer des Streiks.

Ob es mit der Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit Verarmung und Repression zu mehr Verhaftungen kommt, oder ob auch daran gespart werden muss, ist noch offen. Während einige Staaten im Jahr 2010 die Gefangenenzahl weiter erhöht haben, haben andere die Ausgaben reduziert und "Reformen" eingeleitet, um die überfüllten Gefängnisse zu leeren. Klar ist aber, dass die Haftbedingungen sich weiter verschlechtern werden. Mittlerweile sind in Bundesgefängnissen nur noch 76 Prozent der Planstellen besetzt. Die Zahl der Gewalttaten nimmt damit zu, wie auch Berichte über verdorbenes Essen. Soziale Dienste und Bildungsmaßnahmen werden gestrichen.

Trotz der steigenden Gefangenenzahlen seit Anfang der 70er Jahre hat die Zahl der Gefängnisaufstände stark abgenommen. Vielleicht ist der Streik eines der ersten Zeichen einer sich ändernden gesellschaftlichen Stimmung: gemeinsamer Kampf anstelle von ethnischen, religiösen und anderen Konflikten untereinander. Und vielleicht ist das ein globaler Prozess, denn in Nordafrika passiert das Gleiche. Für Februar gab es einen Aufruf für eine Bewegung ehemaliger Gefangener - mit explizitem Bezug auf den Aufstand in Ägypten.


Bewegung in Wisconsin

Im Februar kam dann auch "draußen" was in Bewegung, auch hier war der Bezug auf Ägypten allgegenwärtig. Während die Regierung Obama noch einen Aufschwung vortäuscht und mit weiterer Verschuldung Zeit gewinnen kann, ist die Situation der Bundesstaaten und Kommunen bereits viel prekärer. In Illinois müssen Behörden ihre Räume verlassen, weil die Mieten nicht gezahlt werden können, Sozialarbeiter kriegen ihren Lohn zu spät, Apotheken gehen pleite, weil das Gesundheitssystem nicht funktioniert. In anderen Städten wird die Finanzierung für Museen und andere Kultureinrichtungen komplett gestrichen, Feuerwachen geschlossen, und generell macht es den Eindruck, als müsse der Staat Aufgaben wie Bildung, Gesundheitsversorgung und Armenfürsorge komplett aufgeben. Ein großes Problem sind die Renten der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. In einigen Städten machen die Zahlungen in Rentenfonds 25 Prozent des Budgets aus. Diese Zahlungen werden unter großem finanziellen Druck reduziert oder eingestellt, so dass die Rentenkassen von Städten wie Philadelphia und New York bald leer sein werden, eine Kleinstadt in Alabama hat die Rentenzahlungen bereits eingestellt.

Langsam wird es Teil des allgemeine Bewusstseins, dass es so weitergehen wird, und zwar überall. Und nachdem zwei lange Jahre vieles stillschweigend und vereinzelt hingenommen wurde, wird nun auch klar, wie schnell die Stimmung umschlagen kann. In Madison, Hauptstadt des nördlichen Staates Wisconsin, gab es ab Mitte Februar riesige Demos, in deren Anschluss das Capitol, das Parlamentsgebäude, besetzt wurde. Der neue republikanische Gouverneur Scott Walker hatte zunächst großzügige Steuergeschenke und Subventionen an die Unternehmer verteilt, nun wollte er den Haushalt sanieren und den Staatsangestellten ans Gehalt: Sie sollen bis zu 50 Prozent ihrer Rentenversicherung und mindestens zwölf Prozent ihrer Krankenversicherung selbst zahlen, was einer erheblichen Lohnkürzung gleichkommt. Zudem sollten Lohnerhöhungen in Zukunft auf die Inflationsrate begrenzt werden. Außerdem brachte er ein Gesetz auf den Weg, das Verschlechterungen in der Gesundheits- und Altenversorgung sowie für befristet Beschäftigte vorsieht. Es ermöglicht die Privatisierung zahlreicher Kraftwerke und die Zerstörung des bisher gut funktionierenden Rentensystems. Zudem sollten die Rechte der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst beschnitten werden: sie sollen nur noch über den Grundlohn verhandeln dürfen, aber nicht über die weiteren Lohnbestandteile; die Gewerkschaftsbeiträge sollten auch nicht mehr automatisch mit dem Lohn eingezogen werden. Von den Lohnkürzungen betroffen waren vor allem Verwaltungs-, Krankenhaus- und Unipersonal sowie LehrerInnen - Polizei und Feuerwehr sollten zunächst davon ausgenommen bleiben.

Der Protest verläuft entlang einer Konfrontation mit Republikanern und Tea-Party-Anhängern, die Demokraten haben sich bis zur obersten Ebene eingeschaltet. Zusammen mit Gewerkschaftsfunktionären (beteiligt sind vor allem die American Federal of State, County and Municipal Employees, AFSCME, die Wisconsin Education Association (and Madison Teachers Incorporated), und die American Federation of Teachers, AFT) versuchen sie, alles in geordnete Bahnen zu lenken und die Gewerkschaften als Integrationskraft für die Auseinandersetzungen der kommenden Jahre zu erhalten. Mit ihrem Status als Tarifpartner würden diese ihre Existenzberechtigung verlieren.

Beide setzen auf Verhandlungen und Kompromisse: natürlich müsse gespart werden, alle seien bereit, auf Lohn zu verzichten - wenn nur die Gewerkschaften nicht angetastet werden. Der öffentliche Dienst ist die letzte Branche, in der es überhaupt noch nennenswerte Gewerkschaften gibt, es ist leicht vorstellbar, dass sie wie die anderen in der Bedeutungslosigkeit versacken: inhaltlich haben sie darüber hinaus zu den Angriffen nicht viel zu sagen. Eine Kritik an dieser Politik wird auf den Demos nicht laut. Die Gefahr besteht nur darin, dass die Proteste von der Demokratischen Partei mit ihrer Kampagne für die Abberufung Walkers eingefangen werden.

Viele DemonstrantInnen stellen aber ihre materiellen Probleme in den Vordergrund: "Wenn sie mir den Lohn weiter kürzen, kann ich endlich Sozialleistungen beanspruchen und vielleicht sogar mal zum Arzt gehen - den hab ich seit Jahren nicht gesehen." Die Proteste erreichen eine bemerkenswerte Allgemeinheit. Es ist klar, dass dies nur der "Anfang" der Angriffe ist, dass es anderswo genauso kommen wird - und dass es alle angeht. ArbeiterInnen in der Industrie und anderen Privatunternehmen mussten in den letztenjahrzehnten schwer bluten, sind heute vereinzelt, desorganisiert und prekarisiert - von Alters- und Gesundheitsversorgung können sie nur noch träumen. Die Leute im öffentlichen Dienst werden daher teilsweise als privilegierte Gegner gesehen, gemeinsames Demonstrieren ist nicht selbstverständlich. Trotzdem kommen zu den Protesten auch die organisierten Installateure, "Joe the Electrician", Leute aus der stark verkleinerten Harley-Davidson-Fabrik, und erklären in Interviews und auf Schildern ihre Solidarität. Ein früherer Bürgermeister von Madison, der die 60er dort mitbekommen hat, sagte: "In einem ganzen Jahrzehnt von Protesten gegen den [Vietnam-]Krieg konnten wir nie die Bauarbeiter, die Lastwagenfahrer, die Leute außerhalb der Gewerkschaften erreichen, das haben wir hier bereits in den ersten 48 Stunden geschafft."

Dass AfroamerikanerInnen und Latinos bei den Protesten nicht zu sehen sind zeigt allerdings, dass sie sich noch nicht bis zu abgehängten und unterprivilegierten Teile der Arbeiterklasse verallgemeinert haben. Es leben zwar nur sehr wenige AfroamerikanerInnen in Wisconsin, aber die waren fast vollständig abwesend.

Die Proteste hatten sich unmittelbar nach der ersten Ankündigung der Gesetze am Montag, den 11. Februar entwickelt. Schüler, StudentInnen und (angehende) LehrerInnen waren die Vorhut und drangen schon am 12. ins Parlamentsgebäude ein. In den nächsten Tagen reisten immer mehr Leute aus ganz Wisconsin an, es gab aber auch Demos in anderen Städten. Am Mittwoch wurden bereits Schulen geschlossen, weil kaum jemand da war - in Madison meldeten sich am Donnerstag 40 Prozent der LehrerInnen krank. Die Zahl der Demonstranten stieg von 30.000 auf 70.000 am Samstag. Auch wenn sie das Capitol nicht unter ihrer Kontrolle hatten - Polizei und Sicherheitsdienste waren anwesend, der Betrieb lief zum Teil weiter... Es war keine symbolische, stundenweise "Besetzung", sondern die Leute blieben wochenlang, schliefen unter der riesigen Kuppel des herrschaftlichen Gebäudes, hängten überall Plakate auf; riefen den ganzen Tag Parolen und trommelten. Durchaus nicht alle waren SchülerInnen und StudentInnen (deren Gebühren um 20 Prozent erhöht werden sollen), und viele sind begeistert von dieser Erfahrung.

An den folgenden Wochenenden gab es weiter große Demos mit 100.000 Leuten, auch nachdem Ende Februar das Gebäude in einem vor Gericht umstrittenen Beschluss für die Öffentlichkeit weitgehend geschlossen und die meisten Leute von der Polizei rausbefördert wurden.

Die 14 demokratischen Abgeordneten haben sich außer Staates begeben, so dass das Gesetz mangels Beschlussfähigkeit nicht verabschiedet werden konnte.

Am 9. März wurde die Regierung dann ganz rabiat: weil nur Abstimmungen zu Finanzfragen der Anwesenheit der demokratischen Abgeordneten bedürfen, wurden alle das Budget betreffenden Punkte aus dem Gesetz gestrichen, so dass der Passus zu den Gewerkschaften verabschiedet werden konnte. Damit wird nochmal deutlicher, dass es sich um einen politischen Angriff auf die Gewerkschaften und die ArbeiterInnen handelt, dass hier das Werk Reagans vollendet werden soll.

Noch am Abend vor diesem Coup wurde das Capitol erneut von entschlossenen DemonstrantInnen besetzt, am Wochenende danach waren die Demos größer als je zuvor. Sogar viele Bauern liefen mit ihren Traktoren auf und sagten, dass sie als arbeitende Menschen selbstverständlich mitmachen würden. Die Hoffnung der Proteste liegt vor allem in der schnellen Ausbreitung auf andere Staaten; denn mittlerweile werden in vielen ähnliche Gesetze geplant. In Ohio und Detroit gab es Proteste im öffentlichen Dienst und von StudentInnen, in Indiana haben 600 Stahlarbeiter demonstriert...

Eine Wirtschaftsdozentin stellte treffend fest, dass die AktivistInnen in Wisconsin in zwei Wochen mehr an Debatte erreicht hätten, als Eierköpfe wie sie selbst es in 100 Jahren können.


Randnotizen

Zu Knästen in der BRD siehe "Prekarisierung und Masseninhaftierung" in wildcat 72, www.wildcat-www.de/wildcat/72/w72_knast.htm

Zur Lage in den USA siehe den Bericht auf unserer Webseite von Ende 2008 unter www.wildcat-www.de/aktuell/a071_krise_usa.html


Hinweise

(1) Von arte gibt es eine beeindruckende Dokumentation dazu: http://prisonvalley.arte.tv

Siehe "Aktuelle Situation in den USA", wildcat 88

Raute

Unmut wird Wut: Bewegungen gegen die Krise in Italien

Wie in anderen Ländern in und außerhalb Europas (siehe die jüngsten Auseinandersetzungen in Nordafrika) kam es auch in Italien in den letzten Monaten zu sozialen Kämpfen, wie es sie quantitativ und qualitativ schon lange nicht mehr gegeben hat. Schon vor zwei Jahren waren tausende Studierende in der Bewegung "Onda Anomala"(1) gegen die fortdauernde finanzielle Austrocknung der Unis (die berüchtigten Einschnitte am staatlichen Finanzierungsfonds im Haushaltsentwurf vom Sommer) auf die Straße gegangen - und hatten sich dort in die viel breitere Mobilisierung von MittelstufenschülerInnen und LehrerInnen der Primar- und Sekundarstufe gegen die Schulreform von Ministerin Gelmini eingereiht.

Trotzdem schaffte es die Bewegung nicht, die weitergehende gesellschaftliche Unzufriedenheit aufzunehmen (auch die gegen die Berlusconi-Regierung gerichtete legalistische Linke begleitete etwa im Gewand der Zeitung La Repubblica nur die ersten Schritte der Bewegung), sie blieb somit isoliert und verschwand nach dem Herbst in der Versenkung, ohne viel erreicht zu haben.

Mit der Verschärfung der Krise 2010 fanden dann jedoch mehr oder weniger stille Kämpfe statt: am oder für den Arbeitsplatz, zum Schutz der Umwelt (Aquila, Terzigno) oder in diffuser Weise gegen die Regierung. Der mutige Versuch der FIAT-ArbeiterInnen in Pomigliano, sich der Erpressung durch den Vorstandschef Marchionne zu widersetzen, sticht besonders hervor. Dieser drohte, das Werk zu verlagern, und machte damit massiv Druck gegen die gewerkschaftlichen Vertretungen und für noch miesere Arbeitsbedingungen.

Die Gewerkschaften FIM-CISL und UILM-UIL kollaborierten im Wesentlichen und ließen die FIOM (die Metaller-Abteilung der CGIL) und die Basisgewerkschaften im Stich. Diese erhielten aber Unterstützung und Zustimmung aus weiten Teilen des Landes.

Gleichzeitig wuchs mit dem endgültigen Bruch zwischen dem Parlamentspräsidenten Gianfranco Fini und Berlusconi die innere Krise der Regierungsmehrheit. Nachdem Teile der italienischen (vor allem das industrielle Großkapital) und der ausländischen Bourgeoisie (siehe etwa die fortwährenden Attacken des Economist) Berlusconi ihre Unterstützung entzogen haben, haben seine andauernden Skandale im Privatleben, sowie im Umgang mit Geldern und staatlichen Strukturen, nun auch seine Beliebtheit unabwendbar untergraben.

Vor diesem Hintergrund begannen im Herbst 2010 erneut Aktionen an den Universitäten. Zunächst protestierten die Assistenten gegen die bevorstehende Hochschulreform, die sie finanziell und in Hinsicht auf ihre Vertragsbedingungen schlechter stellen würde. Mit Vorlesungsbeginn schlossen sich viele Studierende an, sie protestierten gegen den Gesetzentwurf, weil er die Verwaltung der Unis noch stärker dirigistisch umkrempeln (zum ersten Mal sollen Personen von außerhalb - also aus "Wirtschaft" und "Politik" unmittelbar an der Universitätsverwaltung beteiligt werden) und das "Recht auf Studium" nebulös umstrukturieren wollte - die zudem angekündigten Kürzungen machten deutlich, dass es substanziell ausgehöhlt würde.

Die Demos am 16. Oktober, zu denen die FIOM aufgerufen hatte, wurden dann zum Ort und Moment, an dem diese unterschiedlichen Motivationen zusammenkamen. Es ging nicht nur um Arbeiterthemen, sondern um die Metallergewerkschaft herum fand sich ein breites Spektrum zusammen (Studis, knowledge workers, Bewegungen für kommunales Wasser, Bürgerrechtsvereinigungen, popolo viola(2), usw.) und machte diesen Tag zu einem Massenereignis.

Gefolgt von einer nationalen Versammlung am Tag danach in der römischen Uni La Sapienza, war dieser Tag ein erster Schritt beim Versuch einer politischen Neuzusammensetzung, wenn auch vielleicht mehr angekündigt als tatsächlich praktiziert. Es folgte eine große Anzahl von Versammlungen, Tagungen, öffentlichen Aufmärschen usw., die den schwierigen, widersprüchlichen und oft auch nur symbolischen Versuch darstellten, einen Pfad gemeinsamer Kämpfe zwischen der fragmentierten Welt der Arbeit und derjenigen der Bildung aufzubauen, die in konstanter Unruhe gegen die Restrukturierungspläne der Ministerin Gelmini geblieben war, wenn auch fast ausschließlich in der politischen Praxis der Studierenden.

In einem Klima mehr oder weniger offenen gesellschaftlichen Aufruhrs ging derweil die Regierungskrise weiter, am 14. Dezember musste Berlusconi in beiden Parlamentskammern die Vertrauensfrage stellen. Das war für die sozialen Bewegungen eine Gelegenheit, um ihr Misstrauen auf die Straße zu tragen.

Während Berlusconi drinnen im Palast mit gekauften Parlamentarierstimmen so gerade noch sein Überleben sicherte, verwüsteten junge Studenten, Arbeiter und Arbeitslose die Stadt. An den militanten Aktionen beteiligten sich viele StudentInnen und durchkreuzten damit das Spiel der Reformisten, zwischen "Guten" und "Bösen" zu unterscheiden. Trotz aller Widersprüche und obwohl dieser Ausbruch bisher singulär geblieben ist, kamen in ihm unterschiedliche Teile der Bewegung zusammen und verfestigten ihre Beziehungen.

Das bestätigte sich zum Teil, als kurz darauf FIAT-Chef Marchionne den Arbeitern des Turiner Werks erneut damit drohte, Mirafiori (den größten Industriekomplex Italiens) zu schließen, wenn sie nicht einem neuen Vertrag zustimmten, der neben Verschlechterung der Arbeitsbedingungen die substanzielle Aufhebung der wichtigsten gewerkschaftlichen Rechte vorsah. Denn diesmal blieben die FIOM und die Basisgewerkschaften (die anderen Gewerkschaften stellten sich erneut auf die Seite der Unternehmensleitung) mit ihrem Protest nicht allein. Ungeachtet der knappen Niederlage zeigte die Abstimmung, dass die Arbeiter entschlossen sind, nicht weiter vor Erpressungen zurückzuweichen, und es gab viele begleitende Unterstützungs- und Solidaritätsveranstaltungen (nicht nur) von seiten der Studentenbewegung, die sich auch sofort dem Streik vom 28. Januar anschloss.

Schon immer changiert die FIOM zwischen Positionen von Gegenmacht und Co-Management, je nach Situation. Ihre soziale Basis sind die klassischen Arbeiterschichten, seit Neuestem aber auch mehr Junge, Migranten und Frauen. Im Unterschied etwa zu Frankreich entwickeln sich in Italien keine neuen Arbeiterorganisationen parallel zu den historischen Gewerkschaften. Stattdessen gab es in den letzten Monaten unter der Parole "Vereint gegen die Krise" ein informelles Bündnis zwischen der FIOM und einigen Basisorganisationen (Soziale Zentren im Umfeld der Disobbedienti). Augenblicklich versuchen sie damit, sozialstaatliche Forderungen ("Bürgergeld") mit historischen Gewerkschaftsforderungen (Arbeitsbedingungen) zusammenzuhalten; bezeichnenderweise war die Hauptparole der Demos beim Streik am 28. Januar: "Die Arbeit ist ein gemeinsames Gut".

Schwankend zwischen gemeinsam erlebten Kämpfen und Konflikten, taktischen Allianzen, halbinstitutionellen Absprachen und mehr oder minder symbolischen Zusammenkünften vertiefen sich die Verflechtungen zwischen der Arbeitswelt und den Mobilisierungen an Schulen und Unis.


Die Wurzeln des Unbehagens

Der italienischen Wirtschaft ist in den letzten 20 Jahren die Großindustrie abhanden gekommen (wobei FIAT nun womöglich der finale Schritt ist). Die Privatunternehmer fuhren bei der Privatisierungswelle große Gewinne ein, während die Industrieregionen in der Krise steckten und das industrielle Wachstum verkümmerte. Gleichzeitig entstanden international tätige, vitale Klein- und Mittelbetriebe, die sogenannten "Multis im Westentaschenformat". Was man als Italiens "vierten Kapitalismus" bezeichnet, ist eine Kombination aus der Spitzenstellung bei Prekarisierung, Deregulierung und Zersplitterung des Arbeitsmarkts in Groß- und Kleinbetriebe mit der Fähigkeit, zweitgrößter europäischer Exporteur von Industrieprodukten auch in bedeutenden Nischen und Branchen zu sein. Italien ist ein Bindeglied zwischen der Produktion hochwertiger Konsumgüter mit hoher technischer Kapitalzusammensetzung im Norden, und einer Produktion mit hoher Ausbeutung in Osteuropa und Ostasien; dort gehen niedrige Löhne, lange Arbeitszeiten und hohe Arbeitsintensität - im Unterschied zur alten Unterentwicklung - zuweilen mit der Fähigkeit einher, in neue und relativ fortschrittliche Bereiche vorzudringen.

