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FESTIVAL/325: Festhalten, wie die Zeit vergeht - Bericht von der 64. Berlinale (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Festhalten, wie die Zeit vergeht
Bericht von den 64. Internationalen Filmfestspielen Berlin

Von Ilse Eichenbrenner



24 Februare

Die letzte Berlinale vor meinem Ruhestand: Das letzte Mal die manische Schubkraft vor dem Beginn der Berlinale nutzen, um den Aktenschrank leer zu kriegen, aufgeschobene Entscheidungen zu treffen, den Kollegen Tschüss zu sagen. Zwei Dutzend Akkreditierungen, 24 x 10 überfüllte Tage im Februar habe ich erleben dürfen.

Wie schnell ist die Zeit vergangen, wie wenig und doch so viel hat sich verändert. 1990 bin ich mit der S-Bahn zur »schwangeren Auster« gefahren und habe mir in den langen Pausen zwischen den Filmen den winterlichen Tiergarten erwandert. In späteren Jahren hastete ich zwischen Hansaplatz, dem Olympia und dem Delphi hin und her. Ich lernte immer wieder andere Hotels kennen, in denen das Pressezentrum einquartiert war; ich raste zu Pressekonferenzen und leerte mein kostbares Pressefach. Viele Spielstätten existieren nicht mehr oder sind wieder auferstanden: der wunderbare Zoopalast! Besonders einschneidend war der Umzug zum Potsdamer Platz. Seither ist es möglich von der ersten Vorstellung im Wettbewerb um 9 Uhr im Berlinale-Palast bis zum späten Abend quasi nonstop vor der Leinwand zu sitzen. Tupperdosen mit Stullen und ausgewählten Süßigkeiten, Taschentücher und Hustenbonbons gehören zum Survival-Set.

Die jedes Jahr neu gestaltete Umhängetasche gab es noch 1990 exklusiv nur für die Akkreditierten; sie war heiß begehrtes Mitbringsel und riesengroß. Das war auch gut so, denn außer dem dicken Katalog und dem Programmheft musste jede Hochglanzbroschüre, jedes Pressefoto und jede Werbemappe eingepackt werden. Ein paar Stunden lang habe ich sortiert und geschnibbelt; mit dem Ende der Berlinale wurde der Umschlag nach Köln geschickt, und unser Grafiker Hans Schlimbach pickte sich heraus, was ihm für das alljährlich hoch gelobte Berlinale-Layout zu passen schien.

Jede Berlinale endet mit der Verleihung der Bären, dem Publikumstag am Sonntag und meiner postberlinalen Depression. Der Montag ist für meine Berichterstattung reserviert. Umfang und Format sind seit 24 Jahren unverändert; per Post, per Fax und inzwischen natürlich per E-Mail wird Filmknäcke nach Köln gebeamt. Ich schneide keine Fotos mehr aus, sondern lade Filmstills herunter und speichere sie auf dem gewünschten Medium. Wenn alles gut geht - und dank Michaela Hoffmann ging es immer gut -, dann kann ich nach der fristgerechten Einsendung meiner Berichterstattung im nächsten Herbst eine weitere Akkreditierung ernten, um 2015 ganz unbeschwert zum Potsdamer Platz zu fahren. Ich stecke nur mein Smartphone in die Tasche, denn hier ist mein ganzes Programm, sind meine Favoriten und alle Inhaltsangaben jederzeit abrufbar. Hier mache ich meine Notizen. Denn ich möchte sie so gerne festhalten, diese kostbaren Tage im Februar.

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»52 Tuesdays«

Die 16-jährige Billie lebt gemeinsam mit ihrem Bruder Harry bei der Mutter; die Eltern haben sich schon lange getrennt. Nun will sich die Mutter einer Geschlechtsanpassung unterziehen - so zumindest ist dieser einschneidende Prozess im Katalog etwas euphemistisch beschrieben. James, so will Billies Mutter zukünftig heißen, rechnet mit einem schwierigen Jahr. In dieser Zeit soll Billie bei ihrem Vater leben. Nur einmal pro Woche - an jedem Dienstag - werden sich Mutter und Tochter für ein paar Stunden treffen. Die Mutter schneidet sich die Haare ab und beginnt mit der Hormonbehandlung. Sie gerät in heftige Krisen und unterzieht sich dann doch der entscheidenden Operation. Doch auch Billie experimentiert mit Videotagebüchern und verändert sich dabei; sie verbringt viel Zeit mit einem Pärchen und versucht herauszufinden, wie ihr zukünftiges Liebesleben aussehen soll.

