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BERICHT/121: Computerspiele - Mitspielen oder Verbieten (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2008

Mitspielen statt Verbieten
Warum Eltern mehr über Computerspiele lernen müssen

Götz Hamann


Der regelmäßige Ruf nach gesetzlichen Verboten angesichts sogenannter Killerspiele greift zu kurz. Er verkennt die Bedeutung, die Computerspiele für Jugendliche haben. Stattdessen bedarf es kompetenter Eltern, die in der Lage sind, den schädlichen Wirkungen von Computerspielen entgegenzuwirken.


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Der Name des Computerspiels könnte nicht besser passen: 'Crysis'. Schon mehr als ein Jahr vor dem Start hat es Jugendliche zu Zehntausenden in seinen Bann gezogen. Bildserien, Video-Mitschnitte, Interviews und Testberichte wurden verschlungen wie vor vierzig Jahren Berichte über die Rolling Stones. In jeder Hinsicht belegt gerade dieses Action-Spiel, dass eine neue Popkultur entstanden ist.

Die Nachfolger von Musik- und Theaterkritikern, gemeint sind die Bewerter von Computerspielen, loben 'Crysis' in den höchsten Tönen. Es gab einen Preis nach dem anderen, mal wegen der Grafik, dann wegen der Spielführung und natürlich für das Gesamtwerk.

So eine offensichtliche und umfassende Faszination, wie sie 'Crysis' auslöst, stürzt viele Eltern wortwörtlich in die Krise. Verbieten oder laufen lassen? Oder etwa mitmachen? 'Crysis' ist ein Abenteuer um Außerirdische, die auf einer Insel in der chinesischen Südsee einen Angriff auf die Menschheit vorbereiten. Dass die Insel deshalb zu einem grellen Kampf- und Kriegsschauplatz wird, wo Menschen und Aliens zuhauf und möglichst plastisch sterben, kann sich jeder denken.

Kurze Zeit nach dem Erscheinen des Spiels wurde bekannt, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann in Computerspielen ein Kulturgut sieht und die Entwicklung pädagogisch wertvoller Spiele jährlich mit bis zu 300.000 Euro fördern will. Was er sich da vorstellt, ist nicht erkennbar. Aber Neumann drückt etwas aus, ohne es sagen zu müssen. Er kann Computerspiele nicht verbieten lassen, also will er wenigstens die Kreativität der Entwickler lenken. Seine Botschaft lautet "Mitmachen", damit Computerspiele irgendwann im wohlverstandenen Sinne lehrreich werden oder wenigstens das, was die Rolling Stones heute ausschließlich sind: nette Unterhaltung.


Identitätsstiftendes Unterhaltungsmedium

Um zu verstehen, warum staatliches Geld in die Förderung von Computerspielen gehen soll, muss man noch einmal der Frage nachgehen, warum Computerspiele so einen Sog auslösen. Denn sie sind zweifellos ein Massenmedium geworden. Im Guten wie im Schlechten. Für viele Jungen sind sie das wichtigste Medium überhaupt, und für Mädchen werden sie es zunehmend auch: Rund 70 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren spielen gelegentlich. Fast 40 Prozent tauchen intensiv und nahezu täglich in sie ein.

Computerspiele unterhalten, natürlich, aber da ist mehr: Sie bieten den Jugendlichen, was sie sonst nur schwer finden: Sie können sich durch das Spielen von ihren Eltern abgrenzen. Es ist ein fast idealer Ort, um sich zurückzuziehen. Wo sonst, wenn nicht im Internet, kann die Suche nach sich selbst so elternfern stattfinden wie alleine oder mit Freunden beim Computerspiel? Der Wissenschaftler Christoph Klimmt zieht aus seinen Forschungen den Schluss, dass Computerspiele zur Grundlage einer "jugendlichen Subkultur" geworden seien, die Gemeinschaft erzeuge und gleichzeitig identitätsstiftend wirke.

Grund genug haben die Heranwachsenden. Im Alltag machen ihre Eltern ihnen mit ihrer zur Schau getragenen Jugendlichkeit die Jugend streitig. Kein Platz auf dieser Erde blieb von ihnen unentdeckt. Während die Großeltern die institutionalisierte, politische Reformbewegung sind, haben sich die Eltern im Privaten breit gemacht, als totale Individualisten und Egomanen. Doch bei Computerspielen können die meisten nicht folgen. Erst wollen sie nicht, später können sie es nicht mehr ohne Weiteres. Das ist schon an der Lautstärke zu erkennen, in der Väter und Mütter in vielen Familien versuchen, "nur noch eine halbe Stunde von diesem Mist" zuzulassen. Spätestens in diesem Moment erkennen die jugendlichen Spieler, dass sie ihren Eltern weit entflohen sind: als aufrechte Kämpfer, Gesetzeshüter und Soldaten, als Söldner, Verbrecher, zynische Geheimagenten und Psychopathen.