Ganze Bereiche technologischer Forschung, wie Chemie und Elektronik, wurden abgebaut, während man Loblieder auf das Wirtschaftswunder des Nordostens anstimmte: ein ökonomisches Modell, das niedrige Investitionen, wenig Technologie und kaum vorhandene Forschung mit langen und auf Samstag und Sonntag ausgedehnten Arbeitszeiten, der Zerstückelung des Produktionsprozesses und dem flächendeckenden Abbau der gewerkschaftlichen Organisierung kompensierte. Aber auch dort, wo Technologie und Investitionen noch eine Rolle spielen, werden die ArbeiterInnen immer stärker der vernetzten Struktur eines neuen Kapitalismus untergeordnet, in dem die Aufteilung Großbetrieb (gleiche Arbeitsbedingungen und gleiche Verträge unter dem selben Dach) und Klitsche nicht mehr gilt. Sicherlich wurde diese Zentralisation ohne Konzentration des Kapitals erst durch die Innovationen im Transport und bei der Kommunikation ermöglicht, vor allem aber war sie die Antwort auf die hohe Konfliktualität, die der Kapitalistenklasse noch heute Angst vor großen Arbeiterkonzentrationen einjagt.

Dabei wurden die Arbeitsverträge so stark ausdifferenziert und der Gesamtarbeiter so weit zerstückelt, dass es manchmal für den Arbeitsprozess selbst kontraproduktiv geworden ist. Die jungen Generationen aber finden in diesem Szenario auch das Meer, in dem sie sich bewegen und wo immer möglich lebenslange monotone, repetitive oder schlecht bezahlte Arbeit verweigern. Offiziell ist fast ein Drittel der italienischen Jugendlichen arbeitslos: aber viele von ihnen entziehen sich dem Schicksal der Prekarität oder dem Absenken ihrer Erwartungen mit einer Mischung aus Sozialknete, Schwarzjobs, Rückgriff auf Ersparnisse der Eltern und stark eingeschränktem Konsum. Was die Soziologen mismatch auf dem Arbeitsmarkt nennen, also gleichzeitige Arbeitslosigkeit und offene Stellen, steigt weiter an. Jugendliche mit guten Zeugnissen finden keine entsprechende Arbeit. Sie machen den harten Kern des Protests aus - zusammen mit denen, die noch in der Ausbildung sind, aber schon kapiert haben, welche elenden Perspektiven sie erwarten.


Die Eroberung einer kollektiven Dimension

Über diese wirtschaftliche und soziale Zerrüttung schob sich die institutionelle und politische Krise der Regierung Berlusconi; und vor diesem Hintergrund entwickelten sich die Kämpfe 2010. Sie scheinen langsam wieder den roten Faden der kollektiven Dimension aufzunehmen, nachdem die Prekarisierung jahrelang als psychologisches und ideologisches Instrument zur Steuerung der Arbeitskraft funktioniert und die einen gegen die anderen aufgewiegelt hatte. Bei vielen herrscht noch die daraus resultierende Angst und Resignation, aber viele andere ArbeiterInnen und StudentInnen reagieren auf die Krise, indem sie Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen und arbeitenden Subjekten suchen.

Der gewalttätigen Selbstbezogenheit einer politischen Klasse ohne jeden Bezug zum Rest der Gesellschaft wurde dabei auch militant entgegengetreten: in Rom und Athen wurde versucht, das Parlament zu stürmen, in London gelang der Sturm aufs Tory-Hauptquartier. Die Gewalttätigkeit der europäischen Regierungen drückt sich im Ausnahmezustand aus, der zur normalen Regierungspraxis geworden ist. Sie kann nicht rechtsstaatlich reguliert werden, denn sie ist die Natur des Staates selbst, so wie die Polizeiattacken die "demokratische Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Namen des Volkes" sind.

Die unverblümte Gewalttätigkeit des Staates ist kein Demokratiedefizit, das durch Einflößen von etwas demokratischer Teilhabe und "Zivilgesellschaft" geheilt werden könnte, sondern das Ergebnis eines Kurses, den Margaret Thatcher 1987 in die Worte fasste: "There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families". Das war bereits ein Epilog auf eine Reihe von Kämpfen und Niederlagen und leitete eine neue Angriffsrunde auf alles ein, was noch Reste von "gemeinsam" und "kollektiv" beinhaltete: Rechte, Arbeitsverträge, Gesundheitsversorgung, öffentliche Dienste, Wohnungsfrage.

Kollektive Rechte und Verträge sind nicht in einer Art natürlicher Reifung der Rechtskultur entstanden, sondern in den Kämpfen der Arbeiterbewegung errungen und so lange es ging verteidigt worden. Im normalen Verlauf des modernen Staates sind sie eine Anomalie, und nur gemäßigt oder "radikal" linke Politiker und Gewerkschaftler geben sie als "rechtsstaatlichen Normalzustand" aus. Wann immer nötig oder nützlich, hat der moderne Staat sein Verhältnis zu den individuellen Rechten umdefiniert und dabei vorgebliche Garantien komplett ausgehöhlt oder gleich ganz abgeschafft. Wir müssen die Anomalie wieder herstellen - und nicht versuchen, die Staatsmaschine auf die Gleise juristischer Normalität zu setzen.

Der Betrug der 80er und 90er Jahre bestand nicht darin, dass sich eine politische Klasse nicht um ihre Kinderchen gekümmert hätte, sondern in der Neutralisierung der Politik durch das Recht. Die sogenannten Linken wollten den Staat durch neue Rechte für Minderheiten und benachteiligte Individuen demokratisieren. Nach und nach übernahmen auch die Vertreter der Arbeiterbewegung diese Auffassung - während die kollektiven Rechte untergraben und das Recht der Arbeiterklasse zersetzt wurde, zu deren Verteidigung Gewalt anzuwenden. Das wurde zu einer allgemeinen Ansicht - zumindest bis vor ein paar Monaten. Denn die aktuellen Mobilisierungen haben diese Vorstellungswelt angekratzt, den Betrug der politischen Repräsentanz aufgezeigt und den Weg freigemacht zu Kämpfen für gemeinsame Rechte und Güter.

Der Kapitalismus entwickelt zwar die Voraussetzungen eines Kampfs für Demokratie, zersetzt sie aber zur selben Zeit. Das Kapitalverhältnis ist fundamental unvereinbar mit Demokratie, es ist seinem Wesen nach totalitär im engen Sinne. Die Demokratie kommt von außen, von diesem radikal Anderen, das es sich trotz allem "einverleiben" muss, d.h. sie kommt von der "lebendigen Arbeit", von der Abhängigkeit des Kapitals von den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter aus Fleisch und Blut, Geist und Körper. Rechte gründen sich entweder auf die Macht am Arbeitsplatz, oder sie werden früher oder später zu einem hohlen Trugbild. Deshalb brauchen wir eine andere Politik und Praxis von Demokratie: eine andere Art von Demokratie. In den heutigen konkreten und materiellen Kämpfen macht sie ihre ersten Schritte, wenn auch noch unsicher, als Vorankündigung und Vorwegnahme.


Auf der Suche nach einem gemeinsamen Terrain

Solange aber die verschiedenen an dieser politischen Praxis beteiligten Gruppierungen das einigende Thema in ihrer gemeinsamen "prekären" Lage sehen, in einer beschreibenden und psychologischen Kategorie, die nicht mehr bringen kann, als dem in der kollektiven Revolte ausgedrückten Zorn einen Namen zu geben, solange bleibt jede Hypothese einer realen Gemeinschaft substanziell verletzlich.

Solange die studentischen Revolten Ausdruck einer jungen Generation bleiben, die fürchtet, "keine Zukunft" zu haben, die sich als "vorherbestimmt für ein Leben als Ausschuss", für ein "prekäres Leben" empfindet, solange sie auf die Straße geht, um "die Alten auf ihre Verantwortung festzunageln" ... solange bleibt dieser Zorn gegen jemanden gerichtet, der uns verraten hat, der sich um uns hätte kümmern müssen und es nicht getan hat. Er ähnelt sehr dem pubertären Zorn gegen den gesellschaftlichen Maternalismus, der erst die eigenen Kinder in der warmen honigsüßen Milch einer von wohltätigen Institutionen und Eltern-Freunden durchorganisierten und beschützten Gesellschaft fast ersäuft, und dann ihre Erwartungen verrät - denn sie betrachten einen garantierten und ihrem Studienabschluss entsprechenden Arbeitsplatz als ihr spezielles individuelles Recht. Solange sie weiter von sich als "Junge" und "Studierende" reden, können sie ein Grundeinkommen reklamieren, weil das ja die Fortsetzung des von Mama und Papa bezahlten Taschengelds ist. Aber mit diesem Szenario entfernt man sich keinen Millimeter von Thatcher: There are individual men and women, and there are families.

Wenn sich der Zorn darauf beschränkt, wie es besonders die Forderungen der Ingenieur- und Naturwissenschafts-Studenten zeigen, einer politischen Klasse die Schuld zu geben, weil diese nicht den offenkundigen Schluss zieht, dass Investitionen in die Forschung zu Innovation führt, und Innovation die Wettbewerbsfähigkeit des Landes stärkt; wenn es also nur Zorn auf eine politische Klasse ist, weil sie keinen "richtigen" Kapitalismus betreibt, dann ist dieses Terrain nicht die Basis für eine "Neuzusammensetzung" der sozialen Bewegungen, sondern kann leicht zur Grundlage ihrer Zersetzung werden, weil der Schutz der "Jungen" und "Studierenden" vor Prekarität leicht zur Last auf dem Rücken der "Älteren" und "Festeingestellten" werden könnte, indem man z.B. die Renten oder andere Bestandteile des Wohlfahrtsstaats kürzt, oder die ArbeiterInnen im Produktionsprozess noch mehr auspresst. Oder man verlangt vom öffentlichen (aber auch vom privaten) System höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung, damit Italien sich in der internationalen Arbeitsteilung "besser" positioniert.

Ob man ein "Existenzgeld" fordert auf der illusorischen Grundlage, wonach Menschen in jeder ihrer Aktivitäten (oder Inaktivitäten) produktiv seien, oder ob man einen Platz an der Sonne verlangt, weil "Männer der Wissenschaft" wertvoll für das ökonomische Wachstum seien, das politische Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: anstatt für einen historischen und gesellschaftlichen Lebensunterhalt als Teil der Klasse zu kämpfen, unabhängig von jedwedem Beitrag zur kapitalistischen Wertschöpfung oder zu kapitalistisch definierten Gebrauchswerten, beschränkt man sich darauf, eine Anhebung des eigenen Status' zu fordern, eine Verbesserung der Bedingungen der eigenen Schicht, auch wenn es auf Kosten der Ausbeutung eines anderen geht. Politisch können wir das nur überwinden, wenn wir über die Auseinandersetzungen auf der Verteilungsebene hinausgehen und die Kämpfe um (gesellschaftlichen) Lohn mit der Frage verbinden, was, wie und wieviel produziert wird.

Denn die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung in Italien und darüberhinaus zeigt, wie fragil die Standortperspektive ist. Der sogenannte "Königsweg zur Wettbewerbsfähigkeit" - den diejenigen beschwören, die höhere Investitionen in die Forschung fordern, wobei sie allzu simpel die "wissensbasierte Ökonomie" gegen die "materielle" Arbeit stellen - produziert nur dann mehr Mehrwert, wenn zur höheren Produktivkraft der Arbeit auch ihre intensivere Verausgabung und ein längerer Arbeitstag kommen. Entlang der transnationalen Verwertungsketten überkreuzt sich überall die Extraktion von relativem und absolutem Mehrwert: sowohl in den westlichen Metropolen wie im Osten oder im Süden Europas. Und nicht nur Marchionne zeigt uns, dass auch in den Sektoren hoher relativer Mehrwertproduktion das kapitalistische Bedürfnis nach autokratischer Herrschaft in der Fabrik schwindelerregend zunimmt, ohne Rücksicht auf das physische und mentale Wohlergehen der ArbeiterInnen.

Die Reformen des Bildungszyklus der letzten fünfzehn Jahre sind nicht die Ausgeburt von unterbelichteten Politbürokraten, sondern ein Versuch, die Bildung mit den Prozessen kapitalistischer Rationalisierung des Wissens in Einklang zu bringen, und die "Gelmini-Reform" ist nur der letzte Akt in dieser Reihe inhaltlicher Kontinuität. Wissen auf Infopakete zu reduzieren, erfordert keine großen Investitionen, solche Pakete sind dank billiger Technologien gesellschaftlich verfügbar und können in den Sekundarschulen und Universitäten von Dozenten gelehrt werden, die genauso "prekär" sind wie die Informationen, die sie weitergeben. Die Infopakete sind normale Waren, die auf dem Markt gekauft werden können und deren Produktion ausgelagert werden kann.

Als Produktionssystem hat die Bildung dagegen eine andere Funktion, sie soll Werktätige produzieren, das ist genau so wichtig wie die Produktion von Waren. Für einen Teil der "postfordistischen" Produktion brauchen diese keine besonderen Qualitäten, stattdessen müssen sie eine besondere Einstellung lernen, das "lebenslange Lernen", eine Fähigkeit, die von der EU zu den Schlüsselkompetenzen gezählt wird. Sie müssen die auf dem Bildungsweg verabreichten "Wegwerf"-Infopakete "lernen", weil Bildung heute wie die "Gebrauchsanweisung" für eine neue Verfahrensweise funktioniert, sie ist schnell überholt, und im Verlauf von "kontinuierlicher Weiterbildung" werden neue Gebrauchsanweisungen nötig. Andere Teile der Produktion verlangen größere Qualifizierung und mehr Beteiligung der ArbeiterInnen, (mehr denn je) braucht man deren Engagement für die Herstellung von Gebrauchswerten, die sich hervorheben und nicht vermasst erscheinen, für die notwendige Flexibilität in einem sprunghaften Arbeitszyklus mit vielen Wechseln, für die Umsetzung des Werts von Produktionswerkzeugen, die immer schneller überholt sind. Die teilweise Höherqualifizierung und die begrenzte Unabhängigkeit dieser ArbeiterInnen vom Produktionsablauf wären aber ein unakzeptables Risiko. Weil sie aber nicht mehr mit der Waffe der direkten Kontrolle oder einer allzu linearen Dequalifizierung kontrolliert werden können, soll die scheinbare Herrschaft des Marktes über die Produktion diese Rolle spielen (die Börse gebe den Rhythmus der Kapitalverwertung vor, die internationale Konkurrenz oder der öffentliche Haushalt setzten Grenzen, genauso werden das make or buy, die Dezentralisierung, die Fremdvergabe und das innerbetriebliche outsourcing ausgespielt). Wer ständig Bildungskrediten hinterherlaufen muss, wird schon im Studium dazu erzogen, dem Inhalt der Lehre so gleichgültig wie möglich zu begegnen, und sich dem timing und der Logik des Marktes anzupassen. Deshalb vermischt sich in den Kämpfen der Studierenden auf konfuse Weise das Bewusstsein, dass nicht alle studieren können oder sollen, auch wenn das bisher nominell allen offen steht, mit der Desillusionierung oder dem Zorn derer die ihre Erwartungen enttäuscht sehen.

Die kapitalistische Rationalisierung des Wissens hat aber nicht nur die Bildungsinstitutionen verändert, sondern auch das Wissen selbst, das einerseits in Pakete zerlegbar wurde, die nach dem Funktionscode ihrer maschinellen Vergegenständlichung aufgebaut sind, andrerseits Qualifikationen und Spezialisierungen liefern muss, die ohne Sinn und Zusammenhang auskommen. Es soll das "wie" gelehrt werden, ohne dass die Frage nach dem "warum" und "für wen" auftauchen kann. Es geht nicht mehr um die Alternative zwischen öffentlicher und privater Schule und auch nicht um die gemeinsame Aneignung dieses zutiefst kapitalistischen und informatisierten Wissens: das sind Wunschträume von Leuten mit klassischer Bildung, oder von Jugendlichen, die eingängige Parolen suchen.

Stattdessen müssen wir über Bildung, Wissen und Arbeit ausgehend von unseren eigenen Bedürfnissen diskutieren, um zu bestimmen, was, wieviel und wie wir produzieren. In einer Fabrik oder in einem Callcenter, wo die in den Arbeitsmitteln vergegenständlichten Kenntnisse dazu dienen, Arbeit auszupressen, genau so wie dort, wo diese Kenntnisse unabhängig von ihrer Qualität und ihrem Anwendungszweck produziert werden. Denn damit soll ein Entwicklungsmodell verewigt werden, das nur dem Profit dient, und dem physische, moralische und ökologische Zerstörung gleichgültig sind.

Bis vor wenigen Jahren wären solche Vorstellungen als reine Ideologie angesehen worden. Aber die objektive Krise des Kapitals und die Kämpfe der Menschen innerhalb und gegen diesen höllischen Mechanismus setzen sie heute wieder auf die Tagesordnung. Sie könnten das gemeinsame Terrain bilden, auf dem Arbeiter und Leute, die an den Unis kämpfen, vor allem Assistenten und Studierende, zusammenkommen, so wie sie schon in den Kämpfen der letzten Monate zusammengekommen sind.

Genossen aus Italien, März 2011


Anmerkungen

(1) deutsch etwa Riesenwelle, wörtlich anomale Welle

(2) Die Bewegung "Violettes Volk" ist im Internet entstanden. Der Name drückt aus, dass sie sich keiner Partei zugehörig fühlen. Sie sind gegen Berlusconi, fundamental rechtsstaatlich und fordern Gerechtigkeit und Informationsfreiheit ein. Es ist eine Bewegung des in "sozialen Netzwerken" virtuell verbundenen Kleinbürgertums, das denkt, das Problem bestünde in einem Erwachen des demokratischen Bewusstseins.

Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen der Originalpublikation:
- Foto: Studierende tragen Schilde in Form von Buchdeckeln auf einer Demo in Rom am 14.12.2010
- 16. Oktober 2010: Großdemo in Mailand

Raute

Landflucht und food riots: Keine Agrarrevolution in Sicht

In Pausengesprächen auf linken Kongressen erzählen alle mit Begeisterung von ihrem Schrebergarten und dem selbst angebauten Gemüse. Zu einem Workshop über Tomatenanbau kommen mehr Leute aus der linken Szene als zu einem Seminar zur Weltkrise. LandLust ist mit jährlichen Auflagensteigerungen im zweistelligen Prozentbereich der Star auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt; sie verleiht den Sehnsüchten von StadtbewohnerInnen nach dem Althergebrachten, dem einfachen, gesunden Leben Ausdruck.

Mit "Landwirtschaft" hat all das wenig zu tun. Die bedeutet nämlich harte körperliche Arbeit und ein mäßiges Auskommen, auch heute noch und vor allem auch im biologischen Landbau. Dieser Arbeit entfliehen die Leute weltweit, um ihren Lebensunterhalt auf leichtere Art zu verdienen. An den Fließbändern der Welt sind sie gefragt, denn sie sind an harte körperliche Arbeit gewöhnt, die getan werden muss, weil sonst Tiere sterben oder die Ernte vertrocknet.

Aus "Konsumentensicht" hieß besseres Leben bisher, einen geringeren Teil des Lohns für Grundbedürfnisse wie Essen ausgeben zu müssen, und mit dem Rest mehr und bessere Konsumgüter oder Wohnungen beschaffen zu können. Nun tönt es drohend auf allen Kanälen: "Die Zeit der billigen Lebensmittel ist vorbei". Als Begründung dienen Lebensmittelskandale (Dioxineier), Dürren, Überflutungen, die Aufstände in Nordafrika. Diese begannen mit Forderungen nach billigen Nahrungsmitteln und gehen weit über archaische "Brotrevolten" hinaus, hier fordern nicht Arme Brot von ihrem Herrscher, sondern einen Regimewechsel oder sogar eine andere Gesellschaft. Sie setzen tatsächlich die "Agrarfrage" wieder neu auf die Tagesordnung, nicht rückwärtsgewandt und nicht als kapitalistisch rationalisiertes Agrobusiness.