Die Filmcrew hat sich auch im realen Leben in wöchentlichem Abstand jeweils dienstags zu den Dreharbeiten getroffen, sodass sich auch die echten Protagonisten im Laufe dieses Jahres »wirklich« verändert haben. Dieser australische Spielfilm - auf der Schwelle vom Jugend- zum Erwachsenenfilm - bewältigt sein schwieriges Thema mit höchster Sensibilität. Er ist ungeheuer schnell und witzig, provozierend und ein wenig sentimental. Zu Recht hat »52 Tuesdays« den Gläsernen Bären als bester Film der Sektion Generation gewonnen. Filmstart noch unbekannt.

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»Boyhood«: 12 Jahre im Leben eines Jungen

Schon 2002 hat sich Richard Linklater vorgenommen, die Zeit festzuhalten. Jährlich einmal hat er eine feste Crew drei Tage lang zu Dreharbeiten einberufen, unter ihnen seine Tochter Lorelei Linkwater. Sie verkörpert die ältere Schwester des kleinen Mason, der bei Beginn der Dreharbeiten sechs Jahre alt ist. Er steht im Zentrum dieser atemberaubenden fiktiv-authentischen Langzeitbeobachtung. Sein nie ganz erwachsen werdender und getrennt lebender Vater wird gespielt von Ethan Hawke; seine fürsorgliche Mutter (Patricia Arquette) gerät immer wieder an die falschen Männer.

Besonders authentisch sind die Zeiten, in denen sie mit ihrem Psychologie-Prof und dessen beiden Kindern zusammenzieht. Der despotische Alkoholiker terrorisiert die ganze Familie, bis zur abrupten Flucht und der nächsten fatalen Beziehung. Besonders spannend ist es, dem kleinen Mason und seiner Schwester beim Wachsen und Erwachsenwerden zuzuschauen. Haare werden kürzer und länger, Telefone kleiner und Bildschirme größer, und die Stimmen tiefer. »Boyhood« hat in die Berlinale eingeschlagen wie ein Blitz; dass er nur den Silbernen Bären für die beste Regie und nicht den Goldenen Bären gewonnen hat, das werden die Kritiker dieser Jury niemals verzeihen. Im Laufe des Jahres wird er in unsere Kinos kommen.

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Die 14 Bilder des Kreuzwegs

Nicht am Zyklus des Kalenders oder der Jahreszeiten, sondern an den Stationen des Kreuzwegs Jesu orientiert sich dieser karge Wettbewerbsbeitrag »Kreuzweg«, für dessen Drehbuch die Geschwister Anna und Dietrich Brüggemann einen Silbernen Bären erhalten haben. Maria ist 14 Jahre alt; sie wächst in einer Familie auf, die sich ganz den strengen Regeln der katholischen Pius-Bruderschaft unterworfen hat. Der Film beginnt mit einem Unterricht zur Vorbereitung auf die Firmung. Freundlich, aber sehr akzentuiert fordert der junge Pfarrer (Florian Stetter) die Schüler auf, Soldaten Jesu zu werden, indem sie sich für ihn einsetzen, das Böse bekämpfen und Opfer bringen. Als Maria gegen Ende der Stunde nach einem der Kekse auf dem Teller greift, meint der Pfarrer: »Vielleicht ist es genau dieser Keks, auf den du verzichten solltest.« Anna möchte alles richtig machen, sie möchte sich Jesus ganz und gar hingeben, um ihren behinderten kleinen Bruder, der noch immer kein einziges Wort spricht, zu heilen. Überall lauert die Versuchung; als ein Schüler aus der Parallelklasse sie einlädt, in seinem Kirchenchor Gospels zu singen, führt dies zu einer Fülle von Vorwürfen und Verdächtigungen der strengen Mutter. Maria wird krank, und der Hausarzt ahnt, was hinter ihrem allmählichen Verfall stecken könnte. Er ruft einen Krankenwagen und lässt sie einweisen. Maria ist nicht mehr zu retten. Die Familie steht um das Sterbebett, und der kleine Bruder spricht sein erstes Wort.

Das blasse Gesicht der jugendlichen Darstellerin der Maria, Lea van Acken, bleibt noch lange im Gedächtnis.

