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INTERNATIONAL/060: Afghanistan - Medienboom bringt keine Pressefreiheit, Journalisten in Lebensgefahr (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. April 2012

Afghanistan: Medienboom bringt keine Pressefreiheit - Journalisten in Lebensgefahr

von Giuliana Sgrena



Kabul, 20. April (IPS) - Afghanistan entwickelt sich für Berichterstatter aus dem In- und Ausland zunehmend zu einem der gefährlichsten Pflaster weltweit. Allein im vergangenen Jahrzehnt starben 16 Journalisten bei der Ausübung ihres Berufs. Kein einziger Täter kam bisher vor Gericht - und Staatspräsident Hamid Karsai schweigt.

Seit dem Sturz der Taliban und der Ankunft ausländischer Truppen 2001 hat Afghanistan einen unerhörten 'Medienboom' erlebt. Insgesamt gibt es in dem zentralasiatischen Land 200 Printmedien, 44 Fernsehstationen (allein 25 in Kabul), 141 Radiosender und acht Nachrichtenagenturen, und es kommen immer neue hinzu.

Doch der Zuwachs hat nicht unbedingt zur Förderung der Pressefreiheit in dem Land beigetragen. Denn die meisten Medien sind mit der Regierung, den Warlords, den Regierungen der Besatzungstruppen oder mächtigen, wohlhabenden Männern verbunden. Niemand von ihnen gestattet es Journalisten, unabhängig zu berichten.

Hinzu kommt die von den Taliban verordnete Medienzensur, die sich auch auf freizügige Bilder in 'Soap Operas' beziehen. Die Medienlandschaft in Afghanistan hat eine auffällige Ähnlichkeit mit einem Schlachtfeld, auf dem Journalisten täglich darum kämpfen müssen, über die Wahrheit berichten zu können.


Drohungen nach Kritik an iranischem Diplomat

Nazir Fayaz, ein 34-jähriger Journalist, musste vor drei Monaten wegen eines Disputs mit dem iranischen Botschafter seinen Job beim Sender 'Ariana TV' aufgeben. Während eines live übertragenen Interviews hatte der Diplomat die Afghanen beschuldigt, "die ausländische Besatzung zu akzeptieren". Fayaz konterte den Angriff mit harschen Worten und musste dafür zwei Tage ins Gefängnis. Die iranischen und afghanischen Behörden zwangen ihn dann dazu, seine Arbeit aufzugeben.

Inzwischen erhält Fayaz Drohanrufe und zwar nicht nur von der iranischen Botschaft, sondern auch von den afghanischen Warlords, der Regierung, Drogenhändlern und den Taliban. "Es ist sehr riskant ein Journalist in Afghanistan zu sein", erklärt er. "Es gibt keine Pressefreiheit, weil alle Medien in den Händen der Warlords, der Mafia und der Banken sind. Bei den staatlichen Medien ist die Zensur sogar noch strenger. Ariana TV war unabhängig, bis der afghanisch-amerikanische Eigentümer Ehsan Bayat Senator wurde."

Fayaz überlegt nun, den Journalismus ganz aufzugeben und für die unabhängige Afghanische Menschenrechtskommission zu arbeiten. Es gebe keine Möglichkeit, ehrlich für die afghanischen Medien zu arbeiten, beklagt er. Dabei seien freie Medien unerlässlich, um seinem Land endlich Frieden zu bringen. "Wenn es aber keine Freiheit der Meinungsäußerung gibt, wird genau das Gegenteil geschehen."

Mehrere Provinzen im Süden und Osten Afghanistans wie Helmand, Uruzgan, Paktika und Farah sind für Journalisten bereits No-Go-Areas.

Am 22. Februar 2011 wurde in Urgun in Paktika die enthauptete Leiche von Sadim Khan Bhadrzai gefunden. Der Manager des beliebten lokalen Radios Mehman-Melma war am Abend davor entführt worden. Er ist das bisher letzte Opfer einer Serie von Morden an Medienvertretern. Jedes Jahr gibt es Hunderte Fälle von Gewalt gegen Journalisten. Die meisten Angriffe ereignen sich in Kabul, Herat und Helmand.

Weibliche Journalisten werden immer häufiger bedroht. 2007 wurde Zakia Zaki, die Eigentümerin des Friedens-Radios in Kandahar, in ihrem Bett erschossen, wo sie mit ihrem kleinen Sohn schlief.

Trotz der großen Gefahren geben die Journalistinnen im Land nicht auf. Najeeba Feroz ist eine zierliche aber resolute 24-Jährige, die für BBC Afghanistan arbeitet, das in Dari und Paschtu sendet. Ihr Büro in Shara Now im Zentrum von Kabul liegt in einem rundum von bewaffneten Leibwächtern geschützten Gebäude.


Nur die Wahl zwischen Zensur und Selbstzensur

Feroz schloss die Universität von Kabul ab und arbeitete bei unabhängigen Printmedien und Rundfunksendern, unter anderem Tolo TV. Der Mangel an unabhängiger Berichterstattung und die strenge politische Kontrolle frustrierten sie aber bald. "Man hat nur die Wahl zwischen Zensur und Selbstzensur", sagt sie. "Deshalb bin ich zur BBC gegangen. Hier werden alle Quellen überprüft. Wir können über Korruption in der Regierung oder bei den Warlords berichten, solange diese Berichte der Realität entsprechen."

Wie viele Journalistinnen würde Feroz am liebsten Afghanistan verlassen. "Nach drei Jahren Arbeit bei der BBC haben wir die Möglichkeit, ein Jahr ins Ausland zu gehen. Das wird eine gute Chance sein. Danach möchte ich aber wiederkommen, um meinem Volk zu helfen", sagt Feroz, die über Frauenprobleme berichtet, über die selten jemand spricht.

Die Senatorin Belqis Roshan, eine weitere unerschrockene Journalistin, erzählt, dass sie in ihrer Provinz Farah herumfährt, um Informationen über Gewalt gegen Frauen zu sammeln. Die Stimmen der Opfer bringt sie im Senat zur Sprache. Denn in Farah gibt es keine Medien.

In Afghanistan hält sich die Analphabetenrate hartnäckig bei 72 Prozent. Fernsehen und Radio sind also die effizientesten Mittel, um Nachrichten im ganzen Land zu verbreiten. (Ende/IPS/ck/2012)

Link:
http://cpj.org/asia/afghanistan/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107482

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2012