Auf den folgenden Seiten versuchen wir, all das aufzunehmen. Der zahlungskräftige "bewusste Konsument" wird sicherlich seine Nische finden, aber gesellschaftlich kommen an der Nahrungsmittelfrage sehr grundlegende Brüche und dauerhafte Entwicklungsblockaden zum Vorschein, die Arbeiterkämpfe in China, Aufstände in Nordafrika und Verarmung in den Metropolen miteinander verbinden. Der Kapitalismus hat in den letzten 200 Jahren die Nahrungsmittelproduktion ungeheuer ausgeweitet, steht aber seit drei Jahrzehnten an einer Schwelle, die er mit den bisherigen Methoden nicht überwinden kann. Wir stellen die verschiedenen Aspekte dieser Blockade: explodierende Lebensmittelpreise, Verschwendung, Überfischung, Biosprit usw. in den Zusammenhang. Am Ende dreht es sich darum, wer die (Land-)Arbeit macht. Im nächsten Heft wollen wir an zentralen Punkten tiefer schürfen.


Ursachen der explodierenden Lebensmittelpreise

2001 waren Nahrungsmittel so billig wie nie. Sechs Jahre später, im Dezember 2007, waren die Preise auf dem höchsten Stand seit dem Beginn der Statistik 1846. Alles Spekulation? Was bedeuten die Warnungen der FAO vor einer Lebensmittelkrise? Wo gibt es tatsächlich eine Verknappung?

Oft dienen Nachrichten über Missernten dazu, die Preise hochzutreiben. Zum Beispiel ist in Russland trotz der katastrophalen Hitzewelle im letzten Sommer die Ernte gut ausgefallen. Nun werden die Überschwemmungen in Australien und die Dürre in China angeführt...

In den letzten fünf Jahren bewegten sich die Lebensmittelpreise im Rhythmus der Finanzblase. Spekulatives Kapital floss weltweit in "renditesichere" Anlagen wie Rohstoffe und Grundnahrungsmittel bzw Ackerboden und löste damit seit Herbst 2006 massive Preissteigerungen aus. Ein Jahr später war Weizen 80, Reis 320 Prozent teurer geworden. Nach der Lehman-Pleite im September 2008 gingen die Preise abrupt nach unten. Als danach aufgrund der ultralockeren Geldpolitik der Notenbanken wieder anlagesuchendes Kapital in Agrarrohstoffe strömte, stiegen die Preise erneut und übertrafen 2010 sogar die historischen Höchststände von 2008; ausgerechnet 2010, einem Jahr mit Weizen-Rekordernten, erreichte ein Scheffel (27,2155 kg) an der Börse von Chicago den bis dahin höchsten Preis von 25 Dollar.

Jüngstes Beispiel ist der Reis-Preis, der zu Jahresbeginn 2011 in fünf Wochen um 24 Prozent stieg - ebenfalls auf den höchsten Stand seit 2008 obwohl eine Rekordernte erwartet wird und die Lagerbestände weltweit sehr hoch sind. Fünf Tage nach der Katastrophe in Japan fielen alle Agrarrohstoffpreise - "Experten" behaupten nun, es gebe gar keine Reisknappheit... (FAZ, 15.3.2011) Sie sehen die Preise schwanken und suchen nach Geschichten, die das "erklären". Mit den wahren Ursachen hat das nicht viel zu tun.


Peak Soil

Es gibt einen absoluten Rückgang der Anbaufläche für Nahrungsmittel; durch den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Städten usw. sind Ackerböden weltweit knapp geworden. Nun reißen sich private Investmentfonds und staatliche Finanzgesellschaften (China, Golfstaaten) weltweit große Flächen an Ackerboden unter den Nagel, um darauf Exportlandwirtschaft zu betreiben. Dieses "Land-grabbing" radikalisiert die bisherige Cash Crops-Produktion. Die Eigner werden von ihrem Ackerboden vertrieben, für die einheimische Bevölkerung verknappt sich das Nahrungsmittelangebot.

Die Verteuerung fossiler Stoffe hat weltweit den Pflanzenverbrauch für Heizung, Treibstoff oder als Ausgangsstoff für Kunststoffe hoch getrieben. In den USA soll bereits ein Drittel des angebauten Maises zur Treibstofferzeugung benutzt werden. Statt Biogas aus pflanzlichen Abfällen zu produzieren, werden extra Feldfrüchte angebaut und dies auf Druck der Agrarlobby auch noch hoch subventioniert. Dies entzieht der Nahrungsmittelproduktion ertragreiche Böden. Nicht nur in Afrika, auch in Deutschland sind Bauern heute gezwungen, Land teuer zu kaufen (und sich zu verschulden), weil kein günstiges Pachtland vor Ort mehr zur Verfügung steht.

Weltweit gibt es natürlich noch große brach liegende Flächen, auf denen zusätzlich Ackerbau betrieben werden könnte. (FAZ, 26.4.2008) In Südamerika wird dies teilweise durch Großgrundbesitzer blockiert, die nur Landwirtschaft betreiben, wenn sich die Produktion (für den Export) rentiert. In Russland, der Ukraine oder selbst in der EU (Bulgarien) liegen Flächen brach. Eine weitere Flächenexpansion wäre durch die Abholzung von Wäldern möglich, was erhebliche negative Auswirkungen auf das Klima und die Artenvielfalt hätte. Außerdem sind diese Flächen schlicht nicht leer, sondern werden von Kleinbauern oder Hirten bewirtschaftet, die dann in Randzonen abgedrängt würden.


Peak Fish

Seit den 50er Jahren wurde die Seefischerei industrialisiert. Massive Investitionen führten zu einem starken Anstieg der weltweiten Fänge. Damit kam es zu massiven Zusammenbrüchen ehemals traditionell genutzter großer Fischbestände. Stark sinkende Erträge führten zu einer Ausweitung der Fischerei auf neue Gebiete, in immer tiefere Wasserschichten und auf neue oder bisher gemiedene Fischarten. Der weltweite jährliche Fang von Fischen und anderen Meerestieren erreichte in den späten 1980er Jahren einen Gipfelpunkt von ca. 90 Millionen Tonnen (ohne Fänge der sog. irregulären, unregulierten und nicht gemeldeten Fischerei von schätzungsweise 20-30 Millionen Tonnen) und sinken seitdem (Pauly 2009). 75 Prozent der globalen Fischbestände gelten als voll- oder überausgebeutet (FAO 2007). Der Raubbau führt zu einem drastischen Absinken der Fischereierträge weit unter den potentiell möglichen (bewusst erzielbaren) Erträgen bis hin zum vollständigen Zusammenbruch ganzer Fischbestände.

Heutige Aquakulturen sind keine Alternative, sie beruhen auf der schon überausgebeuteten Ressource Fisch. Entweder werden karnivore [fleischfressende] Arten mit anderen Fischen aufgezogen, oder nicht-karnivore Arten wie Karpfen mit industriell erzeugtem Futter und steigendem Fischmehlanteil. Während die Fischmehlproduktion bei ca. 30 Millionen Tonnen pro Jahr stagniert, stieg der davon in der Aquakultur verfütterte Anteil von 8 Prozent 1988 auf aktuell ca. 70 Prozent (Deutsch et al. 2007).

Die Möglichkeit der Erschließung neuer mariner Tierarten als Nahrung oder Futtermittel ist begrenzt. Antarktischer Krill [Kleinkrebse, die sich von Algen ernähren] steht hier gerade hoch im Kurs. Aktuell werden ca. 100.000 Tonnen im Jahr angelandet. Aufgrund der Meereisbedeckung wäre die Ausweitung auf einige Millionen Tonnen pro Jahr nur mit sehr hohem Aufwand möglich, das entspräche dann einigen Prozent des Weltfischereiertrags.


Verschwendung und Verrottung

In westlichen Ländern wird ein Drittel bis die Hälfte aller Nahrungsmittel schlicht weggeworfen. In ärmeren Ländern werden Nahrungsmittel "verschwendet", weil sie nach der Ernte schlecht gelagert werden und vergammeln; so gehen vielfach zwischen 15 und 20 Prozent der Ernte verloren.

Vegetarier führen gewöhnlich die "Verschwendung" von Getreide an, das an Tiere verfüttert wird. Mit wachsendem Einkommen und sich verändernden Ernährungsgewohnheiten in den Schwellenländern: insbesondere in China und Indien, werden mehr Fleisch und Milchprodukte verzehrt. Dadurch steigt der Verbrauch an Getreide (und damit auch der zu seinem Anbau benötigte Energieaufwand). Die größere "Verschwendung" liegt darin, aus Weizen Treibstoff zu machen. Für eine Tankfüllung braucht man 200 kg Getreide - das ist der Jahresbedarf eines Menschen.


Agrarrevolution und Industrialisierung: billige Nahrungsmittel für billige Arbeitskräfte

Jeder neue Akkumulationszyklus des Kapitals ging mit einer "Agrarrevolution" einher, die mehr Nahrungsmittel billiger herstellen konnte. Dies war nötig, um eine stark wachsende städtische Arbeiterbevölkerung zu ernähren. Und je billiger das Essen, desto niedriger können die Löhne sein. Der Kapitalismus ist in erster Linie die Agrarrevolution. (Goldner; siehe Literaturliste)

Im ersten Industrieland England entstand sehr eine Nahrungsmittelindustrie zur Versorgung der ArbeiterInnen mit Grundnahrungsmitteln und Bier. Bereits im 16. Jahrhundert hatte sich ein europäischer Markt für Nahrungsmittel herausgebildet, ab 1870 formierte sich ein Weltmarkt, schon 1890 war es billiger, Weizen von Buenos Aires nach Barcelona als 100 Meilen weit über Land zu transportieren. Die beschleunigte Industrialisierung während der long depression (Verdoppelung der Industriearbeiterklasse in Deutschland im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts) basierte u.a. auf dem billigen amerikanischen Importgetreide.

1880 bearbeitete ein Landarbeiter in den USA 26 Hektar Boden, 1980 schon 239 Hektar. Kaum ein Produktionsbereich verzeichnete in den letzten 100 Jahren solche Produktivitätssteigerungen wie die Landwirtschaft. Während sich die Weltbevölkerung seit 1950 verdoppelt hat und inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen in Städten leben, ist die Nahrungsmittelproduktion um das 2,5-fache gestiegen.


Weltmarkt für Nahrungsmittel

"Man kann nicht von kommerziellen Farmen erwarten, dass sie die Menschen ernähren... Menschen zu ernähren, die nichts kaufen können, ist Aufgabe der Regierung."
(Jan Prins, Farmer in Äthiopien, DLF-Sendung über "Land-grabbing" am 22.2.2011)

Wie Nahrungsmittelexporte zur Stabilisierung politisch genehmer Regimes und zur Marktöffnung für die Agromultis eingesetzt werden, ist breit diskutiert. In den 1950er und 1960er Jahren erhielten die nachkolonialen Staaten in Asien und Afrika US-Weizen als Nahrungsmittelhilfe, oder sie importierten billig die erzeugerpreisgestützte Überschussproduktion der Industrieländer. Ende der 60er Jahre gingen zwei Drittel aller Weizenexporte in die Entwicklungsländer. Parallel dazu führte die über die Weltbank finanzierte "Grüne Revolution" in den 60er Jahren zu einer Mechanisierung der Landwirtschaft und dem Einsatz von Hochertragsgetreidesorten, Kunstdünger, Pestiziden und künstlicher Bewässerung in Afrika und Asien. Die Maßnahmen konzentrierten sich auf ressourcenreiche Regionen und förderten das Entstehen einer Schicht von wohlhabenderen Bauern, die von Banken und Agrobusiness abhängig wurden. Die Erträge stiegen stark an, die Preise für Nahrungsmittel sanken.

Damit erreichte die "Grüne Revolution" ihr Ziel: die "Dritte Welt" politisch und sozial zu stabilisieren und gegen die Revolution zu immunisieren; gleichzeitig wurden Absatzmärkte für die Agromultis und Produktionsstandorte für Cash Crops geschaffen. Mit dem billigen Importgetreide änderten sich auch die Ernährungsgewohnheiten: in Afrika wird heute kaum noch Hirse gegessen (die gilt als "primitiv"), sondern Reis - der dort nicht wächst - oder Weizen. Global basiert die Ernährung heute zu einem großen Teil auf nur zehn Kulturpflanzen, ein Bruchteil der vorhandenen Nutzpflanzen.


Bauernlegen am Beispiel Deutschland

Weniger diskutiert wird die andere Seite der gewaltigen Produktivitätssteigerungen in der Landwirtschaft: das Freisetzen von Arbeitskräften. Das soll im folgenden an Deutschland gezeigt werden. Auch hier stieg im 20. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, die landwirtschaftliche Produktivität stark an. Um 1900 erzeugte ein Landwirt Nahrungsmittel für vier, 1950 für zehn, 2004 für 143 weitere Personen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Landwirtschaft vielfach noch gekennzeichnet durch Betriebe, die mit Zugtieren für den Eigenbedarf produzierten und Überschüsse tauschten, aber über fast kein Geld verfügten. Der große Wandel fand in den 1950er Jahren statt. Als neue Fabriken attraktive Arbeitsplätze boten, setzte die massive Landflucht der jungen Leute ein. Die Agrarpolitik förderte die Rationalisierung, die Konzentration auf wenige Produkte und den Anbau neuer Sorten unter Verwendung von Agrarchemie und Maschinen. Da Maschineneinsatz große Flächen erfordert, spaltete dies die Bauern auf in mit viel Technik ausgestattete Vollerwerbsbauern auf Aussiedlerhöfen und Millionen von "Nebenerwerbslandwirten", deren Ackerflächen nicht mehr ausreichten, um damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Die DDR radikalisierte diesen Ansatz noch: Monokulturen auf noch größeren Flächen und Beschränkung auf maschinell anbaubare und lagerfähige Sorten (Kartoffeln, Kohl, Karotten, Sellerie). Aber die LPG brachte den "Bauern" den Acht-Stunden-Tag, bezahlten Urlaub und Kultur. Die LPGs waren äußerst unproduktiv, hatten zu viele Beschäftigte, von denen eine wachsende Zahl in der Verwaltung arbeitete. Statt Arbeitskräfte für die Industrie freizusetzen, sogen sie sie auf!

1990 erzielten die Bauern im Osten nur zwei Drittel der Erträge ihrer KollegInnen im Westen. Die Vereinigung brachte auch hier die Wende: 1989 arbeiteten in der DDR 830.000 Leute in der Landwirtschaft, zehn Jahre später noch 190.000.


Die Familie als Naturressource

Landwirtschaft scheint nur dann besonders "produktiv" zu sein, wenn sie als Familienbetrieb und/ oder mit migrantischen SaisonarbeiterInnen betrieben wird. Sobald ein landwirtschaftlicher Betrieb zur "Fabrik" wird, verhalten sich die Leute auch so und lassen den Traktor pünktlich zum Feierabend auf dem Acker stehen oder streben in administrative Tätigkeiten usw.

Nach dem Anschluss der DDR wurde wieder der bäuerliche "Familienbetrieb" gepusht: Betriebe, die von einem Ehepaar, häufig vor allem von der Bäuerin geführt werden, die aber im Gegensatz zu früher kaum mithelfende Familienangehörige oder Knechte/Mägde haben. In Wirklichkeit sind sie hochspezialisierte "Scheinselbständige" der Verarbeitungsindustrie, denen innerhalb einer stark arbeitsteiligen Produktion die Arbeitsweise genau vorgeschrieben wird, die aber das unternehmerische Risiko selber tragen. Sie sind Getriebene ihrer Kreditgeber, die fast ohne Wochenende oder Urlaub von morgens bis abends schuften - und denen letztlich egal ist, was sie anbauen, Hauptsache die Preise stimmen.

Heute sind in der Landwirtschaft rund 1,25 Millionen Personen haupt- oder nebenberuflich beschäftigt, was 530.000 Vollzeitarbeitsplätzen entspricht bzw zwei Prozent aller Erwerbstätigen. Mit durchschnittlich 284.000 Euro Kapitaleinsatz je Erwerbstätigem gehört die Landwirtschaft zu den kapitalintensivsten Branchen der deutschen Wirtschaft (zum Vergleich: in der Industrie 172.000 Euro je Erwerbstätigem, im Handel 53.000 Euro, im Baugewerbe 34.000 Euro). 1960 hatte die Kapitalintensität in der BRD-Landwirtschaft mit umgerechnet 37.000 Euro je Arbeitsplatz noch in etwa auf dem Durchschnitt der übrigen Wirtschaft mit rund 34.000 Euro gelegen. (Zahlen nach AgE vom 1.2.2010)

Die deutsche Landwirtschaft ist stark in den Weltmarkt eingebunden, die "Ernährungswirtschaft" macht ein Viertel ihrer Umsätze im Export, die Landtechnikindustrie sogar ein Drittel (Zahlen vom BMELV). In Euro gerechnet ist die BRD zwar Nettoimporteur von Nahrungsmitteln, gehört aber auch zu den größten Produzenten und Exporteuren - mit steigender Tendenz. Die Exporte gehen zu 80 Prozent in die EU, in großen Teilen nach USA und Russland und steigend nach China, Vietnam, Indien und Afrika. 2008 schickte die BRD 2,2 Millionen Tonnen Schweinefleisch, rund 40 Prozent der gesamten Erzeugung, ins Ausland und lag auf dem Weltmarkt an zweiter Stelle hinter den USA. Das ging einher mit einem Konzentrationsprozess: im Rekord-Exportjahr 2008 mussten 14.000 Betriebe, jeder sechste Schweinehalter, aufgeben (FR, 19.1.11). Im Krisenjahr 2009 gab es im Gegensatz zu anderen Branchen nur moderate Einbußen, beim Fleisch wurde sogar ein neues Rekordergebnis erzielt.


Ende einer Akkumulationsweise

Beginnend in den 70er und verstärkt in den 80er Jahren mit den Verhandlungen über die Schuldenkrise (Uruguay-Runde, WTO) wurde eine Entkoppelung der Weltmarktpreise von den Produktionskosten betrieben. Dies förderte die Konzentration und Zentralisierung des Kapitals im Agro-Food-Sektor. Im Jahr 2000 kontrollierten nur vier Unternehmen 82 Prozent des Rindfleischmarkts, 75 Prozent des Schweine- und Schaffleischmarkts; fünf Unternehmen kontrollierten 90 Prozent des internationalen Getreidehandels; drei Länder produzierten 70 Prozent der Maisexporte; die 30 größten Lebensmittelhändler kontrollierten ein Drittel des Welteinzelhandels; usw. usw. Aber trotz dieses Konzentrations- und Monopolisierungsprozesses hören seit Ende der 1970er Jahre die gewaltigen Produktivitätsfortschritte auf. Der sogenannte "Neoliberalismus" hat diese Stagnation nicht aufbrechen oder überwinden können. Das Bild dreht sich: In den letzten 20 Jahren hat sich die weltweite Arbeiterklasse verdoppelt, die Nahrungsmittelproduktion hat nicht mehr die gleichen Steigerungsraten erreicht.

Die Methoden der Produktivitätssteigerung (Freisetzung von Arbeitskraft durch Einsatz von Dünger, Maschinen und Energie) stoßen an ökologische Grenzen. In Asien wird die Hälfte des Frischwassers für die Bewässerung der Reisfelder benutzt. Die globale Weizenproduktion hat sich zwischen 1950 und 1990 zwar verdreifacht, aber mittelfristig führten die industriellen Anbaumethoden mir ihren Monokulturen ohne Fruchtwechsel zur Auslaugung der Böden und Absenkung des Grundwassers z.B. im Mittleren Westen der USA, die Erträge sinken. Weizen, Soja, Mais und Reis benötigen etwa ein Drittel der weltweiten Ackerflächen. Gemessen am Düngereinsatz ist bei allen vier Getreidearten der heutige Ertrag im Vergleich zu 1961 um mehr als 70 Prozent gesunken. Per Kilo Stickstoff wurden folgende Erträge erzielt:


1961
2006
Weizen
Soja
Reis
Mais
126 kg
131 kg
217 kg
226 kg
45 kg
36 kg
66 kg
76 kg

Quelle:
http://medienschafe.wordpress.com/2009/12/14/bodenlose-dummheit-oder-fortschritt-am-acker/

Diese Probleme sind alleine von der Landwirtschaft aus nicht lösbar. Sie markieren die Grenzen eines Akkumulationsmodells. Die "dritte technologische Revolution" hat nicht stattgefunden, sie hat vor allem Kontroll- und Informationstechnologie hervorgebracht, aber die Produktions- und Reproduktionskosten nicht weiter reduziert. Ist das Auslaufen der Produktivitätsdynamik vielleicht sogar vergleichbar mit der Krise am Ende des Feudalismus? Damals konnte eine wachsende Bevölkerung nur durch die Ausweitung der Ackerfläche ernährt werden; was zu einer ökologischen Krise führte (Wälder waren weitgehend gerodet; Holz wurde knapp; Mangel an Weideland führte zu einem Düngerproblem). Die Intensivierung der Landwirtschaft durch vermehrten Arbeitseinsatz geriet in Konkurrenz zur Arbeitskräftenachfrage in der entstehenden Industrie. Erst die Entwicklung von Maschinen, der Abbau von organischem Dünger (Guano), dann die Herstellung von Kunstdünger, sowie der koloniale Zugriff auf Land (Nordamerika) und Bauern (Indien) löste diese Probleme. (Moore; siehe Literaturliste) Die damals entstandende Konstellation scheint nun zuende zu gehen. - All diese Fragen lassen sich an China wie in einem Brennglas betrachten.