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Winter, Frühling, Sommer, Herbst und Winter bei den Roma

Auf einem Hügel am Rand der rumänischen Kreisstadt Sfântu Gheorghe liegt ein Romadorf, das von den beiden Filmemachern Christiane Schmidt und Didier Guillain seit vielen Jahren privat besucht wird. Es sind Freundschaften entstanden, sie wurden Paten der Neugeborenen. Dieser Beziehung ist ein ungewöhnlich tiefer Einblick zu verdanken. In ihrem Projekt beobachten sie das mühsame Überleben der Mitglieder dieser Dorfgemeinschaft, beginnend im Winter und endend im Winter. Mit dem Pferdegespann und zu Fuß ziehen sie in den Wald, suchen und schlagen unentwegt Holz zum Heizen und schleifen es zurück ins Dorf. Erwachsene und Kinder sammeln Pilze, Beeren und Wildkräuter. Nur noch zur Kartoffelernte werden einige von ihnen im Spätsommer als Saisonarbeiter abgeholt und bezahlt. Die Dorfbewohner sind Mitglieder der 7-Tage-Adventisten und tiefgläubig. Der Dokumentarfilm »The Forest Is Like the Mountains« erzählt in wunderbar ruhigen, unspektakulären Bildern vom Alltag der Roma, abseits von Pogromen und Zigeuner-Klischees.

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Zwei Schuljahre

Lehrer Christian Zingg trägt immer ein Lachen im Gesicht. So begrüßt er auch die neuen Schüler seiner Integrationsklasse in Basel. Sie kommen aus Serbien, Afghanistan, Kamerun, Äthiopien und Venezuela und wollen in der Schweiz bleiben. Sie sind Asylbewerber und sprechen nur wenige Brocken Deutsch; Schwyzerdütsch verstehen sie nicht. Während der zweijährigen Schulphase versucht der engagierte Lehrer, sie in die Kultur und die Regeln ihrer neuen Heimat einzuführen. Er versucht sie auf eine Berufsausbildung vorzubereiten, der die meisten wegen ihrer defizitären Schulbildung nicht gewachsen sind. Er versucht ihnen mit Rollenspielen Mut zu machen; er baut Vertrauen auf und enttäuscht Hoffnungen. Nach der Projektion des Dokumentarfilms »Neuland«, der den »First Steps Award« gewonnen hat, beklagt Lehrer Zingg, dass es in der Schweiz eine enorme Tendenz zur Akademisierung aller Berufe gibt. Das kommt uns bekannt vor. Der Start im neuen Land scheitert nicht nur, aber auch an diesen Hürden.

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Der lange Weg ins Leben

Auf dieser Berlinale blieb meine Suche nach den psychischen Störungen im weiteren und Psychiatrie im engeren Sinne erst mal erfolglos. Doch es gab düsteren Stoff genug: Der klassische Gangsterfilm erlebt ein ungeheures Revival mit exotischer Grundierung. Bestes Beispiel für diese Entwicklung ist der chinesische Gewinner des Goldenen Bären: »Black Coal, Thin Ice«. Für seine Darstellung des abgehalfterten, saufenden und über das Eis schlurfenden Kommissars wurde Liao Fan als bester männlicher Darsteller ausgezeichnet. Es gab weitere Filme in dieser Kategorie, zum Beispiel »Stratos« aus Griechenland oder »Kraftidioten« aus Skandinavien: Hier ballern keine durchgeknallten Psychopathen durch die Gegend, sondern gut bezahlte Auftragsmörder. Pures Männerkino, mit Blut spritzend, seit »Fargo« auch gerne mit reichlich Schnee oder in der Wüste, mit Tieren garniert: Hunden, Ratten, Falken.