Als Massenmedium funktionieren Computerspiele wie Fernsehen und Kino. Niemand glaubt, dass sie die Wirklichkeit widerspiegeln. Aber jeder weiß, dass sie Rollenmuster und -vorbilder anbieten und auf diese Weise eben auch Werte für den Alltag vermitteln. Regisseure verarbeiten die Themen ihrer Zeit in fiktiven Geschichten und tragen dazu bei, dass eine Gesellschaft in einen Diskurs mit sich selbst eintritt. Auch Computerspiele besitzen zunehmend diese Funktion, weil sie sich in eine Art individuelles Kinoerlebnis verwandelt haben. Verstärkt und beschleunigt wird dieser Trend, weil Hollywood-Regisseure wie Steven Spielberg und Peter Jackson beginnen, ihre Kunst auf Computerspiele zu übertragen. Längst ist die Handlung in den aufwändig produzierten Spielen in eine filmische Rahmenhandlung eingebettet, und insofern zählt nicht mehr nur der Level, sondern auch die Geschichte, was die suggestive Kraft des Mediums stärkt - und damit auch ihr Angebot an sozialen Rollenmustern.


Mitspielen statt Verbieten

Eltern ahnen das und ertragen deshalb so schwer, dass sie nicht wirklich wissen, was im Zimmer der eigenen Kinder vorgeht. Sie müssen erdulden, wenn ihre Söhne wie weggetreten am Tisch sitzen, weil sie sich so lange auf ein Computerspiel konzentriert haben, und auch noch von verschlossenen Welten sprechen.

Der beste Weg, das zu ändern, ist, mitzuspielen. Es hilft nichts. Eltern müssen selbst ran. Ran an Tastatur und Handsteuerung. So wie Väter und Mütter jahrzehntelang den Fernsehkonsum ihrer Kinder kontrolliert haben, so müssen sie sich heute mit Computerspielen auseinandersetzen. Das heißt nicht, dass sie besser spielen lernen sollen als ihre Kinder, was ohnehin nie gelingen wird. Um mitreden zu können, reichen Grundfertigkeiten, und die kann man leicht erlernen.

Weil das aber bisher so selten geschieht, schwelt eine Debatte darüber, wie schädlich die neue Popkultur für einzelne Jugendliche und für die Gesellschaft ist? Wie sehr können Spiele das Seelengleichgewicht verändern, wie sehr manipulieren sie? Im Prinzip ist es die alte Medien-Kultur-Debatte. Sie wurde vor etwa hundert Jahren geführt, als das Kino aufkam, rankte sich um die politisch-propagandistische Macht des Radios in den 20er und 30er Jahren, setzte sich fort in Sex- und Moraldebatten in der Hochzeit der Pop- und Rockmusik und ist rund ums Fernsehen nie ganz verstummt.

Bei Computerspielen dominiert die Gewaltdebatte. Und das nicht ohne Grund. Computerspiele, in denen man kämpfen, schießen, meucheln, bomben und zerstören muss, um voranzukommen, sind die Königsdisziplin unter Entwicklern und Herstellern. Hier werden die neuesten Programmier-Techniken eingesetzt und besonders viele, aufwändige Spiele entwickelt. Noch dazu sind diese Spiele die Treiber für die Hardware-Konzerne, für Intel und Co. Sichtbar ist zwar, dass die Branche in den vergangenen Jahren viele neue Spielideen ausprobiert und beworben hat, um Gelegenheitsspieler zu erreichen und natürlich die Mädchen und die Senioren. Im Kern gilt aber weiterhin: Die Familie mag gemeinsam am Bildschirm Fußball spielen oder Hasen jagen, aber nebenan wird die Kanone ausgepackt, wird das Messer gezückt.

Dem müssen sich Eltern stellen. Sie müssen sich selbst einen Überblick im Zimmer ihrer Kinder verschaffen und vor allen dafür sorgen, dass Kinder nicht mit Spielen hantieren, die nur für Erwachsene gedacht sind. Erkennen können sie es daran, dass entweder keine Altersempfehlung auf dem Spiel zu finden ist oder dass immerhin ein Siegel der umstrittenen Unabhängigen Selbstkontrolle (USK) darauf prangt. Man könnte meinen, das sei selbstverständlich. Ist es aber nicht. Laut einer Untersuchung aus dem vergangenen Jahr hat jeder zweite Junge im Alter von zehn Jahren schon Spiele genutzt, die erst ab 16 Jahren oder ab 18 Jahren freigegeben waren.