Im fernen Osten nix Neues

Jeder neuen Expansionsphase des Kapitalismus (und damit eines neuen Hegemons) ging bisher eine Revolutionierung der Agrarproduktion voran: sowohl für die eigene Bevölkerung, als auch für den Export. In China hat die Produktivität der Landwirtschaft nicht Schritt gehalten mit der Entwicklung der Industrie. Bis vor wenigen Jahren war China z.B. bei Soja-Bohnen autark, jetzt ist es der weltweit größte Importeur.

Der Aufstieg Chinas zum "Fließband der Welt" beruhte auf massenhaft in die Industriezentren migrierenden ländlichen Arbeitskräften, die noch eine minimale Subsistenzbasis auf dem Land hatten. Diese Ressourcen gehen zu Ende, mehr als die Hälfte der Leute lebt jetzt in der Stadt, und China ist eine alternde Gesellschaft.

Der Anfang März 2011 verabschiedete Fünfjahresplan soll die Quadratur des Kreises schaffen: Weg von der extremen Exportabhängigkeit der Industrie durch die Steigerung des privaten Konsums bei gleichzeitig anhaltender massiver Abwanderung vom Land (laut Plan sollen jährlich 10 bis 20 Millionen Menschen vom Land in neu zu bauende Städte migrieren; bis 2030 will das Regime Hunderte Millionen Bauern in Städte umsiedeln; das wäre die größte Wanderung der Geschichte).

Die landwirtschaftliche Produktivität müsste so rasant gesteigert werden, dass drei Ziele gleichzeitig erreicht werden können: die Freisetzung dieser vielen Millionen Arbeitskräfte, die Steigerung der produzierten Nahrungsmengen und starke Lohnerhöhungen für die LandarbeiterInnen, um sie auf dem Land zu halten. Sie verdienen bisher 30 Prozent der städtischen ArbeiterInnen. "Wer will da freiwillig auf dem Feld arbeiten", zitiert die SZ (8.3.2011) den Bauern Dong, "Wir sind zwar Bauern, aber wir sind nicht dumm". "Wenn die Lücke zwischen den Verdiensten in der Landwirtschaft und der Industrie immer größer wird, dann lässt auch die Motivation der Bauern nach, und China droht eine Getreidekrise", wird im selben Artikel ein Forscher vom Zentrum für Getreidehandel zitiert.

Die Mittel, mit denen das chinesische Regime zu diesem gewaltigen Sprung ansetzt, sind bescheiden und bekannt: Der Landbesitz soll ausgeweitet, die landwirtschaftliche Produktivität durch technische Maßnahmen gesteigert werden. Wie schon bisher kopiert China die Methoden der "Grünen Revolution". Aber schon heute hat das dazu geführt, dass China auf zehn Prozent der Weltackerfläche ein Drittel der weltweiten Mineraldüngerproduktion verbraucht. Bestimmte Nahrungsmittel sind aufgrund ihrer hohen Pestizid-Belastung nicht "exportfähig". Auch bei der früher nebenbei im Reisfeld betriebenen Karpfenzucht steigt der Fischmehlanteil am Futter stetig.

Daneben setzt China auf Gentechnik. Seit 1992 wird Tabak angebaut, der gegen das Tabakmosaik-Virus resistent ist, seit 1997 Baumwolle, die mit eingeschleusten Genen Insektengifte produziert; inzwischen wächst sie auf 60 Prozent der Baumwollfelder. (Parallel dazu ist China zu einem führenden Bio-Erzeuger aufgestiegen - diese Nahrungsmittel gehen vor allem in den Export, weil sie für die Massen unerschwinglich sind.) Aber jahrzehntelange Versuche mit Gentechnik in der Landwirtschaft haben zu keiner Erhöhung der Erträge geführt. Darum geht es auch gar nicht, Gentechnik macht vor allem die BäuerInnen vom Großkapital abhängig: neue Saatgutsorten, die gegen das Unkrautvernichtungsmittel desselben Herstellers resistent sind, zwingen die Landwirte, das dazu gehörende Herbizid zu kaufen, usw.

Es ist nicht zu sehen, wie das chinesische Regime dieses gigantische Vorhaben meistern will, wo es doch gleichzeitig mit den steigenden Forderungen der städtischen Arbeiterklasse konfrontiert ist.


Eine Welt von Kleinbauern?

Bei der agrarpolitischen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) Mitte Januar 2011 sagte Benny Härlin von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, es müsse eine Änderung der Agrarpolitik in Deutschland, in der EU und weltweit (geben). Hier komme es darauf an, die Kleinbauern auf dem Land zu halten...

Ehemalige Radikal-Redakteure, No-Global-Gruppen, Attac, Brot für die Welt und die Weltbank, alle wollen die KleinbäuerInnen unterstützen, um die Nahrungssicherheit zu verbessern. Das wollen aber nicht nur die alternativen, sondern auch die Mainstream KapitalistInnen. Die Agraranalystin der Deutschen Bank, Claire Schaffnit-Chatterjee, will die Produktivität von Kleinbauern in Entwicklungsländern erhöhen, dort liege "weltweit das größte Potenzial für Produktionssteigerungen". Dabei würden auch die großen Konzerne mitmachen: "Es gibt einen Trend, dass diese Unternehmen vermehrt Kleinbauern in Entwicklungsländern in ihre Zulieferkette einbeziehen." (FTD, 7.1.2011 - Die Angst vor dem Hunger ist zurück) Als leuchtendes Beispiel wird meistens Vietnam angeführt, hier würden sieben Millionen Kleinproduzenten, die an ein Handelsnetz angeschlossen sind, so viel Reis produzieren, dass Vietnam zum zweitgrößten Reisexporteur wurde.

Alle wollen Zugriff auf dieses wunderbar flexible und unendlich ausbeutbare Arbeitsvermögen der (meist) Frauen auf dem Lande! Wenn es Mittel gäbe, die Leute an die Scholle zu binden und sie darauf mehr arbeiten würden, wäre die Ernährungsfrage gelöst. "Die wahre Aufgabe ­...: Wie bringt man die Bauern der Welt dazu, mehr aus ihren Feldern herauszuholen?", fragte ein Autor in der FAZ während der letzten Welle an "Brotunruhen" (Wir brauchen eine Agrarrevolution - FAZ, 13.4.2008).

Walden Bello spricht in seinem Buch Politik des Hungers von einer weltweiten "Repeasantization" - Rück-Verbäuerlichung - und behauptet damit, dass sich der von Hobsbawm und Wallerstein festgestellte Trend zur Proletarisierung bzw. Semi-Proletarisierung umgekehrt habe.

Zwar haben viele Migranten die Rückkehr aufs Land als Fall-back-Option im Kopf - in der Praxis funktionierte sie allerdings selten. (Als historische Ausnahmen gelten die Auswanderung in die USA oder nach Australien, wo aus Nicht-Bauern Farmer wurden.) Die Abwanderung der Jungen in die Industriegebiete und Städte führt meist dazu, dass die wenig produktive Landwirtschaft aufgegeben wird und die zurückbleibenden Alten v.a. von den Überweisungen leben. Die Jungen kommen zwar jedes Jahr ins Dorf zurück, beginnen mit den ersten Ersparnissen den Hausbau - aber langfristig sind sie weg.

Wegen der Wirtschaftskrise sind in Griechenland vermehrt Arbeitslose auf ihr Dorf zurückgekehrt, wo sie noch ein Häuschen besitzen, und bewirtschaften ihr brach liegendes Stück Land. Aber sie sind keine "Bauern" mehr, sondern haben das Leben in der Stadt und in der Industrie kennen gelernt und neue Bedürfnisse entwickelt.

Wenn Walden Bello aus den aktuellen Auseinandersetzungen folgert, dass die Bauern zur "Klasse für sich" werden, geht er hinter die Inhalte der heutigen, weltweit vernetzten, sozialen Kämpfe zurück. Er legt Menschen auf eine Identität "Bauern" fest - was diese vielleicht ebenso wenig mehr sein wollen, wie weltweit die ArbeiterInnen Arbeiter bleiben wollen. Dass sie sich tatsächlich als "Geschwister" wahrnehmen und nicht als VertreterInnen unterschiedlicher Interessen, die im "Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern" zusammengeführt werden müssen. Darin liegen Möglichkeiten, die weit über das hinaus gehen, was traditionell Bauernbewegungen forderten: das eigene Stück Land für die eigene Familie.

"Kleinbäuerliche Landwirtschaft" sichert fast nirgends mehr allein das Überleben der Haushalte. Ihre Zunahme ist ein Krisenphänomen, keine freiwillige Wahl der proletarisierten Landbevölkerung. Wenn heute in Kuba Leute im Vorort Gemüse anbauen und verkaufen, ist das Ausdruck einer Mangelwirtschaft. Kuba importiert offiziell 60-70, inoffiziell 80 Prozent des staatlichen Angebots an Nahrungsmitteln; die notgedrungene Umstellung der industrialisierten Landwirtschaft mit großen Monokulturen in Richtung einer "nachhaltigen" Produktion verläuft schleppend. Auf dem Land fehlen Arbeitskräfte, weil die Bedingungen sehr mäßig sind. Die Reform setzt auf private Anreize und Einführung marktwirtschaftlicher Methoden.

In Venezuela, das bei einer Urbanisierungsrate von 87 Prozent drei Viertel seiner Nahrungsmittel importiert, sind bislang alle Programme zur Rücksiedlung von Bauern und Landumverteilung gescheitert. Gerade wurde ein neues Förderprogramm für landwirtschaftliche Kleinproduzenten verabschiedet, im März soll eines für städtische Landwirtschaft folgen.

Der MST jahrelang Leuchtfeuer einer Landbesetzerbewegung, die sozialistische Kooperativen aufbaut, hat in den letzten Jahren damit zu kämpfen, dass viele Arme städtisches Leben und Sozialhilfe der harten Arbeit auf dem Land vorziehen.

Trotzdem kämpfen natürlich weltweit Menschen um den Erhalt dieser Subsistenz, wenn sie ihnen durch Staudämme, Großgrundbesitzer oder Agrokonzerne genommen werden soll, da sie ihre einzige Ernährungsreserve darstellt, wenn sie keine Lohnarbeit finden.

Hunger gibt es vor allem auf dem Land, nicht in den Städten. Die Bedingungen in den Slums der Großstädte mögen noch so verheerend sein - hier hat man wenigstens eine Perspektive vor Augen, die herausführen könnte aus dem Elend. Die Slumcities sind Ausdruck davon, dass sehr viel mehr Menschen weltweit vom Land flüchten, als das Kapital aktuell verwerten kann.

In einem Artikel in Sozialgeschichte.online wirft Walden Bellos Übersetzer Max Henninger diesem zurecht "Romantizismus" vor. Dennoch hält er selbst an der Perspektive eines weltweiten Kleinbauerntums fest und wirft unserem Artikel Was nach der Bauern-Internationalen kommt (Wildcat 82) "Teleologie" vor, die in stalinistischer Weise die Bauern beseitigen wolle, damit aus der weltweiten Proletarisierung quasi-automatisch "die erträumte Revolution" entspränge. Wir wissen nicht, worüber wir mehr weinen sollen: dass für Max die Revolution keine Perspektive mehr ist, oder dass er die Bauern auf der Scholle festhalten will. Proletarisierung bzw. Semi-Proletarisierung ist der weltweit tatsächlich stattfindende Prozess, nicht unser Wunschdenken - unsere Wünsche sind deutlich anders! Wir versuchen es auf Seite 71 ff. in diesem Heft mit einem Essay zur Global Labor History.


Land oder Freiheit

Landarbeit bedeutet immer und überall schwere körperliche Arbeit, lange Arbeitszeiten, schlechte bzw. gar keine Bezahlung. Bauer bleiben und gut leben - das schaffen nur wenige. Das gängige kapitalistische Rezept: Unternehmer werden, sich spezialisieren, bedeutet starke Abhängigkeit von Zulieferern (Futter, Dünger, Saatgut) und Abnehmern (keine garantierten Abnahmepreise, sondern Preiskonkurrenz).

Die Slow-Food-Bewegung fährt einen anderen Ansatz (lokale Produkte und lokale AbnehmerInnen), erzielt aber nur darüber höhere Erzeugerpreise, dass sie die Nahrungsmittel an Besserverdienende verkauft, das heißt, um den Preis einer weiteren Segmentierung des Nahrungsmittelmarktes. Ohne staatliche Subventionen und die unterbezahlte Arbeit von PraktikantInnen könnte heute in der BRD kein Bio-Betrieb überleben, weil niemand die andernfalls noch höheren Preise bezahlen würde. Deshalb sinkt noch immer die Zahl der Höfe.

Wissen über bessere Anbaumethoden kann die kleinbäuerliche Landwirtschaft produktiver machen. Alternativen wären in vieler Hinsicht möglich: von Züchtung robuster Sorten, angepasst an Klimazonen, bis zur Kultivierung von Gemüse im Kompostsack. Aber jede Art von "nachhaltiger" oder "Bio-Landwirtschaft" ist mit erhöhtem Arbeitsaufwand und/oder Energieaufwand verbunden: wenn man Reisfelder nicht flutet, sondern nur feucht hält, entwickeln sich die Reispflanzen besser, aber das Unkraut schießt. Man kann es entweder mit Chemie bekämpfen, oder eben jäten.

Am Ende dreht sich immer alles um die Frage: Wer macht die Arbeit und zu welchen Bedingungen?


Randnotizen

cash crops: "Geldfrüchte", Feldfrüchte, die nur für den (Export)markt angebaut werden und die man häufig (wie Tabak und Baumwolle) nicht essen kann.

FAO 2007. The state of world fisheries and aquaculture. Rome, S. 162

Pauly, D. 2009. Beyond duplicity end ignorance in global fisheries. Scientia Marina 73(2): 215-224.

Deutsch et al. 2007. Feeding aquaculture growth through globalization: Exploitation of marine ecosystems for fishmeal. Global Environmental Change 17: 238-249.

Zur DDR siehe Tanja Busse in: Am Ziel vorbei: die deutsche Einheit - eine Zwischenbilanz, Berlin 2005.

Auch der Sowjetunion gelang es nicht, die landwirtschaftlich Werktätigen zu entsprechenden Produktionssteigerungen zu zwingen. Von den 1860er Jahren bis 1914 war Russland ein großer Weizenexporteur gewesen. Aber obwohl die Bolschewiki mit brutalsten Methoden die Industrialisierung der Landwirtschaft vorangetrieben hatten, musste die Sowjetunion seit den 1960er Jahre immer mehr US-Weizen zur Rindermast importieren, um den wachsenden Fleischkonsum der ArbeiterInnen befriedigen zu können. Damit war offensichtlich, dass diese Art von Kapitalismus zu Ende ging.

Zu China:
- DIE ZEIT Nr. 10 vom 3.3.2011, Chinas große Urbanisierung; von Felix Lee.
- Süddeutsche Zeitung Nr. 55, 8.3.2011, "Wir sind Bauern, aber nicht dumm" Auf dem Land in China gehen die Männer lieber in die Fabrik. Die Felder werden oft zu Bauland für Wohnhäuser und Firmen. Es droht eine Getreidekrise; von Marcel Grzanna
- Stephen S. Roach: Chinas Wendepunkt, http://www.project-syndicate.org/commentary/roach2/German- vom 24.2.2011 - Roach ist Fakultätsmitglied der Yale University, nicht geschäftsführender Vorsitzender von Morgan Stanley Asia und Autor von Das neue Asien.

Literatur:

Jason W. Moore, The End of the Road? Agricultural Revolutions in the Capitalist World-Ecology 1450-2010, in: Journal of Agrarian Change, Vol. 10, No. 3, July 2010, S. 389-413. (Moore stellt die Frage: Kann der Kapitalismus die Krise (Ende billiger Nahrung und billigen Öls) überwinden - oder gibt es einen epochalen Wendepunkt in der Beziehung von Kapitalismus und Agrarrevolution?

Ernst Langthaler, Landwirtschaft in der Globalisierung (1870-2000), in: Cerman, M. /Stellbauer, I./Tost, S.: Agrarrevolutionen. Verhältnisse in der Landwirtschaft vom Neolithikum zur Globalisierung. Wien 2008.

Loren Goldner, Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft. Amadeo Bordiga heute. Beilage zu Wildcat-Zirkular 46/47, 1999. auf: www.wildcat-www.de/

Harry Cleaver, Nahrungsmittel, Hunger und die internationale Krise, in: Zerowork 2, 1977; deutsch in: TheKla 10.

Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen der Originalpublikation:
(Grafik) Gefährliche Höhen - Lebensmittelpreisindex der FAO

Raute

BUCHBESPRECHUNG

"Einige stellen sogar die Bezeichnung 'Bauer' in Frage."

zu Politik des Hungers von Walden Bello

Bello beginnt sein Buch mit einem Rückblick auf die Brot- und Hungerrevolten von 2007/2008 in mehr als 30 Ländern. "Typisch für die Dynamik der Aufstände" sei die Importabhängigkeit dieser Länder bei den "Gütern des täglichen Bedarfs". Diesem Zusammenhang spürt Bello in seinem Buch nach. Es besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen: 100 Seiten politische Thesen (Einleitung, erstes und letztes Kapitel), dazwischen mehr als 100 Seiten Länderbeispiele zu Mexiko, den Philippinen, Afrika, und China. Dazu ein Kapitel zu Agrotreibstoffen.

Die Thesen sind nach wenigen Seiten klar und lassen sich in drei Punkten zusammenfassen.

Erstens: die "neue Bauerninternationale" setzt die "Ziele der Arbeiterbewegung" um ("Der Geist des Internationalismus, der beinhaltet, die eigenen Klasseninteressen aktiv mit dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft zu identifizieren und der einst ein hervorstechendes Merkmal der Arbeiterbewegung war, kennzeichnet heute die internationale Bauernbewegung", S. 20)

Zweitens: In weltweiten Prozessen von "Rück-Verbäuerlichung" (S. 196 und passim) kommt es zu einer globalen Bewegung von "Noch- und Wieder-Bauern".

Drittens: diese Bewegungen setzen technologisch und politisch/gesellschaftlich ein neues "Produktionsparadigma" (S. 23) durch: eine kleinbäuerliche Landwirtschaft, Bello nennt es den "bäuerlichen Weg" (S. 123 und S. 195).

Am Ende der Einleitung fasst Bello seine politische Perspektive zusammen: Die Bewegungen von BäuerInnen, das Aufgreifen kleinbäuerlicher Praktiken durch Menschen, die selbst keine Bauern sind, "unterstreichen die Tatsache, dass sich das globale Bauerntum - im Gegensatz zu Marxens Prognose - zu eben dem entwickelt, was Marx zufolge die Arbeiterklasse werden sollte: zu einer 'Klasse für sich', d.h. einer politisch bewussten Kraft." (S. 27)

Die von der Arbeiterklasse nicht gemachte Revolution sollen bei Bello nun die "Bauern, als Klasse für sich" machen. Aber die BäuerInnen, LandarbeiterInnen, Teilzeitbauern... passen nicht in seine Ideologisierung. Immer wieder muss er das Material in seine These quetschen. Z.B. zitiert er an verschiedenen Stellen des Buchs aus Deborah Brycesons Disappearing Peasantries: KleinbäuerInnen seien nur ein Reservoir billiger Arbeitskräfte für das globale Kapital. Viele hätten zwar noch die Vorstellung, wieder auf ein (eigenes) Stück Land begeben zu können, eine Vorstellung die sich hartnäckig in den Köpfen hält - "als Klasse wären sie jedoch der Proletarisierung ausgesetzt" (S. 23). Direkt im Anschluss macht er dann aus den während des letzten Kriseneinbruchs in China auf das Land zurückgekehrten WanderarbeiterInnen wieder Bauern. Er fragt an keiner Stelle, welche Vorstellungen die Leute selber haben, und grenzt sich von Bemühungen ab, genauer zu gucken: "Einige [Intellektuelle] stellen sogar die Bezeichnung 'Bauer' in Frage", kommentiert er auf Seite 23 ganz empört.