Gestorben wird also immer. Nick Hornby hat mit seinem Bestseller »A Long Way Down« die Vorlage geliefert für den gleichnamigen Film von Pascal Chaumeil. Er lief in der Reihe 'Berlinale Special' und führte anlässlich der Weltpremiere reichlich Prominenz an den Potsdamer Platz, was Veranstalter und Presse natürlich glücklich macht. Um es vorwegzusagen: Ich fand den Film belanglos. Vier sehr unterschiedliche potenzielle Selbstmörder(innen) treffen zufällig in einer Silvesternacht auf dem Dach eines Londoner Hochhauses aufeinander und verschieben die finale Aktion auf den Valentinstag. Martin (Pierce Brosnan) ist ein prominenter Talkmaster, und wegen einer Lolita-Affäre abgestürzt; Maureen (Toni Collette) ist Mutter eines schwerstbehinderten Sohnes und mit ihrer Kraft am Ende; J.J. (Aaron Paul) kann seine Erfolglosigkeit als Rockmusiker nicht mehr ertragen, und die schrille, aufmüpfige Jess (Imogen Poots) will sich angeblich aus Liebeskummer in den Tod stürzen. Die vier formidablen Schauspieler geben sich alle Mühe, um die hanebüchene Story glaubhaft zu machen. Das 'Aktionsbündnis für seelische Gesundheit' lobt den Film und meint in einer Pressemitteilung: »Nick Hornby zeichnet seine depressiven Hauptfiguren aus einem humoristischen Blickwinkel und schafft dadurch viel Sympathie.« Ich würde mal sagen: Keine der vier angeblich lebensmüden Gestalten würde von SP-Lesern als psychisch krank oder suizidal diagnostiziert, und damit ist der Anti-Stigma-Effekt des Kunstwerks auch zu vernachlässigen. Aber amüsieren Sie sich doch einfach selbst: »A Long Way Down« ist seit dem 3. April in unseren Kinos.

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Seltsame Hausbewohner

Der Profi-Musiker Antoine verlässt wortlos die kleine Bühne, als er eigentlich auftreten soll. Seit Wochen hat er nicht geschlafen. Nun ist er arbeitslos und bewirbt sich um einen Job als Hausmeister. Mathilde (Catherine Deneuve) verwaltet zusammen mit ihrem Gatten das Haus; sie gibt Antoine, wie immer ihrer Intuition vertrauend, den Job. Antoine ist ein schwermütiger Loser, gewinnt aber mit seiner schwerfälligen Art allmählich das Vertrauen der Hausbewohner, die wohl alle, wie in Frankreich üblich, Eigentümer ihrer Wohnungen sind. Wir lernen die Bewohner nun mit seinen Augen kennen. Jeder von ihnen ist eigen, skurril oder hat eine kleine Macke. Mathilde ist frisch berentet und versucht mit ehrenamtlichem Engagement die ungewohnte Leere zu füllen. Sie beobachtet mit Sorge einen Riss in der Wand - von einem Statiker lässt sie sich nicht beruhigen. Sie pinnt Zettel an die Bäume und recherchiert Katastrophenszenarien über eingestürzte Wohnviertel. So sammelt sie andere Paranoiker um sich. Der schwermütige Hausmeister verschwindet immer wieder in der Wohnung des dealenden Fahrraddiebes, um mit ihm eine Line zu ziehen. Ein obdachloser Sektenanhänger versucht ihm Literatur und seinen Dobermann unterzujubeln; Antoine kann nicht Nein sagen, auch als eines Tages Mathilde zu ihm flüchtet, weil ihr Mann sie wegen ihrer Phobien einweisen lassen will. Dieser Film ist wunderbar gesponnen, nahezu realistisch in der Beobachtung der alltäglichen Merkwürdigkeiten eines Häuserblocks, wie sie Sozialarbeiterinnen von ihren Hausbesuchen kennen. Am Ende von »Dans la cour« verabschiedet sich Antoine mit einer Überdosis, nur die geklauten Rosen ranken an den Wänden des Hinterhofs.

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Seltsame Therapeuten

Nick lebt vom illegalen Verkauf antiquarischer Bücher. Kurzfristig muss er abtauchen, da kommt ihm der Job als Aufpasser einer Villa gerade recht. Hier kann er untertauchen. Doch leider muss er den Besitzer, den alten Philosophen und Psychologen Curt Ledig mitversorgen, weil der sich weigert, zu seiner Tochter umzusiedeln. Nick und Curt sind ein seltsames Paar, und noch merkwürdiger ist, dass die Küchenphobie, die der Alte angeblich hat, auf Nick überspringt. Er kann keine Küche mehr betreten. Curt bereitet sich auf einen Auftritt bei einem Symposium vor, den ihm keiner mehr zutraut. Nick durchstöbert schon mal die Bibliothek nach Kostbarkeiten. Curt hat immer mehr Spaß daran, an seinem proletarischen Patienten Nick herumzudoktern: Er befragt ihn zu seiner Kindheit, gräbt ihn bis zum Hals in der Erde ein und wartet gelassen die Heilung ab. »Über-Ich und Du« von Benjamin Heisenberg ist leider nicht mehr als gut gespielter Unfug, voller kleiner verrückter Details und mit wunderbaren Anspielungen auf geriatrische Psycho-Gurus und ihre Jünger.