Wissenschaftliche Studien weisen zwar darauf hin, dass das Spielen eines Computerspiels statistisch gesehen keine Spannung erzeugt, die sich hinterher mit hoher Wahrscheinlichkeit in Gewalt entlädt. Aber es gibt einige Fälle, in denen das geschehen ist. Jugendliche haben schon Gewalttaten begangen und die Vorbilder dafür in Computerspielen gefunden. Und fast immer waren diese Jugendlichen vereinsamt, labil, in einer Krise, durch familiäre Konflikte belastet oder sogar psychisch krank. Insofern ist die Kontrolle des Medienkonsums nur Teil einer elterlichen Gesamtverantwortung.


Verlässliche Hilfe für Eltern

Der Staat wird kurzfristig nur wenig helfen können. Die Initiative des Kulturstaatsministers ist ein Versuch, alternative Spielideen zu fördern. Aber was sind 300.000 Euro im Jahr gegen Entwicklungskosten für Spiele wie 'Crysis', die leicht 20 Millionen Euro übersteigen? Und ein Verbot von Ego-Shootern und vergleichbaren Spielen ist nicht zu erwarten.

Besorgten Eltern wäre auch gedient, wenn es eine Institution gäbe, auf die sie sich verlassen könnten. Die ihnen mehr Hinweise böte als das bisherige Siegel der Unabhängigen Selbstkontrolle. Im vergangenen Jahr hatte der Kriminologe Christian Pfeiffer aus Hannover versucht, eine Debatte um die Kriterien der USK anzustoßen. Nach einem von ihm entwickelten Bewertungsschema waren fast 40 Prozent der untersuchten Spiele von der USK falsch eingestuft und zu früh freigegeben worden. Doch aus dem Anstoß ist nichts Gravierendes gefolgt, dabei ist es genau das, was wirklich helfen könnte: eine Institution, die eine Alterseinstufung mit einer pädagogischen Empfehlung kombinieren würde, die sich auf junge, medienunerfahrene oder labile Heranwachsende bezieht. Aber das ist, wie gesagt, nicht in Sicht.

So eine Institution könnte aufklärend auch zu einer zweiten Frage beitragen, die mit Computerspielen und ausuferndem Konsum audiovisueller Medien insgesamt verbunden ist: Machen sie dumm? Langzeitstudien in den USA und in Neuseeland haben längst zu Tage gefördert: Wenn Kinder und Jugendliche mehr als drei Stunden täglich fernsehen (oder eben in Computerspielen versinken), fallen sie in der Schule zurück. Dauert dieser Zustand über Jahre an, schadet es ihrer geistigen Entwicklung, den talentierten genau so wie denen, denen das Lernen ohnehin schwerer fällt. Nur hat es für letztere die härteren Konsequenzen. Die intelligenten Kinder mit hohem Medienkonsum schaffen es trotzdem an die Universität oder in eine ordentliche Ausbildung. Die Mittelbegabten hingegen leiden auf lange Sicht am meisten, weil ihr andauernder Medienkonsum sie um einen merklichen Teil ihrer beruflichen Karrierechancen bringt.

Andererseits haben Wissenschaftler auch positive Effekte von Computerspielen gemessen. Chirurgen etwa, die viel am Computer spielen, sind die besseren minimalinvasiven Operateure. Wer sich in virtuellen Welten bewegt, übt das dreidimensionale Vorstellungsvermögen. Außerdem vermitteln viele Spiele die Werte der Leistungsgesellschaft. Wer eine Aufgabe erfüllt, steigt auf, aber nur wer sorgfältig und gewissenhaft, schnell und effizient ist, dem gelingt es. Andere Spiele wiederum fördern das strategische und analytische Denken. Auch in dieser Hinsicht gilt also: Nur wenn Eltern ein Basiswissen über Computerspiele mitbringen, können sie die richtigen Entscheidungen treffen.


Götz Hamann (*1969) ist seit 2000 Wirtschaftsredakteur bei der 'Zeit' in Hamburg. 2004 erschien 'Die Strippenzieher. Manager, Minister, Medien - wie Deutschland heute regiert wird' (gemeinsam mit Cerstin Gamelin).


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2008, S. 58-61
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2008