Ansonsten stellt Bello alle wichtigen Fragen: Er analysiert den Status quo, fragt nach den Subjekten der Veränderung und stellt sich der Herausforderung, vor dem Hintergrund der aktuellen Krise des Kapitalismus nach einer Alternative zu suchen. Aber seine "Fallbeispiele", die Kapitel zu den einzelnen Ländern, tragen seine politische Perspektive nicht, vor allem die politischen Akteure tauchen im Material nicht auf; stattdessen nur "Beweisstücke gegen den Neoliberalismus", wie es Bello am Ende des Mexikokapitels selber ausdrückt: Immer wieder das bittere Gerüst aus "Strukturanpassung", Streichung von Subventionen und Preiskontrollen, Ausweitung der Cash crop-Produktion...

Bellos politische Thesen sind um diese Kapitel der Anklage gegen das internationale Agrobusiness, bzw. die "neoliberale Politik", lediglich herumdrapiert. Die Länderbeispiele belegen immer wieder die Rolle der Staaten als Agenten und Mittler. Die BäuerInnen und LandarbeiterInnen kommen, wenn überhaupt, nur als Objekte staatlicher Politik vor. Die Bewegungen sind mit Ausnahme des MST im gesamten Buch nur durch Programme präsent. Das legt die Vermutung nahe, dass Bello doch wieder die Staaten als Agenten der Veränderung braucht. Auch wenn er das nirgends explizit tut - an wen will er seine vielen Programme und Forderungen sonst richten!?

Lesenswert seine Darstellung der chinesischen Agrarpolitik der letzten Jahrzehnte. Hier verdampfen alle Vorstellungen, die in einem kapitalistischem Weltsystem made by China in irgendeiner Art eine Alternative zum aktuellen System made by the USA sehen. Bello arbeitet deutlich heraus (S. 129 ff), dass die chinesische Führung spätestens mit dem WTO-Abkommen entschlossen die Freisetzung der Bauern und den weiteren Ausbau der exportorientierten Industrialisierung vorantreibt und dabei "einen Großteil der chinesischen Landwirtschaft aufs Spiel" setzt.

In den anderen Beiträgen fällt die LeserIn immer wieder in die Lücke zwischen politischen Thesen und Material. Nur der brasilianische MST ist mit "Rat und Tat" präsent. Bello zitiert aus einem Interview mit J. Stédile, einem seiner führenden Kader. Dieser kritisiert die mexikanischen Zapatisten als "unfähig, ihren Kampf zu einem Klassenkampf, zu einem nationalen Kampf auszuweiten. ... Sie haben sich damit begnügt, innerhalb eines bestimmten Territoriums für eine bestimmte Ethnizität zu kämpfen". (Stédile auf S. 173) Im Gegensatz zu diesem "Kampf indigener Bevölkerungen um Autonomie" sei der MST eine "gewandelte, politisierte Bauernbewegung". Es fällt auch hier auf; dass Stédile Klassenkampf und Nation offensichtlich nur im Zusammenhang denken kann.

Bello erwähnt, dass der MST mit seinen Versuchen, die Leute in Agrarkooperativen zu organisieren, gescheitert ist. Aber woran es scheiterte und womit es ersetzt wurde, erfahren wir nicht. Nur, dass die Organisation aus diesen Auseinandersetzungen gestärkt hervorgegangen sei. H. Wienold hat in seinem Band Leben und Sterben auf dem Land Gründe aufgeführt: Ökonomie und Zusammenleben wären nicht über die Grenzen der Familienlogik hinausgekommen; viele sahen in der "Wiederankunft" auf dem Land keine dauerhafte Rückkehr aufs Land; viele Familien verließen die Siedlungen nach wenigen Jahren, besonders die Jüngeren. Das sind reale Probleme und Widersprüche, die nicht gegen den MST sprechen, wohl aber gegen Ideologisierungen wie die von Bello, der daraus trotzdem einen "bäuerlichen Weg" machen will.

Ähnliche Widersprüche und Lücken finden sich in seinem mexikanischem Beispiel. In seiner Analyse der Situation sieht er die Einführung der kommunalen Landverwaltung (Ejido) durchaus als "konterrevolutionäres Containment". Seit 1994 (NAFTA!) steht diese unter massivem Privatisierungsdruck von außen, und erodiert gleichzeitig von innen: die jüngeren Ejidatarios, die sowieso schon in Lohnarbeitsverhältnisse eingebunden sind, sehen im Landverkauf die Möglichkeit, dem "niedrigen Status als Landarbeiter oder Bauer entfliehen zu können". Es klingt fast zynisch, wenn Bello zum Abschluss des Kapitels den Geschäftsführer von Food First zitiert: "Es wird Zeit und Mühe erfordern, um die Kapazitäten der Kleinbauern wieder aufzubauen, allerdings scheint es am politischen Willen dazu zu fehlen..." (S. 72)

Der ganze Bezug auf die Bauernbewegungen kann nicht verhehlen, dass sie letztlich nur als Objekte eines neuen "Produktionsparadigmas" herhalten müssen. Und es ist vor allem ihre Fähigkeit (mehr) zu arbeiten, die Kleinbauern und Familienbetriebe dafür prädestiniert. In seinem Exkurs zum Familienbetrieb (S. 36 ff) widmet er sich ausführlich dessen besonderer sozialer Dynamik im Vergleich zur kapitalistischen Farm: nicht der Profit, sondern die Reproduktion des Hofes stehen im Vordergrund; deshalb werde in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Kapital durch Arbeit ersetzt oder die Beschäftigung außerhalb des Hofes ausgeweitet. "Selbstausbeutung als bedeutender Umverteilungsmechanismus", zitiert Bello kommentarlos eine diesbezügliche Studie. Überhaupt die Frage der Technologie: Bellos Kritik an der rationalisierten Landwirtschaft ist wenig hinzuzufügen. Die "konkurrenzfähige" Produktivität kleinerer (Bio-)Einheiten wird immer wieder mit agroökologischen Expertisen belegt. Bello scheint nicht zu bemerken, dass die Studien vor allem eins übersehen oder bewusst voraussetzen: billige und verfügbare Arbeitskraft. Am Ende geht es auch hier darum - wer macht die Arbeit?


Walden Bello Politik des Hungers übersetzt von Max Henninger
Berlin-Hamburg 2010: Assoziation A, 16 Euro. Original: Food Wars, London 200g: Verso.

Unser Beitrag versucht in aller Kürze die politischen Thesen zu besprechen. Eine ausführlichere Zusammenfassung findet sich in der Besprechung von W. Bergmann in Sozial. Geschichte Online 4/2010,
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/go/sozial.geschichte-online/index.xml

Siehe hierzu, Wildcat 85, Pathways - Giovanni Arrighis Verschlungene Pfade

Hanns Wienold, Leben und Sterben auf dem Lande, Münster 2007: Westfälisches Dampfboot, S. 115ff.

Interview mit J. Stédile New Left Review 2002, http://www.newleftreview.org/?view=2390).

Dazu siehe z.B. Wildcat 66, Renaissance des Operaismus? www.wildcat-www.de.

Lateinamerika: Analysen und Berichte 21, 1997

Raute

Theologie versus Teleologie?

Moral, Diskurse und Staatsbezug in der Global Labor History

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran! Spacelabs fallen auf Inseln, Vergessen macht sich breit, es geht voran!
Fehlfarben

"Um die Zeit der Veröffentlichung von Marx' Gespenster saß ich bei Diedrich Diederichsen in einem Seminar der Münchener Akademie der Künste, in dem ein Interview mit Jacques Derrida gelesen wurde, worin der französische Meisterdenker die Sozialkategorie "Klasse" als ontotheoteleologischen Begriff bezeichnet hatte, worauf ich mich bemüßigt fand, zu fragen, was denn daran ontotheoteleologisch sei. Daraufhin antwortete mir der Seminarleiter sinngemäß: Die Klassengesellschaft gibt es nicht mehr, das hat die Existenz von Managern mittlerweile hinlänglich bewiesen. Da war ich sprachlos."
(Reinhard Jellen, 12.3.2011 auf telepolis)


Das historische "Ende des Liberalismus" (siehe Wildcat 88) und seiner Orientierung auf den Staat hat auch die nichtorthodoxe, marxistische Geschichtswissenschaft nach neuen Konzepten suchen lassen; als Hauptströmungen bildeten sich zum einen die Weltsystemanalyse (mit ihren Hauptvertretern Wallerstein, Silver und Arrighi) und zum anderen die Global Labor History heraus.

Die Weltsystemanalyse bietet in Einzeluntersuchungen (etwa Forces of Labor von B. Silver) einen guten Kompass zum Verständnis langfristiger Entwicklungen. Ihr theoretischer Ansatz ist an vielen Punkten fraglich, sie fußt auf naturwissenschaftlichen Konzepten von Systemen und deren Ausgangsbedingungen (siehe z.B. Wallersteins Bezug auf den Chemiker Prigogine). Sie ist in dem Sinn "offen", dass Geschichte nicht als linear ablaufender Prozess verstanden wird und die Gesellschaftsform nach dem finalen Systemcrash als nicht vorherbestimmt. Sie geht aber sehr wohl von einem "natürlichen" geschichtlichen Prozess aus, der in Zyklen von Systemlebensphasen verläuft. Systemwechsel werden von finalen Systemkrisen eingeleitet und finden in einer chaotischen Übergangszeit statt. Das ist eine deutlich andere Fragestellung als die nach "revolutionären Umwälzungen"! Dementsprechend gehen die "tagespolitischen" Äußerungen der Weltsystemanalyse-Vertreter oft in Richtung einer (staatlichen) Moderation der Übergangszeit. Wallerstein etwa beginnt sein Büchlein Utopistik mit einer pointierten Analyse der historischen Krise des Kapitalismus - plädiert aber am Ende nicht etwa für die Revolution, sondern fabuliert realpolitisch über neue moderierende (globale) staatliche Institutionen. Arrighi sieht in Adam Smith in Bejing China als neuen Hegemon, dessen originärer Entwicklungsweg einer "Fleißrevolution" der hoch gebildeten und produktiven Landbevölkerung, in Form einer "nicht kapitalistischen Marktwirtschaft" die globalpolitische Alternative zum Kapitalismus darstellen könne.

Marcel van der Linden als Schöpfer des Begriffs Global Labor History grenzt sich an vielen Punkten vom Weltsystemanalyse-Ansatz ab. Er kritisiert zum Beispiel, dass "Widerstands- und Überlebensstrategien von subalternen Gruppen und Klassen nie einen zentralen Platz in Wallersteins Weltsystem-Ansatz eingenommen haben" (Workers of the world, S. 298). Aber genauso wie Wallerstein leitet er die Mehrwertabschöpfung aus der Warenzirkulation ab und hält dessen Definition von "Proletariat" für eine der wenigen nutzbaren Erkenntnisse: Es sind all die, deren Arbeitsprodukt auf dem Markt gehandelt wird. Somit sei Lohnarbeit nur eine Kategorie verschiedener "Arten der Arbeitskraftkontrolle" (modes of labor control), neben verschiedenen Formen der unfreien Arbeit. Wenn man aber die kapitalistische Gesellschaft nur als Marktwirtschaft betrachtet und die Herausbildung einer spezifisch kapitalistischen Industrie ignoriert, die untrennbar mit der Lohnarbeit verbunden ist, entfällt der Klassenkampf als zentrales Merkmal des Kapitalismus. Er wird zur übergeschichtlichen Kategorie wie im Kommunistischen Manifest, oder wie bei Holloway zur "reinen Unruhe des Lebens", oder eben zur "beschreibenden Soziologie" der Global Labor History.

Anfang der 60er Jahre war E.P. Thompsons Betonung der subjektiven Konstitution der Klasse ein ungeheuer wichtiger Durchbruch gegen das damals in der marxistischen Linken vorherrschende Verständnis von Klasse als ökonomisch und soziologisch ableitbarer Kategorie. Später wurde sein Ansatz aber einseitig auf Cultural Studies verengt und somit entpolitisiert. Der Rückgriff der Global Labor-Historiker auf Thompson, um die historischen Lebensweisen der Weltarbeiterklasse nachzuvollziehen und Alltagswidersetzlichkeit, Genossenschaften und Hilfsvereine sowie Lohnkämpfe, Konsumentenboykotte und "Migration" als Ausdruck ihrer jeweiligen "Subjektivität" zu fassen (Workers of the world, S. 173 ff.), hat den durchaus sympathischen Effekt, dass die vielfältigen Abhängigkeits- und Ausbeutungsstrukturen innerhalb der Klasse in die Analyse mit einbezogen werden. Da sie aber den historischen Zusammenhang zwischen Kämpfen, Entwicklung der Technologie und Kampfbedingungen für eine revolutionäre Umwälzung als "deterministisches" Teufelswerk ablehnen und nur den kulturalistischen Thompson sehen, bleiben ihre Einzelanalysen in beschreibender Soziologie stecken. 30 Jahre nach der Entpolitisierung Thompsons durch die einseitige Betonung der "moralischem Ökonomie der Unterklassen" wiederholen sie den selben Fehler auf globaler Ebene.

M. Rediker und der Thompson-Schüler P. Linebaugh schienen in den letzten Jahren einen Ausweg aus dieser soziologischen Sackgasse der Labor History anzubieten; ihre Vielköpfige Hydra hat unter Global Labor-Historikern deshalb für große Furore gesorgt. Denn ihre Erzählung von Widerstand über Zeit und Raum hinweg ist äußerst anregend. Aber ihre z.T. rein spekulative Argumentationsweise und ihre assoziative, nur über Diskurse hergestellte Verbindung des Handelns einzelner Gruppen kann keine realen Perspektiven für heute aufzeigen. Roth / van der Linden haben eine Ahnung von der Hilflosigkeit dieser großen Erzählung. Sie benutzen zwar selber die Linebaugh'sche Kategorie der "Akkumulation des Proletariats", betonen aber andererseits, dass die "Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie" nicht so "konstruiert" werden dürfen, dass "sie sieh in einer ausschließlich subjektivistischen Gegen-Automatik der Selbstbefreiung des globalen Multiversums... aufheben" (Über Marx hinaus, S.559). Damit landen sie in einem argumentativen Patt; wie kann man eine Kategorie verwenden, deren Herleitung man kritisiert?

Letztlich setzt die Global Labor History genauso wie die Weltsystemanalyse auf staatliche Moderatoren gesellschaftlicher Widersprüche - Linebaugh bezieht sich in seinem Magna Charta Manifesto direkt auf Hugo Chavez und Evo Morales: "Ökonomisch gesehen scheinen die commons eine unrealistische Forderung. Aber bei genauerem Hinsehen sind sie praktikabel. Die commoners der Welt müssen nur anfangen, konstitutionell zu denken. So, wie es in Venezuela, Bolivien und Mexiko bereits der Fall ist." (Magna Carta Manifesto, S.20)

Der gleiche Bruch zwischen unbedingter Betonung der "Subjektivität" und Hoffnung auf staatliche Institutionen findet sich auch in der äußerst interessanten Arbeit von Peter Birke, Wilde Streiks. Statt zu analysieren, warum sich eine Institutionalisierung des vom ihm herausgestellten "Eigensinns der Kämpfe" durchgesetzt hat, hält er nur das geschichtliche Ergebnis, die Stärkung der Gewerkschaft, fest. Damit versieht er diese Institution unhinterfragt noch mit den Weihen historischer Wissenschaft. Ganz ähnlich changiert K.H. Roth zwischen einer radikalen Geste des "alles und alle bilden das Multiversum!" und konkreten Vorschlägen für eine neue Währungsordnung und Weltregierung. Raquel Varela kritisiert in Who is the Working Class?, dass das "alle drin haben wollen" vergisst, dass "Klasse" bei Marx eine analytische wie auch eine politische (!) Kategorie ist.

K.H. Roth hat im Vorwort zu Über Marx hinaus klargestellt, worum der Streit geht: Wenn man den "Marx'schen 'doppelt freien' Lohnarbeiter nicht mehr (als) strategischen und privilegierten Teil der Weltarbeiterklasse" sieht und "Sklaven, Kontraktarbeiter, (Schein-)Selbstständige und andere im Kapitalismus theoretisch 'gleichberechtigt' sind", dann sei "wahrscheinlich nicht nur die Marx'sche Werttheorie überholt, sondern muss auch die Revolutionstheorie völlig neu durchdacht werden." (Über Marx hinaus, S. 24)

Es ändert nichts am Kapitalismus, wenn wir Sklaven und Scheinselbständige "theoretisch" (!) als "gleichberechtigt" fassen, aber K.H. Roth löst damit jeden Begriff von "Kapitalismus" als sozialem Verhältnis auf - und er vermutet ganz richtig, dass damit auch der Begriff von "Revolution" als "Umwälzung von unten" entfällt. Fürs Protokoll sei nochmal festgehalten, dass Marx mit "doppelt freier Lohnarbeit" nicht an "weiße, männliche, tariflich abgesicherte Metropolenarbeiter" gedacht hat, die nicht nur Global Labor-Historiker als Pappkameraden aufführen. Strukturell ist Lohnarbeit mit der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise der Industrie verbunden. Historisch sah Marx darin eine Tendenz, die sich schnell verallgemeinern würde. Wallerstein hat zu erklären versucht, warum der Prozess der Proletarisierung nicht wenige Jahre, sondern schon weit mehr als 100 Jahre andauert: die Bourgeoisie hat ein großes Interesse daran, ihn zu verlangsamen und die Klasse immer weiter zu unterschichten. Wallersteins Begriff "Semiproletarisierung" benutz(t)en auch wir zur Beschreibung globaler Entwicklungen. Wenn Max Henninger uns auch daraus den Vorwurf der Teleologie macht, "weil sich darin eine revolutionäre Naherwartung zu erkennen" gebe, schwankt er wohl zwischen Paranoia und Geschichtspessimismus.

Ohne die Entwicklung der Maschinerie in der Industrie (der "industriellen Revolution", ein Begriff, der wesentlich von Engels geprägt wurde) wäre die Lohnarbeit tatsächlich eine Kategorie von Arbeit unter anderen geblieben, wie in den Jahrhunderten vorher. Es geht dabei nicht um die Frage, ob wir das "gerecht" finden, um die Behauptung einer quantitativen Dominanz von Lohnarbeit im globalen Proletariat, sondern um die politische Zentralität des Klassenantagonismus in den Fabriken - dort, wo in immer weiter steigendem Maße die Gebrauchswerte der Gesellschaft hergestellt werden.

Als Marx an die Sozialrevolutionärin Vera Sassulitsch schrieb, dass die bäuerliche Dorfkommune in Russland "Ausgangspunkt der sozialen Erneuerung Russlands" (Hervorhebung von uns) sein könne, tat er dies im Zusammenhang seiner Reflektionen über die damalige Krise des globalen Kapitalismus und die Möglichkeiten einer globalen sozialen Revolution. Max Henninger ignoriert diesen Zusammenhang genauso wie Marxens jahrelange intensive Beschäftigung mit Agrochemie und der Geologie der Böden (d.h. den Möglichkeiten der Entwicklung der Landwirtschaft in Russland), um konstruieren zu können, Marx habe mit diesem Halbsatz sein ganzes Lebenswerk und seine Auffassungen über den Haufen geworfen - eine mehr als gewagte Interpretation. Wenn er dann gegen Marx mal wieder den russischen Genossenschaftler Cajanov aus der Tasche zieht, wäre die Frage, ob das nun eine ernsthafte Debatte um das Genossenschaftswesen werden soll - und ob ihm dabei die staatliche Logik Cajanovs bewusst ist. (Henninger: Ländliche Armut, S. 84-112).