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Weitaus ernster meint es Claudia Llosa in »Aloft«. Wieder einmal fügt sich die Geschichte erst aus zahlreichen Rückblenden zusammen. Nana hat zwei Jungs; der kleinere wird wohl an einem Gehirntumor sterben, der ältere namens Ivan verbringt seine ganze Zeit mit seinem geliebten Falken Inti. Ein Heiler, genannt »der Architekt«, kommt in die Gegend, man pilgert zu ihm. Er baut aus Ästen fragile Gebilde, in denen sich die heilende Energie bilden soll. Doch Ivans Falke fliegt hinein und zerstört zum Entsetzen aller das Kunstwerk. Zufällig berührt Nana in dieser Situation ein blindes Kind, und so wird ihre heilende Energie entdeckt. Am Ende des Films, viele Jahre und Ereignisse später, fährt Ivan mit einer jungen, schönen Dokumentarfilmerin zum Polarkreis, um seine Mutter, die inzwischen legendäre Heilerin Nana, zu sehen. »Aloft« überwältigt zunächst mit traumhaft schönen Bildern und Schauspielern, und wer noch keinen Falken hat, der wird sich nun wohl einen anschaffen. Der Plot ist Behauptung und hat das Berlinale-Publikum enttäuscht.

Sexualität, so rum und andersrum, war das heiße Herz vieler Filme, die von Filmknäcke an dieser Stelle zu vernachlässigen sind. »Nymphomaniac« von Lars von Trier gab es in der seltenen Langfassung zu sehen und wurde bejubelt; die kurze Version war inzwischen längst in den Kinos.

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Ein besonderes Kennzeichen der Berlinale sind die vielen Filme mit dem Topos Homosexualität - auch sie sollen hier nur ganz kurz gestreift werden. Mal ist die schwule Liebe inzwischen fast nebensächlich, wie die Partnerschaft der beiden alt gewordenen Männer in »Love Is Strange«, die wie alle anderen Opfer der Gentrifizierung ihre Wohnung verlieren, und das ausgerechnet in New York. Dann wieder muss die körperliche Beziehung zweier Männer für stylishe Bilder an Strand und im Bett herhalten, wie in dem heftig beschimpften Wettbewerbsbeitrag »Praia do Futuro«. Und ein paar Grenzen weiter, in Ungarn, ist bereits der bloße Verdacht tödlich. Der eindrucksvolle Spielfilm »Viharsarok« basiert auf einer wahren Geschichte über Homophobie in ländlichem Kontext.

»She's Lost Control«, ein kleiner Spielfilm der Filmemacherin Anna Marquardt, beschreibt das Scheitern einer Sexarbeiterin, die mit Männern arbeitet, die nicht in der Lage sind, intime Nähe auszuhalten. Ronah ist noch in der Ausbildung zur Verhaltenspsychologin; ein erfahrener Psychotherapeut überweist ihr die Fälle und spricht sie mit ihr durch. Supervision gibt es nicht. Sie beginnt mit einfachen Körperübungen, stets behält sie das Heft in der Hand. Bei ihrem letzten Patienten gelingt es ihr nicht, die notwendige Distanz zu halten. Er ist klug und unberechenbar, und sie fängt an, sich in ihn zu verlieben und ihm nachzuspüren. Als sie ihm während einer Sitzung zu nah kommt dreht er durch. Mit frischen Verletzungen sitzt sie später bei der Polizei - und geht dann doch kommentarlos wieder weg. Ihr Weg als Therapeutin ist zu Ende. Anna Marquardt gelingt es gut, das Kippen der Beziehung filmisch umzusetzen. Umso enttäuschender sind ihre Aussagen nach der Vorführung. Mir scheint, sie hat sich nicht wirklich mit ihrem Sujet auseinandergesetzt und weiß grade mal, dass in den Niederlanden »sexual surrogates« auf Krankenschein behandeln dürfen. Das ist mir zu wenig, um ein derart aktuelles und heikles Thema zu interpretieren.