Die Global Labor-Historiker begründen ihre Sozialromantik mit einer - berechtigten - Kritik an Analysen, die mit "ehernen Gesetzen der Geschichte" "entweder [ihren] Avantgardismus oder [ihre] Passivität" zu legitimieren versuchen (Über Marx hinaus, S.18). Aber sie legen ihre biographischen Motive nicht offen: die Angst, in der aktuellen Krise würden mal wieder die schwächsten Schichten der Weltbevölkerung von den "privilegierten Metropolenarbeitern" vergessen; oder ihre eigenen enttäuschten Hoffnungen von der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt (nur in einer Fußnote verweist Max Henninger auf den furiosen Verriss von Erhard Lucas an der Anderen Arbeiterbewegung von K.H. Roth und Elisabeth Behrens). Diese Ängste leiten sich nicht aus der heutigen Realität ab, es sind die Schatten der eigenen Vergangenheit, gegen die hier gekämpft wird. Die stalinistische "Technokratenpartei" liegt jedenfalls nicht in den aktuellen Aufständen! Wo in Asien und Afrika wäre denn heute ein "Befreiungsnationalismus" an der Macht, der die Proletarisierung der Bauern gewaltsam durchsetzen will? Wacht auf Leute! Es sind die BäuerInnen selber, die nicht mehr Bauer sein wollen.

Das Kapitalverhältnis hat die Möglichkeiten für eine wirklich weltweite Umwälzung erweitert - ob wir als Menschheit diese Möglichkeiten nutzen können, wissen wir noch nicht. Diese Aufgabe wird uns der "Weltgeist" nicht abnehmen. Die nach 35 Jahren Konterrevolution erneut aufflackernden Revolten machen jedenfalls Hoffnung!


Zum Weiterlesen:

Wildcat-Zirkular 65 zu Immanuel Wallerstein: Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts.
www.wildcat-www.de/zirkular/65/z65utopi.htm

Wildcat 86 zu Giovanni Arrighi: Die verschlungenen Pfade des Kapitals: www.wildcat-www.de/wildcat/86/w86_pathways.html

Wildcat 70 zu Peter Linebaugh, Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra: www.wildcat-www.de/wildcat/70/w70hydra.htm

• Heft 3/2010 der Sozial.Geschichte.online mit mehreren Beiträgen zu Linebaugh/Redikers: Die vielköpfige Hydra:
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22626

• Marcel van der Linden: Workers of the world. Essays toward a global labor history. Leiden: Brill, 2008.

• Peter Linebaugh: The Magna Carta Manifesto. Liberties and Commons for All. of California Press, 2009.

• Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Frankfurt 2007: Campus.

• Raquel Varela: Who is the Working Class? - On Workers of the World by Marcel van der Linden, in: Sozial.Geschichte.online, 4 /2010: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=23719

• Max Henninger: Marxismus und ländliche Armut, in Sozial.Geschichte.online 4 /2010:
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=23718

Wer sich ernsthaft damit beschäftigen will, dem sei als Einstieg Jeong-Sook Hahn: Sozialismus als "bäuerliche Utopie"? Agrarsozialistische Konzeptionen der Narodniki und Neonarodniki im 20. Jahrhundert in Rußland (Dissertation, Tübingen, 1994) empfohlen. Dort findet sich auf Seite 146 folgendes zu Cajanov: "Der eine Weg besteht in staatlichen Maßnahmen, die normalerweise die Wirtschaftsverhältnisse auf einer den Rahmen einzelner Betriebe weit übersteigenden Ebene beeinflussen. Cajanovs Beschreibung bäuerlicher Wirtschaftsweisen war nicht überhistorisch, sondern bezog sich auf die spezifischen Bedingungen in Russland unter der jährlichen Umverteilung des Landes durch die Dorfgemeinde, die Obscina. Wo er diese konzeptionell und damit idealtypisch ausgearbeitet hat, tat er das mit dem Ziel, durch staatliche Eingriffe den "Vergenossenschaftungsprozess" zu steuern, nur eben nicht gewaltsam. Auch kann Cajanows Ideal einer patriarchalen Bauerngesellschaft wohl nicht ernsthaft als emanzipatorisch in die Debatte geworfen werden (siehe seinen Roman Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie). Das sind bspw. Bodengesetze oder Steuer-, Kredit-, und Tarifpolitik, sofern sie die Landwirtschaft betreffen. Obwohl diese Einwirkung möglicherweise eine zwangsmäßige Form annehmen könnte, bewertet Cajanov deren Sinn und Bedeutung nicht negativ. Diese Einflussnahme sei stets ein wirksames und mächtiges Werkzeug der 'gesellschaftlichen Vernunft' und werde dies auch in Zukunft bleiben."

Raute

BUCHBESPRECHUNG

Arbeiter und Arbeiterklasse im heutigen Indien

zum Aufsatz von Subir Sinha in "Über Marx hinaus"

China und Indien gelten als die letzten großen Arbeitskräftereservoirs der Weltwirtschaft. Besonders Indien ist neben gewaltigen Industrialisierungs- und Wachstumsraten von großer Armut geprägt; dort lebt nach UN-Angaben ein Viertel aller unterernährten Menschen. Die aktuellen Teuerungsraten bei Lebensmitteln von 17 Prozent verschärfen diese Situation ungeheuer. Mitte Februar demonstrierten 100.000 Menschen in Neu Delhi gegen die Preissteigerungen, sie folgten einem Gewerkschaftsaufruf. Immer mehr ArbeiterInnen organisieren sich aber auch unabhängig von den großen Parteien und Gewerkschaften. Im Gegenzug will der indische Staat jetzt eine Grundsicherung der Ärmsten mit Lebensmitteln einführen und mehr Geld in die Bildung stecken. In Indien geht die Angst vor den gefährlichen Klassen um.

Vor diesem Hintergrund besprechen wir Subir Sinhas Aufsatz Arbeiter und Arbeiterklasse im heutigen Indien, erschienen im Sammelwerk Über Marx hinaus. Sinha kritisiert darin zwei politische Ansätze vor dem Hintergrund der neuen sozialen Bewegungen in Indien. Zum einen die Subaltern Studies, zum anderen die traditionellen kommunistischen Parteien, die er durchgängig als "Marxisten" bezeichnet. Sein Fazit ist eindeutig:

"Offenbar haben die rasanten und weitreichenden Veränderungen in Indien die analytischen Rahmen sowohl der kanonischen Varianten der Subaltern Studies als auch des orthodoxen Marxismus unbrauchbar gemacht".

Das erste Drittel des Aufsatzes diskutiert v.a. drei führende VertreterInnen der Subaltern Studies (Guha, Chakrabarty und Spivak). Der Historiker Ranajit Guha hält den Klassenbegriff für nicht tauglich für die indische Geschichte von 1757 bis 1857 (Beginn und Ende der Herrschaft der Ostindien-Kompanie). Die Gesellschaft war gespalten "in subalterne und elitäre Sphären", der "fragmentarische" Charakter subalterner Erfahrungen, sowie "Formen subalterner Solidarität, die auf den Strukturen der Community, auf räumlicher Nähe und auf Verwandtschaftsbeziehungen gründen" machen es nicht möglich, von Klasse zu sprechen, besser passe der Begriff der "Subalternen" als "lose, kontextgebundene Kategorie". Laut Guha änderten sich "die Bedingungen der Subalternität irreversibel" im Jahr 1857 (Aufstände in Nordindien gegen die Herrschaft der Ostindien-Kompanie; nach deren Niederschlagung unterstellte Großbritannien Indien seiner direkten Kontrolle).

Sinhas Kritik an den heutigen Subaltern Studies setzt da an, wo sie hinter Guhas Einsicht zurückfallen und seine historischen Kategorien universell verwenden und unkritisch auf die heutige Zeit übertragen. Dipesh Chakrabarty verwische historische Entwicklungen, wenn er z.B. die Ansicht vertrete,

"'dass Bauern' - man beachte den Präsens - 'keine eigenen Dokumente hinterlassen'... Heutige "Bauern"-Bewegungen ... hinterlassen nämlich dokumentarisches Material in großen Mengen... Alle indischen "Bauern"-Bewegungen der letzten vier Jahrzehnte [haben] ihre eigene Kritik an Herrschaftsstrukturen wie dem Staat, außerdem Transformationsprogramme und autobiographische Texte produziert... Diese Entwicklung hat sich seit dem Beginn der Computer- und Internetnutzung durch Bewegungsaktivisten noch intensiviert."

Gayatri Spivak benutzt "Klasse" als historischen Begriff; sieht aber heute, im "Postfordismus" keine "organisatorische Stabilität des Betriebs" und somit auch keine "Möglichkeit des Klassenbewusstseins". Im Gegensatz zu Chakrabarty, der den "Subalternen" auch heute noch den Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln und transnationale Verbindungen abstreitet, spreche Spivak vom "Zugang zum Zentrum", erkenne also den Umgang mit der Moderne. Letztlich betrachteten aber alle TheoretikerInnen der Subaltern Studies die "Subalternen" als fragmentiert und alteritär, der Herrschaft eines Gesetzes und einer Zivilgesellschaft unterworfen. Sinha hingegen sieht in diesen Menschen mehr als bloße "Schachfiguren in den Händen der erfahrenen Mainstream-Player", wie er Spivak zitiert und verweist zum Beleg auf Untersuchungen von 2002 "zur Internationale der Slumbewohner als einer 'transnationalen Basisbewegung'".

Sinhas Fazit nach dem ersten Drittel des Aufsatzes:

"Die unkritische Übertragung der im 19. Jahrhundert geltenden Bedingungen von Subalternität auf die Gegenwart, die Gleichsetzung sämtlicher Begegnungen zwischen Indien und der Moderne mit kolonialer und imperialistischer Gewalt, das Festhalten an Vorstellungen restloser Alterität und die Zurückweisung jeder Form externer Vermittlung, die Betonung überkommener (im Gegensatz zu interaktiv entstandenen) Formen der Subalternität und das Bestehen auf einem Dualismus von 'Indien' und 'dem Westen', der näherer Betrachtung nicht standhält - all das verleiht den innerhalb der Subaltern Studies verfolgten Ansätzen einen anachronistischen Charakter und macht sie für die Entwicklung eines analytischen Rahmens zur Erforschung gegenwärtiger Bewegungen der Subalternen unbrauchbar."

Nun setzt sich Sinha mit der marxistischen Orthodoxie und dem "Niedergang der Klassenthese" auseinander. Zunächst stellt er die Kritik der Marxisten an den Community-Vorstellungen der Subaltern Studies vor. Selbst wenn man die "Community als natürliche Organisations- und Autoritätsform der Subalternen" akzeptiere und davon ausgehe, dass der Kapitalismus zu ihr in einem feindlichen Verhältnis stehe, so werde "die Kategorie subaltern dem rapiden Übergang zur Klassengesellschaft nicht gerecht". Folglich müsse analysiert werden, wie sich die Community "weiterentwickle und wie sie im Laufe der Zeit in Form von Klassen rekonstituiert werde."

Bei der Frage, ob und ggf wie "externe Vermittlung" möglich ist, hält Sinha das "Ringen um Gramsci" für zentral:

"Gramsci und den Autoren der Subaltern Studies zufolge ist das Bewusstsein der Subalternen ein fragmentiertes. Anstatt nun das Fragment zu zelebrieren und darin von Gramscis Formulierungen abzuweichen, schlagen die Marxisten externe Führung als Mittel zur Überwindung dieser 'historischen Beschränktheit' der Subalternen vor."

Sinha weist verschiedene Austreibungsversuche klassischer Marxisten gegen Gramscis Begriffe "subaltern", "dominant" und "Hegemonie" zurück. Ein "materialistisches Verständnis der Subalternität" und Gramscis Begriff der "Hegemonie" könnten verhindern, dass marxistische Positionen in Abwehr der akademischen Mode "identitätspolitischer Ansätze" wieder zur "klassischen politischen Ökonomie" zurückkehren und "Klasse" als "ökonomische Kategorie" begreifen, "als sei das 'Ökonomische' ein Kultur und Politik vorgelagerter, sich unabhängig von ihnen konstituierender Bereich".

Sinha kritisiert zurecht die "wachsende Kluft zwischen Klassenanalyse und tatsächlicher Klassenpolitik" bei den Kommunistischen Parteien und weist darauf hin, dass sie zwar die "Rückkehr zur Klassenanalyse" fordern, sich in Wirklichkeit mit der realen Klasse aber kaum auseinandersetzen. Aber im Gegensatz zu seiner differenzierten Diskussion der Subaltern Studies schrumpft er den "Marxismus" auf offizielle KP-Politik zusammen, was den Erkenntniswert seiner Kritik doch arg reduziert.

Im dritten Kapitel macht Sinha nun aber die entscheidende Bewegung. War das Ganze bisher sehr theoretisch und eher was für Menschen, die das Innere von Universitäten und das Wort "Diskurs" mögen, so stellt er nun die realen Bewegungen vor:

"[ich] untersuche die Waldarbeiterbewegung und die migrantische Arbeit, um zu zeigen, wie die Defizite der zwei von mir kritisierten analytischen Ansätze sich in diesen beiden Fällen auswirken."

Das Forum der Waldarbeiter verweise "auf eine neue Form der Arbeiterpolitik", "wird doch der Begriff des 'Arbeiters' in ihr neu gedacht". Sie vertreten nach eigenen Angaben in 90 Organisationen 150 Millionen Menschen, die vom und im Wald leben. Wie auch andere neue soziale Bewegungen - Sinha verweist etwa auf die National Fishworkers Federation - haben sie sich eine relative Unabhängigkeit von den großen Gewerkschaften und politischen Parteien, auch linken, erhalten. Ihr Hauptgegner ist der indische Staat, der 95 Prozent des Waldes besitzt. Das Forum der Waldbewohner und Waldarbeiter kämpft für politische Teilhabe an staatlichen Entscheidungen, es weise somit "eine interessante Hybridität auf." Denn das Forum beruft sich zwar auf die Identität von Stammesbevölkerungen oder indigenen Gruppen, "behauptet aber keine Exteriorität solcher Identitäten gegenüber der Entwicklung und der Moderne". Sie haben ihre "eigenen Intellektuellen" und gehen selbst Bündnisse ein "mit der Landarbeiterbewegung und der Gewerkschaft informeller Arbeiter, mit Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftlichen Gruppen und den Bewegungen der 'Ärmsten der Armen'... und zwar sowohl innerhalb Indiens als auch transnational." Hier hätten die Subaltern Studies und die Marxisten "ein Defizit gemeinsam: Beide gehen davon aus, dass sich Politik letztlich auf der Bühne der 'Nation' abspielt. Damit ist keiner dieser beiden Ansätze sonderlich geeignet, die transnationalen Solidaritätsnetzwerke zu erklären, in die sich die Waldarbeiterbewegung einfügt." Die WaldarbeiterInnen betonen selbst, "Arbeiter" zu sein, erscheinen aber auf "andere Weise als Klasse, als es in den Subaltern Studies und im Marxismus vorgesehen ist."

Sein zweites Beispiel, die Wanderarbeiter aus Bihar, überschreibt Sinha folglich "Der Kampf, Arbeiterklasse zu werden". Auch hier ist sein Befund ähnlich wie bei den Waldarbeitern. Die Subaltern Studies erfassten bestimmte Aspekte richtig: die Bihans kommen aus der selben Gegend, sie migrieren, arbeiten und wohnen zusammen, sie bilden somit eine Community der räumlichen Nähe oder sogar der Verwandtschaft. Ihr illegaler Status mache sie für Parteien und Gewerkschaften unattraktiv.

Sinha kritisiert, dass es kaum Analysen zu Arbeitsmigration in Indien gebe und kaum jemand die Umwandlung der Migranten in Arbeiter untersucht habe. Dabei stellten sie "in Städten wie Mumbai die überwiegende Mehrheit der Slumbevölkerung, die wiederum 60 Prozent der Gesamteinwohnerzahl ausmacht." In den wichtigsten Branchen der indischen Ökonomie, z.B. dem Bausektor, seien "überwiegend migrantische Arbeiter beschäftigt".

Aber wiederum fällt Sinha als Resümee nicht mehr ein, als nochmal darauf hinzuweisen, Klasse sei nicht als "a priori gegebene Kategorie zu denken", da "bei deren Konstitution stets auch die wechselnden Konturen eines unbeständigen soziokulturellen Terrains zu bedenken sind". Nachdem er bereits am Anfang festgehalten hatte, dass "'reine' Klassen nur in der Phantasie einiger Marxisten und Anhänger der Subaltern Studies" existieren, fragt sich so langsam, was Sinha über die ständige Wiederholung dieser richtigen Einschätzung hinaus nun eigentlich selber sagen will. Das kommt in den beiden Schlussabschnitten.

Im vierten Abschnitt setzt sich Sinha mit der Kritik auseinander, die sozialen Bewegungen würden auf dem gleichen politischen Gebiet wie der indische Staat agieren, somit konvergierten Demokratie und Totalitarismus. Sinha entgegnet, den sozialen Bewegungen gehe es um eine "Demokratisierung der Demokratie", denn Bewegungen wie die der "Waldarbeiter klagen nicht nur "garantierte Rechte" sondern "auch neue Rechte ein". Somit ist die Katze aus dem Sack: Sinha nimmt die Kämpfe der "neuen ArbeiterInnen" nur da wahr, wo sie Rechte beim Staat einklagen oder die Ordnungsmacht um ihre Sicherheit anfragen, nicht in ihrem "Eigensinn". Er "denkt" sie eingefangen zwischen zivilgesellschaftlichen und parlamentarischen VertreterInnen und Ideologien.

Der fünfte Abschnitt ist überschrieben "Der subalterne Arbeiter, weder subaltern noch Arbeiterklasse".

"Spivak und Bernstein haben unabhängig voneinander darauf hingewiesen, dass die Stabilität des Fordismus ... nachlässt und unsere Vorstellungen von Klasse daher revidiert werden müssen." Wenn aber "Waldarbeiter, Fischer, migrantische Arbeiter usw. es immer noch für politisch sinnvoll erachten, sich als 'Arbeiter' zu bezeichnen", können wir den Begriff "Klasse" nicht wegwerfen. Wir müssen ihn aber weiter fassen, weil dieselben Leute "zugleich Diskurse bemüh(en), die mit Kastenzugehörigkeit sowie mit ethnisch und regional bedingter Unterdrückung zu tun haben". Indien befindet sich in einem rasanten ökonomischen Umbruch,

"vormals stabile Herrschaftsverhältnisse, aber auch vormals stabile Formen der Solidarität ... sind bis auf ihre Grundfesten erschüttert worden, während zugleich neue Herrschafts- und Solidaritätszusammenhänge entstanden sind. Migrantische Arbeiter bewegen sich zwischen diesen zwei Extremen." Schlusssätze: "Wenn der Klassenbegriff und mehr noch der Begriff der 'Arbeiterklasse' ihre Bedeutung nicht einbüßen sollen, dann muss das gesamte Spektrum der Kräfte, die Unterwerfung herstellen, berücksichtigt werden. Arbeiter sollten verstanden werden als Verkörperung einer Vielzahl von Identitäten, die sich nicht auf das Ökonomische reduzieren lassen, die uns aber die Möglichkeit eröffnen, die kulturellen Grundlagen der Ökonomie zu erkennen."

Sinhas Aufsatz stellt die Probleme der Subaltern Studies und des traditionellen Marxismus im heutigen Indien dar. Seine Anmerkungen zum "Arbeiter sein wollen" als Mittel zur Veränderung sozialer Beziehungen sind lesenswert. Trotzdem bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. Denn Sinha geht letztlich genauso abstrakt mit seinen Begriffen und seinen Beispielen um, wie er es den beiden Strömungen zurecht vorwirft. Reale Menschen und ihre Bewegungen dienen ihm nur "zur Veranschaulichung" (Kapitelüberschrift) der eigenen Thesen.


van der Linden/Roth (Hrsg.) Mitarbeit: Max Henninger Über Marx hinaus - Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts,
Berlin-Hamburg 2009: Assoziation A, 608 Seiten, 29,80 Euro,

Randnotiz

Alterität: Andersheit, Andersartigkeit. Bei den Subaltern Studies: jeder Mensch hat mehrere Identitäten, die sich nicht unter eine Identität wie "Arbeiter", "Bürger", "Ureinwohner" subsumieren lassen, es bleibt immer ein Rest.

Raute

BUCHBESPRECHUNG

Der kampf wo me het gmeint me het gwunne, hei si doch verlore...