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Hearing Voices

Welche Bedeutung haben Sprache und Stimme im Leben des Menschen? Der prominente kanadische Künstler Robert Lapage hat ein Theater-Marathon mit dem Titel »Lipsynch« entwickelt. Drei Episoden hat er für den Spielfilm »Triptyque« herausgelöst und aus der Nähe betrachtet. Es beginnt mit der Entlassung von Michelle aus der riesigen psychiatrischen Klinik in Quebec. Sie wird von ihrer Schwester Marie abgeholt. Der Arzt ermahnt sie noch einmal, regelmäßig ihre Medikamente einzunehmen. Die schizophrene Drehtürpatientin Michelle wird wunderbar verkörpert von der Schauspielerin Lise Castonguay. Sie übernimmt wieder ihren Job in einem kleinen Buch-Antiquariat, wo sie sich ihren inneren Stimmen und den spärlichen Kunden widmen kann. Wir begegnen ihr später wieder, oder ist es vorher? Der visuell und akustisch opulente Film arbeitet mit vielen Vor- und Rückblenden, in deren Strom ich manchmal die Orientierung verloren habe. Das macht aber nichts, ich lasse mich treiben.

Marie, Michelles Schwester, arbeitet in einem Jazzclub als Sängerin und hat einen Gehirntumor. Sie wird von Thomas, einem deutschen Chirurgen, in London auf die Operation vorbereitet. Sie werde wohl vorübergehend die Sprache verlieren, kündigt er an, aber nicht die Stimme. Sie weint. Auch Thomas, der schöne Chirurg, hat Probleme; wegen eines Tremors der linken Hand kann er eigentlich nicht mehr operieren. Ist seine unerfreuliche Ehe der Auslöser oder vielleicht schlicht der Alkohol, den er etwas allzu reichlich konsumiert? Er trifft seine Patientin Marie nach ihrem Auftritt im Club, und die beiden haben eine Liaison. Thomas operiert Marie, und wir sehen die Abnahme der Schädeldecke und werfen einen Blick auf das Gehirn. Einzelne Areale werden gereizt; Marie muss Fragen beantworten, um zu prüfen, wie weit das Sprachzentrum betroffen ist. Das Gehirn ist eines der größten Wunder unserer Welt, und Michelangelo scheint in der Sixtinischen Kapelle seine mäandernde Gestalt bereits erahnt und seine Bedeutung erfasst zu haben. Der Film widmet sich in einer letzten Episode der Suche von Marie nach der Stimme ihres Vaters, die sie vergessen hat, von dem sie aber einige Super-8-Aufnahmen besitzt. Kann man die Worte des Vaters an seinen Lippen ablesen? Marie bittet einige befreundete Synchronsprecher, die Stimme des Vaters einzusprechen, doch das Ergebnis stimmt nicht. Schließlich haben die Toningenieure eine Idee: Sie verzerren Maries Stimme, die so zur Stimme des Vaters wird. »In der Stimme deines Vaters war deine Stimme bereits enthalten.«

Manchen Rezensenten war »Triptyque« ein wenig zu pathetisch, zu melodramatisch. Mich hat er enorm berührt. Dieser Hymne an das menschliche Gehirn, an die inneren und äußeren Stimmen sollte man sich hingeben, wie an eine der vielen Arien, die die exzellent komponierten Großaufnahmen wunderbar ergänzen.

So wurde ich auf meiner Suche nach der Anstalt in »Triptyque« doch noch fündig.

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Abschied von der Anstalt

Auch in dem gleichnamigen Porträt des Modeschöpfers »Yves Saint Laurent« gibt es eine kleine Szene, in der der manisch-depressive Star im Einzelzimmer einer Klinik untergebracht ist. Hier ist die stationäre Behandlung aber wirklich nur eine winzige Facette in der Beschreibung eines reichen Lebens, beginnend 1957 als Assistent von Christian Dior. Das Schwergewicht dieses eleganten Spielfilms von Jalil Lespert liegt auf der Beziehung des jungen, labilen YSL zu seinem Lebenspartner Pierre Bergé, der ihn über die Erfolge seiner frühen Karriere und alle Exzesse und Krisen seiner Bipolarität hinweg gestützt und begleitet hat.

Sehenswert ist der Film wegen des Lebensgefühls jener Jahre, das er atmosphärisch dicht vermittelt, und vor allem wegen des 21-jährigen Schauspielers Pierre Niney, dem vermutlich die Götter diese Rolle gegeben haben. YSL ist ab 17. April im Kino.

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Und dann noch eine allerletzte psychiatrische Klinik »Midden in de Winternacht«. Santa Claus, abgeschleppt von Polizei und Krankenwagen, sitzt vor dem Psychiater und behauptet steif und fest, der Weihnachtsmann zu sein. Der Psychiater ist ein freundlicher, offensichtlich psychoanalytisch orientierter älterer Herr. Sehr freundlich versucht er die Äußerungen von Santa Claus zu deuten und die um ihn sitzenden Patienten und Mitarbeiter in den Gruppenprozess einzubeziehen. Doch es nützt alles nichts, Santa Claus schreitet zum Schornstein, zieht sich aufs Dach und reitet auf seinem Elch von dannen. »Bitte geben Sie mir eine Injektion«, bittet der Psychiater seine Assistentin. Der Kinderfilm nach dem erfolgreichen Buch von Andreas Steinhöfel »Es ist ein Elch entsprungen« könnte den psychiatrischen Nachwuchs, so um das Einschulungsalter herum, auf die richtige Spur bringen.

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Du musst Caligari werden!

Nein, ich bin nicht Caligari geworden und habe mich auch nicht hypnotisieren lassen. Für viele Fanatiker aber war die Aufführung der digitalisierten Fassung des Filmklassikers »Das Cabinet des Dr. Caligari« angeblich das Highlight der diesjährigen Berlinale. Man pilgerte in die Philharmonie, um dort direkt auf die Leinwand zu starren oder auf den so genannten Hörplätzen von der Seite zu schielen. Groß angekündigt war die musikalische Untermalung des berühmten Stummfilms durch den amerikanischen Multiinstrumentalisten John Zorn. Nein, ich war nicht dabei, sondern habe nur in der Mediathek ein wenig hineingehört. Aber ich habe ja meine Gewährsleute. Und die meinen: »Die Qualität des Filmes war dank der Digitalisierung einer gut erhaltenen Fassung exzellent. Die Orgelbegleitung war - zumindest für uns - mehr als gewöhnungsbedürftig. Und wir können von uns eigentlich behaupten, einiges gewöhnt zu sein. Ich dachte zwischendurch: Der verarscht hier alle. Das ist irgendein durchgeknallter Performancekünstler, der gar nicht orgeln kann und hier alle zum Narren hält ... Caligari ist ein ganz wunderbarer Film, mit einer unerwarteten Auflösung, der einen vielleicht etwas verstört zurücklässt mit der Frage: Was war wahr, und was war Wahnsinn? Aber diese Vertonung hat er nicht verdient.«

Genießen wir also dieses Meisterwerk, Mutter und Vater aller Filmknäckes, in der perfektionierten Fassung stumm oder mit einer inspirierten Orgelbegleitung, wie sie zum Beispiel im Berliner Babylon zu genießen ist.



Noch mehr Berlinale gibt es wie immer unter
www.psychiatrie.de/bibliothek/aktuelle-kinofilme/


52 Tuesdays, Australien 2013, 114 Min., Regie: Sophie Hyde

Boyhood, USA 2013, 164 Min., Regie: Richard Linklater

Kreuzweg, Deutschland/Frankreich 2014, 107 Min., Regie: Dietrich Brüggemann

The Forest Is Like the Mountains, Rumänien/Deutschland 2014, 101 Min., Regie: Christiane Schmidt und Didier Guillain

Neuland, Schweiz 2013, 92 Min., Regie: Anna Thommen

A Long Way Down, Großbritannien/Deutschland 2013, 96 Min., Regie: Pascal Chaumeil

Dans la cour, Frankreich 2013, 97 Min., Regie: Pierre Salvadori

Über-Ich und Du, Deutschland/Schweiz/Österreich 2014, 94 Min., Regie: Benjamin Heisenberg

Aloft, Spanien/Kanada/Frankreich 2013, 112 Min., Regie: Claudia Llosa

She's Lost Control, USA 2014, 90 Min., Regie: Anja Marquardt

Triptyque, Kanada 2013, 94 Min., Regie: Robert Lapage und Pedro Pires

Yves Saint Laurent, Frankreich 2013, 110 Min., Regie: Jalil Lespert

Midden in de Winternacht, Niederlande 2013, 85 Min., Regie: Lourens Blok

Das Cabinet des Dr. Caligari, Deutschland 1920, 75 Min., Regie: Robert Wiene

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 144 - Heft 2, April 2014, Seite 44 - 48
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2014