Der geplante Tod einer Fabrik - Der Kampf gegen die Schließung der Karton Deisswil

Mit der Zunahme von Streiks und Kämpfen gegen Betriebsschließungen erscheinen auch vermehrt Dokumentationen und Auswertungen dieser Konflikte. Solche Bücher, Broschüren und Filme können eine wichtige Rolle beim Weitergeben der Erfahrungen spielen. Es ist aber immer schon eine schwierige Frage gewesen, wie Arbeiterkämpfe abgebildet werden können. Einen mutigen Weg wählt das 2010 erschienene Buch "Der geplante Tod einer Fabrik" zur Auseinandersetzung um eine Betriebsschließung in der Schweiz mit bitterem Ende: Mehr als die Hälfte des 223seitigen Buchs nehmen sieben Interviews mit elf Arbeitern ein. Dem absurden Bild des "Happy End", das Unternehmer, Lokalpolitik und Gewerkschaft unisono hinausposaunten, setzt eine Gruppe externer UnterstützerInnen ihre eigene Einschätzung und die der Arbeiter entgegen. Im Zentrum steht dabei die Frage, warum deren Selbstorganisierung so spät zündete und dann schnell wieder steckenblieb.

Die Kartonfabrik in Deisswil im Berner Umland soll im Frühjahr 2010 geschlossen werden, nachdem vom besitzenden Großkonzern schon sehr lange nichts mehr investiert worden war (darauf bezieht sich der Titel des Buches). Die Arbeiter, Schweizer und ehemals migrantische Arbeiter aus Osteuropa, die mehrheitlich damit gerechnet hatten bis zur Rente dort durchzuhalten, begleiten die von der Gewerkschaft UNIA übernommenen Verhandlungen mit Menschenketten und Demos. Unliebsam radikale Ideen der Arbeiter - den Chef festzusetzen, eine Maschine symbolisch wieder in Betrieb zu nehmen... - werden von der Gewerkschaft ignoriert, mehrere Demonstrationen lässt sie ins Leere laufen. Als klar ist, dass ein Großteil des gelagerten Kartons im Wert von vielen Millionen schon abtransportiert ist und dass sowieso nur noch um einen Sozialplan verhandelt wird, schwenkt Gewerkschaftsfunktionär Pardini um: die Tore sollen blockiert werden, um weitere Transporte zu verhindern.

Ein Teil der Arbeiter nimmt die Idee nach einigem Zögern an und macht sie zu ihrer eigenen, die Stimmung wird kämpferisch - aber nach 20 Minuten werden die Blockierer von einem anderen Gewerkschafter, dem Präsidenten ihrer Betriebskommission (BR) und deren Anhängern in der Belegschaft unter starkem Protest zurückgepfiffen. Pardini bringt in den nächsten Tagen alle auf Linie, und es wird weiter blockiert. Die Gewerkschaft spielt "guter Bulle - böser Bulle" mit den Leuten, vielleicht auch aufgrund interner Richtungsstreits. Durch die Verzögerung kann der restliche Karton abtransportiert werden, die Leute bewachen letztlich leere Hallen. Und ohnehin ist die Stimmung nicht mehr die selbe - die Herausgeber schreiben, dass nicht die Kampfform entscheidend ist, sondern wer die Kontrolle darüber hat.

Wenige Tage später kommt die übliche Nachricht, ein Finanzinvestor habe den Betrieb übernommen. Obwohl in der Fabrik kein Karton mehr produziert werden soll, verspricht er der Gewerkschaft "Arbeitsverträge zu den gleichen materiellen Bedingungen für alle". In der Realität bleibt für die Arbeiter ein Grundlohn, der ohne Schichtzulagen usw. niedriger ist als das Arbeitslosengeld. Sie werden permanent unter Druck gesetzt, "freiwillig" zu gehen - und wenn sie dann gehen, verlieren sie einen Großteil der eh schon miserablen Abfindung. Von den 253 Arbeitern werden 30 von der Nachfolgefirma direkt übernommen, 120 werden mit Abriss- und Aufräumarbeiten auf dem Gelände beschäftigt oder an andere Firmen verliehen. 110 Arbeiter haben sich einen anderen Job gesucht.

Hingehen!

Der erste Teil des Buches enthält vier Beiträge einzelner Unterstützer und ein gemeinsames Vorwort, in denen sie darstellen, was für sie die Lehren aus der Auseinandersetzung sind, in denen sie die Verarsche, Schiebereien und Kungeleien hinter den Schlagzeilen und in den Verwaltungsbüros der Apparate offenlegen. Die Gewerkschaft, die sich über die ArbeiterInnen hinweggesetzt habe, wird hart kritisiert. Aber auch, dass die Arbeiter "passive Mitglieder der Gewerkschaft" geblieben seien und ihre vorsichtig abwartende Haltung zu deren sozialpartnerschaftlichem Vorgehen wie "ein Schlüssel ins Schloss" gepasst habe (S.197). Einer stellt das Umschlagen der Stimmung von Resignation zur Rebellion und wieder zurück dar: letztere müsse - auch von externen UnterstützerInnen - gepäppelt werden, denn in uns allen existiere beides. Ein anderer betont, UnterstützerInnen dürften nicht anstelle der Belegschaft den Kampf führen, sie müssten sich immer fragen, wo Unterstützung aufhöre und unzulässige Einmischung anfange. (S. 37f.)

Sie begründen ihre Vorgehensweise mit ihrem Interesse an einer "gewerkschaftspolitischen Praxis, die sich selbst jenseits von Stellvertreterpolitik 'von oben' situiert und auf die Selbstorganisation und die Autonomie der sozialen Bewegungen zielt." (S.72) Sie gehen davon aus, dass "der Auflösung der kollektiven Arbeitszusammenhänge Formen der 'Interaktion' entgegenstehen müssen." (S.71f.) Das ist richtig, denn die Fabrik hat vielerorts ihre organisierende Kraft verloren, zum einen durch die Aufsplitterung der ArbeiterInnen durch Umstrukturierung und Deregulierung, zum anderen durch Massenentlassungen wie im Fall von Deisswil. Dort haben sie einiges ausprobiert: eine Streikzeitung gemeinsam zu produzieren, einen Treff- und Diskussionsort in Form eines wöchentlichen "Mittagstisches" zu initiieren, Streikfilme anderer Betriebe zu zeigen. Es sei wichtig, andere Räume zu öffnen, Interaktionen möglich zu machen, gemeinsame Erlebnisse zu schaffen, in denen überhaupt erst kollektive Erfahrungen gemacht werden können. Richtigerweise betonen sie, dass eine bloße Kritik der Gewerkschaftsführung nicht weiterhilft, da die Ursachen für fehlende Kämpfe tiefer liegen - genau in der oben beschriebenen Vereinzelung und dem Fehlen von Kampferfahrungen. Um diese aufzubauen brauche es, so das Fazit, "niederschwellige Aktionen, welche die Belegschaft vereinen und stärken", an denen alle teilhaben und Erfahrungen machen können. (S. 197)

Die Herausgeber waren auch beim Streik der SBB-Werkstätten in Bellinzona als Externe dabei und sind Mitglieder der Vernetzungsinitiative "Schaffen wir zwei, drei, viele Officine!". Trotz "ähnlicher Ausgangslagen" erscheint ihnen der Kampf in Deisswil "wie eine Negativaufnahme" (S.196) dessen, was sie dort erlebt haben: Während die Arbeiter in Deisswil auf Verhandlungen hoffen und Kampfmaßnahmen solange hinausschieben, bis sie unwirksam werden, gab es in Bellinzona eine langjährige Betriebsgruppe, eine aktive Arbeiterversammlung und "eine Gewerkschaft, die ihre Strukturen in den Dienst der Belegschaft und ihres Kampfes gestellt hatte" (ebd.). Dass sich die Gewerkschaft in Bellinzona ganz anders verhalten hat als in Deisswil, ist allerdings nicht allein Zufall oder Ergebnis interner Machtkämpfe, sondern hängt auch davon ab, um was für einen Betrieb es sich handelt und wie die Leute dort kämpfen können. Der Vergleich zu Bellinzona wird ausschließlich auf der Ebene der Organisation der Gegenwehr, unter Absehung von den objektiven Bedingungen geführt. Die Frage, ob es was anderes ist, in einer Eisenbahnwerkstatt oder einer Kartonfabrik zu streiken und wie sich die Klassenzusammensetzung unterscheidet, wäre auch wichtig gewesen. Generell fällt es schwer, sich ein Bild von der Belegschaft als Kollektiv zu machen, denn es ist wenig zu erfahren über die Leute, ihre Ausbildung, Löhne und Arbeitsverträge, die Arbeit selbst und ihre Veränderung.

Zuhören!

Die HerausgeberInnen haben sich dafür entschieden, die Interviews ohne größere Eingriffe, Kürzungen oder Arrangements und ohne weitere eigene Kommentare abzudrucken. Das erfordert einiges an Geduld von der Leserin, denn die Interviews sind teilweise sehr langatmig, es gibt Wiederholungen und unvollständige Sätze, abgebrochene Gedankengänge.

Die Absicht ist, den Betroffenen eine Stimme zu geben: "Ziel dieser Gespräche ist der Versuch, die 'Sozialwelt' vom Standpunkt der Betroffenen aus zu sehen. Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen! Nicht verhören, sondern zuhören, nicht instrumentalisieren, sondern zur Verfügung stehen - das war und ist das Leitmotiv [...].(S.71 ff.) In Sätzen wie diesen und in ihrem Bemühen um eine "gewaltfreie Kommunikation" beziehen sich die HerausgeberInnen auf Bourdieusche Methoden der Interviewführung, die ihre Herangehensweise prägen, ohne dass sie sich in theoretischen Erklärungen verlieren oder sich an alle von dieser Schule entworfenen methodischen Schritte halten.

Die Arbeiter werden zu ihrer Lebensgeschichte, dem Arbeitsalltag und seinen Veränderungen, ihrem Verhältnis zur Gewerkschaft und deren Rolle während des Kampfs befragt. Und natürlich zu ihrem eigenen Verhalten und ihrer Einschätzung der Auseinandersetzung. Sie erzählen von geplatzten Lebensplanungen, in deren Zentrum ein sicherer Fabrikjob stand, von enttäuschten Erwartungen, die sie in Gewerkschaft und Lokalpolitik hatten, von Versuchen, selbst aktiv zu werden, von zögerlichen und von radikalen Kollegen. Sie reflektieren und kritisieren sich selbst, die Situation, die Institutionen. Ganz unterschiedliche Weltsichten und Lebenssituationen werden nachvollziehbar. Aber bei allen Unterschieden formulieren sie alle einen Punkt: dass die Blockade der Restbestände an Karton früher und entschlossener hätte durchgezogen werden sollen. Ihre abwartende Haltung habe sie gegenüber ihren Vertretern nur noch mehr in der Defensive einzementiert. Das ist die gemeinsame Erfahrung, die eindeutige Lehre aus der Auseinandersetzung, niemand muss sie ihnen erklären. Gleichzeitig merkt man den Interviews auch an, wie die nun individualisierten Leute Schwierigkeiten damit haben, sie festzuhalten und das eben Kritisierte und die eigene Zurückhaltung zum Teil gleich wieder zu rechtfertigen versuchen. Das kennt jede/r von sich selbst, diese Widersprüchlichkeit kann nur in kollektiven Kämpfen zeitweise überwunden werden.

Die Herangehensweise ist also eher beobachtend (obwohl schon ab und zu auf Widersprüche hingewiesen oder auf andere Art zur Reflexion angeregt wird) und hat ihre Stärken, besonders angesichts der Gefahr, in bevormundendes Kommentieren zu verfallen oder den Interviewten die Worte in den Mund zu legen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob wir uns auf diese recht zurückhaltende Gesprächsweise beschränken oder offensiver mit den an solchen Aktionen Beteiligten diskutieren wollen. Die InterviewerInnen tauchen als Beteiligte, die selber politische Ideen haben, kaum auf Im anderen Teil des Buches dagegen stellen sie ihre eigene Analyse des Kampfes dar. Eine gemeinsame politische Diskussion hätte hier vielleicht weiter geführt und dabei geholfen, das Problem, wieweit sich externe UnterstützerInnen überhaupt in einen Arbeiterkampf einmischen dürfen, zu überwinden. Die Interviews in diese Richtung weiterzuentwickeln wäre eine Möglichkeit, über die Idee der "Unterstützung" von Kämpfen hinaus zu kommen und einen Prozess zu beginnen, in dem beide Seiten voneinander lernen, sich selbst verändern und in Frage stellen können und müssen.

An einer Stelle kommt ein Arbeiter auf die Externen zu sprechen. Es wäre interessant gewesen, dem mehr Raum zu geben: was haben die Arbeiter zu deren Rolle zu sagen, was für Kritik und Ideen bringen sie vor, wie kann die Zusammenarbeit das nächste Mal besser laufen? Denn was die UnterstützerInnen während des Konflikts konkret getan haben, wie die Zusammenarbeit und die Diskussionen in dieser Phase verlaufen sind, wie die Streikzeitungen hergestellt oder die vorgeführten Filme aufgenommen wurden, darüber erfährt man fast gar nichts.

Um die Kämpfe um Betriebsschließungen herum haben sich in den letzten Jahren verschiedene Netzwerke von UnterstützerInnen gebildet. Die Diskussion dreht sich darum, wie solche Kämpfe überhaupt erfolgreich sein können, wie sie sich ausweiten und aus der Defensive kommen: Welche Ziele können gesetzt werden, geht es um Abfindungen oder den Erhalt des Betriebes? Mit welchen Mitteln können diese Ziele erreicht werden, sollen wir besetzen, zum Boykott aufrufen, nach draußen gehen? Wie verhindern wir, dass externe UnterstützerInnen zu Lobbygruppen werden? Das Buch bildet den Stand der Debatte ab - wie wir damit einen Schritt weiterkommen bleibt weiter offen.


Netzwerk Arbeitskämpfe:
Der geplante Tod einer Fabrik
Bern 2010: apropos Verlag 223 Seiten, 10 Euro.
ISBN 978-3-905984-02-6

Raute

Tschechien: Angriff auf die Klasse bisher ohne Antwort

Die Jahre 1999-2008 waren in Tschechien durch bedeutende Veränderungen in der technischen Klassenzusammensetzung geprägt. Die Produktion der älteren Automobilhersteiler wurde weiter modernisiert oder expandierte (Skoda), neue Autohersteiler siedelten sich an (TPCA, Hyundai). Alle Zulieferer, die in die Produktionsketten der hiesigen oder der westeuropäischen (besonders der deutschen) Automobilwerke eingebunden sind, haben neue Werke in Tschechien gebaut. Der Export ist in diesen Jahren zum Motor des Wirtschaftswachstums geworden, er macht um die 80 Prozent davon aus.

Der Aufschwung war so stark, dass die Arbeitskräfteknappheit nach 2005 zur wichtigsten Bremse der weiteren Entwicklung wurde. Die Reallöhne sind in dieser Zeit bereits gestiegen, die Wahrscheinlichkeit, dass die ArbeiterInnen in dieser Situation anfangen würden zu kämpfen, war groß. Die Krise kam gerade rechtzeitig für das Kapital, um diese Gefahr abzuwenden.

2008/09 änderten sich die Bedingungen besonders in der Industrie stark. Die LeiharbeiterInnen (oft ArbeitsmigrantInnen) waren die ersten Betroffenen - sie wurden meistens einfach entlassen. Bald danach kamen die Stammbelegschaften an die Reihe. Kurzarbeit (aber ohne Lohnausgleich vom Staat), Entlassungen und Lohnstopp wurden zur Normalität. Die Arbeitslosigkeit ist wieder auf zehn Prozent gestiegen (noch 2008 waren es nur 4,4 Prozent). Einige Entlassene wurden inzwischen wieder eingestellt, aber bereits zu schlechteren Bedingungen. Die verschiedenen Formen der prekären Arbeit haben sich stark ausgeweitet, die Arbeitslosigkeit steigt trotz des erneuten, vor allem durch den "Aufschwung" in Deutschland getriebene Industriewachstums.

Kämpfe sind in dieser Situation praktisch keine entstanden. Die kurzen wilden Streiks bei Hyundai, Dymos und Grammer (Winter 2009/2010) gegen die schlechten Arbeitsbedingungen haben sich nicht weiterentwickelt.

Die tschechische Industrie ist 2010 um elf Prozent gewachsen, die Zahl der ArbeiterInnen ist aber um ein Prozent zurückgegangen. Das Produktionswachstum war allein exportorientiert; das Bauwesen ist um acht Prozent geschrumpft, die Nachfrage im Einzelhandel stagniert, die Inflation liegt bei etwa zwei Prozent. In der Slowakei ist die Situation sehr ähnlich. Die Tarifverhandlungen in der Industrie verlaufen bisher wie üblich.

Nach der politischen Zerlegung der ArbeiterInnen in der Industrie ging es in die zweite Runde. Spätestens seit Anfang 2010 machten Politiker mittels der Drohung "Griechenland" klar, dass massive Sparmaßnahmen geplant waren. Die Staatsverschuldung lag 2009 bei niedrigen 35 Prozent des BIP, das Haushaltsdefizit ist von 2,7 Prozent des BIP im Jahr 2008 auf 5,8 Prozent in 2009 gestiegen, oder anders gesagt: von 100 Milliarden Kronen auf 210 Milliarden. Der Grund dafür war besonders die Reduzierung der Arbeitgeberanteile an der Sozialversicherung und andere Steuersenkungen für das Kapital, die als Maßnahmen gegen die Krise dargestellt wurden.

Hinter dem Schlagwort vom Sparen steckt ein ganzer Komplex von Maßnahmen: vom Lohnabbau im öffentlichen Sektor über die Anhebung der Mehrwertsteuer bis zur Renten- und Gesundheitsreform. Diese Angriffe zielen auf die gesamte Klasse. Die Lohnkosten sollen so weit wie möglich gesenkt, die Konkurrenzfähigkeit der tschechischen Industrie gesteigert werden. Dabei wird auf eine Vertiefung der Exportorientierung gesetzt, die Inlandsnachfrage lässt man außer Acht.

Etwa 40.000 öffentlich Beschäftigte machten im September 2010 die größte und beste Demonstration in Prag in den letzten zehn Jahren.

Viele hatten eigene Transparente, die Stimmung war sehr gut und auch kämpferisch. Später hat sich leider gezeigt, dass das der Schwanengesang war: weiter ist nichts geschehen, die Leute haben alles an die Gewerkschaften delegiert. Die haben so lange verhandelt, bis die Regierung einfach die Löhne im öffentlichen Dienst um zehn Prozent gesenkt hat (gerade dagegen hatten die Leute im September demonstriert). Nur einen Tag später kam es im öffentlichen Dienst zu einem eintägigen Streik. Von ca. 650.000 Beschäftigten haben Angaben der Gewerkschaft nur 148.000 gestreikt, viele davon nur symbolisch. Den Streik hat kaum jemand bemerkt, und sogar in Prag und Brno waren bei den Streikversammlungen nicht mehr als 2000 Leute.

Das lag daran, dass die Gewerkschaften im Voraus bemüht waren, jeden Versuch der Selbstorganisation von unten zu verhindern (z.B. sollten Flugblätter oder Streikversammlungen von den Arbeitgebern genehmigt werden), außerdem waren die Leute wahrscheinlich nach einer schon beschlossenen Lohnsenkung nicht mehr motiviert zu kämpfen. Die anderen Aspekte der Reformen, die das proletarische Einkommen senken und die Arbeitbedingungen verschlechtern, wurden bis jetzt in Kämpfen nur wenig thematisiert.

Vom Klassenstandpunkt sieht die Lage nicht gut aus. Sogar die Abwehrkämpfe waren bis jetzt nur schwach und marginal. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Die ÄrztInnen in den öffentlichen Krankenhäusern haben 2010 mit einem Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen angefangen. Die Hauptforderung war eine Lohnerhöhung auf das anderthalb- bis dreifache des Durchschnittlohns. Dieser liegt bei fast 24.000 tschechischen Kronen, das sind 980 Euro (70 Prozent aller Arbeiterlöhne sind aber niedriger). Die ÄrztInnen verdienen im Durchschnitt um die 40.000 Kronen, die Hälfte davon ist allerdings die Vergütung von Überstunden. Junge ÄrztInnen haben viel niedrigere Löhne.

Weil ein Streik im Gesundheitswesen nicht so leicht durchführbar ist, haben sich die ÄrztInnen entschieden, ihre Kündigung anzudrohen und so zu "streiken". Ende 2010 haben tatsächlich ca. 4.000 der 16.000 ÄrztInnen in den öffentlichen Krankenhäusern ihre Kündigung eingereicht. Wären sie in Kraft getreten, hätte das ab März das gesamte Gesundheitswesen lahmgelegt. Für die Regierung hätte das das Aus sein können, die größte Gefahr wurde aber in der Möglichkeit gesehen, dass der Kampf auch auf andere Sektoren überspringen könnte.

Der Verlauf war umso spannender: Sehr schnell hat sich die Selbstaktivität besonders der jüngeren ÄrztInnen stark ausgeweitet. Die Gewerkschaften verhandelten, aber alles Grundlegende kam von unten. Die ÄrztInnen haben zur Organisierung und Kommunikation ihre persönlichen Beziehungen an den Unis, ihre Vernetzung über Konferenzen usw. genutzt Am Anfang hatten sie starken Rückhalt in der Öffentlichkeit, den sie allerdings allmählich verloren. Grund dafür war auch die größte Schwäche dieses Kampfes: die ÄrztInnen haben es fast völlig verpasst, sich mit den Schwestern zu verbinden. So konnte die Regierung den Vorwurf; die ÄrztInnen seien egoistisch und elitär, als Propaganda gegen den Kampf benutzen. Trotzdem haben mehr als 10.000 Schwestern eine Petition zur Unterstützung der ÄrztInnen unterschrieben.

Eine Woche bevor die kollektive Kündigung in Kraft getreten wäre haben die ÄrztInnen nun mit der Regierung verhandelt. Die Löhne werden um 5000 bis 8000 Kronen steigen und in zwei Jahren somit beim anderthalb- bis dreifachen des Durchschnittlohns ankommen. Trotzdem sahen es viele ÄrztInnen als Niederlage an, dass sie nicht so viel bekommen haben wie gefordert. Weil ein Teil der Kämpfenden diesen Kompromiss eingehen wollte und eine Spaltung verhindert werden sollte, wurde er angenommen.

Ob die Leute in anderen Sektoren es den Ärzten nachmachen, muss sich zeigen. Im Ausland findet die Aktion jedenfalls Widerhall: Die ÄrztInnen in der Slowakei und in Ungarn wollen angeblich ähnlich vorgehen.


d. von der tschechischen Gruppe Kollektiv gegen Kapital
(www.protikapitalu.org)


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen der Originalpublikation: Prag, 22.09.2010

Raute

Was bisher geschah

Griechenland

In der Wildcat 88 hatten wir geschrieben, der gesamte Text "Wir sind ein Bild der Zukunft" der Gruppe Les Habitants de la Lune sei im Buch "Wir sind ein Bild der Zukunft - auf der Straße schreiben wir Geschichte" (LAIKA-Verlag 2010) auf deutsch erschienen. Das war ein Irrtum, der Text findet sich in dem Buch nicht. In der Wildcat 87 hatten wir den Text auszugsweise veröffentlicht und besprochen, das LAIKA-Buch besprechen wir in der Wildcat 90.


*


Auto

Auf die Frage, wohin die ganzen Autos gehen, antworten Autoarbeiter in der BRD immer das gleiche. "Echt keine Ahnung, wer die ganzen Kisten eigentlich kauft, ich jedenfalls nicht." Die Produktion schwankt zwischen Sonder- und Freischichten, das einzig Dauerhafte sind die steigenden Stückzahlen in der Stunde. Es sei denn, es kommt zu kleinen wilden Streiks. Selbst Aktionen von 20-100 ArbeiterInnen, die "gemeinsam zum Betriebsrat gehen", haben Erfolg. Die Unternehmen geben wie Daimler in Sindelfingen sofort nach und erhöhen die Zeit pro Arbeitstakt oder stellen Arbeiter ein.

In allen Unternehmen gab es in den letzten Monaten einen "Modellwechsel" oder eine "Modellpflege". Überall wurde dabei mehr Arbeit durchgedrückt.

Eine widersprüchliche Stimmung liegt in der Luft. Einerseits haben noch alle die Einbrüche 2008 vor Augen und wissen, dass der Boom nicht dauerhaft sein wird. Andererseits hoffen die meisten, dass ihr Unternehmen/Modell nicht betroffen sein wird. Man wünscht sich den festen Job - und kann sich nicht vorstellen, die gestiegene Arbeitsbelastung auch nur zwei Jahre durchzuhalten.

Weltweit stagnieren die Absätze, die Unternehmen jagen sich gegenseitig Marktanteile ab, notfalls mit gewaltigen Rabatten, zinslosen Krediten, jahrelangen Werkstattgarantien, Leasingmodellen (für nicht zahlungsfähige Kunden) und sogar Bargeld auf die Hand! Die Rabatte werden über die staatlichen Subventionen finanziert. Parallel dazu wird die hiesige Produktion umgebaut, finanziert mit Krediten, die mit Papieren auf die "Umsätze" (= Kredite!) beim Autoverkauf gedeckt sind. Hier wächst eine Blase, die die Entwicklungen vor 2007/2008 übersteigt.

Kein Unternehmen kann darauf verzichten, auf den neuen Märkten in Asien, Russland und Lateinamerika neue Fabriken aufzubauen. Obwohl der Markt in China inzwischen deutlich langsamer wächst und alle wissen, dass in wenigen Jahren dort gewaltige Überkapazitäten bestehen werden, rennt die ganze Herde in wilder Flucht nach vorn.


*


Leiharbeit

Die Leiharbeit wächst weiter über ihr Niveau vor der Krise hinaus, 2011 sind fast eine Million LeiharbeiterInnen in der BRD beschäftigt. Dadurch kann weiterhin Druck auf alle Löhne ausgeübt werden: Preisbereinigt sanken die Durchschnittlöhne um 4,5 Prozent, angeblich vor allem durch die Kurzarbeit 2008/2009. Und der Lohnverlust von gekündigten ArbeiterInnen, die nun neu oder über Leiharbeit eingestellt werden, ist noch deutlich größer.

Die Unternehmen versuchen mit allen Mitteln, die alten Festangestellten in der Großindustrie auszuwechseln. "Kranke" bekommen z.B. Abfindungsangebote, und wenn sie diese nicht annehmen, wird eine Kündigung wegen "Industrieuntauglichkeit" angedroht. Das hohe Durchschnittsalter der Belegschaften spielt den Unternehmern zusätzlich in die Hände.

Die frei werdenden Arbeitsplätze müssen besetzt werden, Daimler und VW, aber auch andere Konzerne, kündigen Neueinstellungen an. Hier spielen die ab Mai geltende "Freizügigkeit" für osteuropäische Arbeitskräfte und andere Gesetzesentwürfe der EU eine Rolle, die den Arbeitskräfteeinsatz in multinationalen Konzernen neu regeln ausdrücklich mit der Möglichkeit, dass Konzerne ArbeiterInnen an einem "Billiglohnstandort" innerhalb der EU einstellen und an einem "Hochlohnstandort" arbeiten lassen können. Rumänische Renault- oder ungarische Daimler-ArbeiterInnen können also zu ihren heimischen Löhnen in Frankreich oder der BRD beschäftigt werden.

Die Gewerkschaften prangerten mit einem Aktionstag Ende Februar die Ausweitung der Leiharbeit an; sie fordern deren Neuregulierung. Die Kundgebungen waren schlecht besucht, Leiharbeiter und Festangestellte wissen, dass nur die Abschaffung der Leiharbeit die gegenseitige Erpressung beenden kann. Die Gewerkschaften verfolgen eine andere Logik: wieder einmal benutzen sie die Leiharbeit(er) als Verhandlungsmasse. Im kommenden Jahr läuft beispielsweise bei Daimler der Vertrag "Zukunftssicherung 2012" aus. Mit dessen Ende fällt der Lohnausgleich für die "alten" Festangestellten weg, den sie für die Herabstufung ihrer Lohngruppe im Zuge des Entgelt-Rahmenabkommens ERA 2003 bekommen haben. Auch betriebsbedingte Kündigungen werden wieder (offiziell) möglich. Bereits jetzt verhandeln die Gewerkschaften hinter verschlossenen Türen über eine Verlängerung der Vereinbarungen des Lohnausgleichs für ihre schwindenden Basis ("die alten Festen"). Im Gegenzug ist eine Erhöhung der Leiharbeitsquote im Gespräch. Den Unternehmen tut das kaum weh, denn "die Alten" werden in ein paar Jahren entweder rausgeekelt oder in Rente sein.

Außerdem kämpfen die großen Gewerkschaften um ihre Tarifhoheit. DGB und Verdi klagten vor dem Bundesarbeitsgericht gegen die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP). Ende 2010 hat nun das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass die CGZP nicht tariffähig ist und keine Tarifverträge mehr abschließen darf Auf die bestehenden Flächentarifverträge hat das keine Auswirkungen, weil die Mitgliedsgewerkschaften der CGZP diese mittlerweile direkt mit den Arbeitgeberverbänden abgeschlossen haben. Seit Anfang März ist nun aber auch klar, dass das Urteil rückwirkend gilt. Da LeiharbeiterInnen ohne gültigen Tarifvertrag den gleiche Lohn kriegen müssen wie die Festen, können alle Betroffenen die Differenz zwischen ihrem Lohn und dem der Festangestellten auch für die vergangenen Jahre einklagen. Wenn viele das tun, wird es teuer für die ca. 9000 betroffenen Sklavenhändler, zumal auch die Sozialkassen entsprechend höhere Beiträge geltend machen können! Je nach Arbeitsvertrag sind Nachforderungen allerdings zum Teil nur drei Monate nach Fälligkeit der Zahlungen möglich, ist das nicht der Fall gilt eine Frist von drei Jahren.

DGB-Tarifverträge erfüllen allerdings weiterhin die Funktion, die Gleichbezahlung auszuhebeln und die Stundenlöhne für Leiharbeit zu drücken.


*


Kommunen

2010 war für Städte und Gemeinden in Deutschland mit einem Gesamtdefizit von etwa 11 Mrd. Euro das schlechteste Jahr der Nachkriegsgeschichte. Eine wirkliche Verbesserung der finanziellen Situation ist nicht in Sicht. Die Gewerbesteuer als Haupteinnahmequelle der Kommunen hat 2010 mit 34,6 Mrd. Euro zwar geringfügig mehr eingebracht als 2009, das liegt aber noch 20 Prozent unter dem Niveau von 2008 vor der Krise. (Pressemitteilung des deutschen Städte- und Gemeindetages)

In NRW ist fastjede dritte Kommune in einen Nothaushalt gezwungen. Viele Städte befinden sich schon seit Anfang der 90er unter Spardruck und entdeckten damals schon Kassenkredite als Mittel der Finanzierung. Die aktuelle Situation ist völlig aussichtslos. In vielen Städten wird schon soviel gespart, dass weitere Einschnitte fast nicht mehr vorstellbar sind, aber aufjeden Fall die Lebensqualität stark einschränken (Nachtbusverkehr ab 21 Uhr!). Die Infrastruktur ist in den letzten Jahrzehnten verbraucht worden, es müsste hier massive Investitionen geben (75 Mrd. pro Jahr werden geschätzt). Die Pflichtausgaben wie Wohnkostenübernahme für Hartz-IV-BezieherInnen, Altersgrundsicherung und ihr den Ausbau der Kinderbetreuung steigen weiter an. Dabei wurden massiv Kosten vom Bund auf die Kommunen abgeschoben, der Anteil des Bundes bei den Wohnkostenzuschüssen lag am Anfang noch bei 30 Prozent und beträgt nun nur noch 23 Prozent. Teilweise führt das zu absurden Haushaltsentwicklungen. Die Finanzierung des vom Bund beschlossenen Ausbaus garantierter Kindergartenplätze führte in Dortmund dazu, dass ausgerechnet der Etat des von Kürzungen besonders stark betroffenen Kinder- und Jugendbereichs stark anstieg. Insgesamt machen die den Kommunen vom Bund aufgezwungenen Kosten inzwischen 50 Prozent der Ausgaben aus.

Aufgrund der Lage sah sich das Land genötigt, seine Mittelvergabe an die Kommunen neu zu strukturieren, was dazu führte, dass gerade kleinere bisher problemfreie Gemeinden nun auch große Defizite haben. Viele Kommunen wissen sich in dieser Situation nicht mehr anders zu helfen als gegen die Gemeindefinanzierung zu klagen. Allein in NRW beteiligen sich etwa 200 Kommunen an solchen Klagen.

Trotzdem waren in letzter Zeit ein paar Hoffnungsfunken entstanden. Der Bund wird ab 2014 die Kosten der Altersgrundsicherung übernehmen. Das Land NRW hatte im Nachtragshaushalt 2010 etwa 600 Millionen Euro zur Entlastung der Kommunen vorgesehen, ab 2011 sollte nochmal ein Drittel mehr zur Verfügung stehen. Doch Mitte März erklärte das Verfassungsgericht Münster den Nachtragshaushalt 2010 ihr verfassungswidrig, weil es keine anhaltende Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise gegeben sieht. Nach diesem Urteil stehen die Zahlungen des Landes in Frage, und wenn sie doch kommen sollten, werden sie sich wohl um ein halbes Jahr verschieben.

Ein weiteres Problem ist das schon jetzt steigende Zinsniveau, das sich noch einmal drastisch erhöhen wird, sollten sich die Ratings der Städte verschlechtern. Es gibt viel Spekulation darüber, dass dies in Kürze bevorstehen könnte, einzelne Städten wie Remscheid haben jetzt schon große Schwierigkeiten Kredite zu bekommen.


*


Sabotage bei Fiat in Tychy

Als Fiat-Chef Marchionne im Juli 2010 die Belegschaft im italienischen Werk Pomigliano d'Arco zur Annahme drastisch schlechterer Arbeitsbedingungen erpresste (u.a. 3-Schicht- statt 2-Schicht-Betrieb, Samstag als Regelarbeitstag), wurde auch damit argumentiert, dass solche Bedingungen im polnischen Fiat-Werk Tychy schon lange herrschen.

Im Werk in Tychy arbeiten über 6000 Leute, davon 800 mit befristeten Verträgen. In der Produktion werden je nach Zahl der Schichten und Zuschlägen monatliche Nettolöhne um die 2000 Zloty (500 Euro) gezahlt.

Obwohl das Werk als das produktivste des Konzerns gilt, wurden umgekehrt auch die ArbeiterInnen in Tychy durch Verlagerungsdrohungen (zurück nach Italien oder ins frisch übernommene Werk im serbischen Kragujevac) unter Druck gesetzt. Im Juni riefen anonyme "Fiat-ArbeiterInnen aus Tychy" die ArbeiterInnen in Pomigliano in einem offenen Brief zu gemeinsamem Handeln gegen die Kapitalisten auf. Der Brief erschien in englischer Übersetzung auf www.libcom.org(1), wurde dann auf italienisch von den linken Tageszeitungen Manifesto und Liberazione abgedruckt und schaffte es auf diesem Weg ins Werk in Pomigliano. Das erregte so viel Aufsehen, dass der Brief dann rückübersetzt von der auflagenstarken Gazeta Wyborcza in Polen verbreitet wurde.

Nachdem im Dezember 2010 die Weihnachtsprämie gestrichen wurde und im Januar durch Produktionsausfälle und Feiertage sämtliche Überstunden wegfielen und die meisten Leute nur auf etwa 1600 Zloty netto kamen, wurden in der Nacht auf den 11. Februar auf breiter Front Sabotageaktionen durchgeführt (s. Zusammenfassung aus der Presse unten).

Im Internetforum der Lokalzeitung Dziennik Zachodni meldeten sich zahlreiche ArbeiterInnen aus dem Werk zu Wort - fast alle äußerten sich positiv bis begeistert über die Sabotageaktion. In den Forumsbeiträgen wird das Werk immer wieder als "Arbeitslager" bezeichnet. Dieses Wort war auch auf Transparenten zu lesen, mit denen Gewerkschafter aus Tychy im September 2010 in Warschau protestierten, als dem Werksdirektor ein "Qualitätspreis" verliehen wurde.

Die Gewerkschaften (die "rechte" Solidarnosc wie die "linke" Sierpien 80) im Werk haben sich von den Sabotageaktionen erwartungsgemäß scharf distanziert. Nach Angaben eines anarchistischen Genossen aus dem Werk(2) gibt es dort mindestens zwei klandestine Gruppen: den "Undergrund-Widerstand" und die "Geheimkommission der Solidarnosc". Auch diese haben sich nicht zu den Aktionen bekannt. Die Geschäftsleitung möchte den Vorfall am liebsten totschweigen und hat darauf verzichtet, Sündenböcke zu präsentieren.


Während der Nachtschicht von Donnerstag auf Freitag wurden bei bis zu 300 frisch vom Band gelaufenen Autos tiefe Dellen im Dach und Kratzer in den Türen entdeckt. In einige Motoren sollen Schrauben geworfen, Auspuffe beschädigt und auch elektrische Kabel durchgeschnitten oder herausgerissen worden seien. Die Direktion sucht nach den Schuldigen. Inoffiziell hieß es, dass die Aufnahmen der Überwachungskameras ausgewertet werden.

"Das waren kein Unfälle. Bisher hatten wir nur gelegentlich mal Blechschäden", sagt ein Fiat-Arbeiter, der anonym bleiben will.

"Ich arbeite hier seit 35 Jahren, und sowas gab es noch nie. Ich selbst habe mindestens 80 beschädigte Autos auf dem Parkplatz gesehen. Wir unterstützen solche Aktionen nicht. Aber wir haben die Geschäftsführung oft gewarnt, dass es irgendwann soweit kommt", so Franciszek Gierot, Sierpien-80-Chef im Werk in Tychy. "Es gibt auch Gründe. Ständig wird mit Personalabbau gedroht. Ständig bekommen die Leute von ihren Vorgesetzten zu hören: Ich entlasse dich."

Wanda Strozyk, Solidarnosc-Chefin bei Fiat, sieht als Grund für die Unzufriedenheit auch die niedrigen Löhne. "Die Arbeiter bekommen Stundenlöhne, keine Monatsgehälter, und im Januar gab es viele Feiertage und freie Tage".

Die Geschäftsführung wollte die Sabotageaktionen nicht bestätigen. Der Rzeczpospolita liegen aber E-Mails von Werkschutzleitung und Schichtleitern vor: So schrieb ein Manager aus der Endmontage am Freitag um 3.20 Uhr morgens: "Hier nur ein paar Fotos. Der Leiter des Werkschutzes und der Chef der Qualitätssicherung hier bei mir haben es mitgekriegt." Ein anderer Manager am Freitag um 6.10 Uhr: "Ab sofort werden Werkschutzleitung und Leitung der Qualitätssicherung an ihren Abschnitten prüfen und aufpassen (an den Bändern entlang laufen). Alle achten besonders auf Beschädigungen an Karosserien und anderen Fahrzeugteilen und versuchen einzugrenzen, wo diese Beschädigungen stattgefunden haben könnten. In der 2. und 3. Schicht gab es sehr viele solche Beschädigungen."

Die Fabrik in Tychy ist das größte Fiat-Werk in Europa. Hier werden täglich 2300 Autos produziert, u.a. der Fiat Panda, der Fiat 500 und der Ford Ka. 95 Prozent der Produktion gehen in den Export. Die weltweite Krise hat das Werk verschont. Während andere Autowerke Rückgänge verkraften mussten, wurden in Tychy Produktion und Beschäftigung ausgeweitet. 2009 wurde mit über 600.000 Autos gar ein neuer Rekord aufgestellt.(3)


Quellen

(1) http://libcom.org/news/letter-fiat-14062010

(2) www.pracownik.net.pl/interview_with_a_worker_from_fiat_tychy

(3) Zusammengefasst aus: Co sie zdarzylo w tyskim Fiacie, www.rp.pl sowie Sabotaz w tyskim Fiacie, www.dziennikzachodni.pl (11.2.2011)

Raute

Impressum:

Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller - wildcat

Abo: 6 Ausgaben (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 18 € / Ausland 30 €
Förderabo 30 €
Einzelheft: Deutschland und Österreich 4 €
sonstiges Ausland 5 € (zzgl. Versand)
Für WeiterverkäuferInnen:
8 Exemplare des aktuellen Heftes
Deutschland und Österreich 16 €
sonstiges Ausland 20 € (incl. Versand)

Bestellung per
Brief: Wildcat, Postfach 80 10 43, 51010 Köln
E-Mail: versand@wildcat-www.de
oder per Aboformular auf unserer Webseite.

Kontakt: redaktion@wildcat-www.de

Archiv und Aktuelles
www.wildcat-www.de


*


Quelle:
Wildcat 89 - Frühjahr 2011
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2011