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INTERNATIONAL/155: Syrien - Neues Magazin will Rechte von Frauen stärken (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. November 2014

Syrien: Eine Stimme für das unterdrückte Geschlecht - Neues Magazin will Rechte von Frauen stärken

von Shelly Kittleson


Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Verschleierte Frau in der syrischen Stadt Aleppo
Bild: © Shelly Kittleson/IPS

Gaziantep, Türkei, 19. November (IPS) - Für die meisten Frauen in Syrien ist der Bürgerkrieg eine Katastrophe. Manche empfinden ihn jedoch als Befreiung, da er die traditionelle Rollenverteilung in den Familien in Frage gestellt und damit auch positive Veränderungen in Gang gesetzt hat.

Viele Syrerinnen müssten nun selbst für ihre Kinder sorgen, nachdem ihre Männer verschleppt, inhaftiert, verletzt oder getötet wurden, sagt Yasmine Merei, die Redaktionsleiterin des seit Anfang des Jahres erscheinenden syrischen Frauenmagazins 'Saiedet Souria'. Einerseits sei dies eine erschreckende Erfahrung. Anderseits könnten sich die Frauen dadurch aber von den gesellschaftlichen Fesseln befreien.

"Wenn der Mann nicht mehr alles bezahlt und keine spezifische Rolle mehr in der Gesellschaft spielt, hat er auch nicht mehr das Recht, seiner Frau zu sagen, was sie tun soll", so Mohammad Mallak, Gründer und Chefredakteur des Magazins, dessen Titel übersetzt 'Syrische Frauen' heißt. Mallak bringt auch das Partnermagazin 'Dawda' (Lärm) heraus, das ebenfalls in der südtürkischen Stadt Gaziantep verlegt wird.


Magazin verbreitet progressives Frauenbild

Nur wenige Frauen auf den Abbildungen haben ihren Kopf verhüllt. Merei, die in einer konservativen sunnitischen Familie aufwuchs, hat 20 Jahre lang ein Kopftuch getragen und zeigt erst seit diesem Jahr ihr Haar in der Öffentlichkeit. An dem Volksaufstand 2011 habe sie sich beteiligt, um gegen Gesetze zu protestieren, die vor allem Frauen benachteiligten, erzählt sie. So sei es syrischen Frauen lange Zeit verwehrt gewesen, ihre Staatsbürgerschaft auf ihre Kinder zu übertragen, und sogenannte Ehrenmorde blieben ungesühnt.

Merei, die einen Universitätsabschluss in Linguistik vorweisen kann, hat wie viele andere Frauen im Land die Verantwortung für ihre Familie übernommen und schickt ihrer Mutter Geld. Ihre beiden Brüder kamen wegen ihrer Beteiligung an den Protesten ins Gefängnis und gelangten erst nach Zahlung hoher Schmiergelder auf freien Fuß. Ihr alter Vater starb kurz nach der Inhaftierung, und die Familie sah sich zur Flucht gezwungen.

Von Frauen zu erzählen, bedeutet nicht, sie ausschließlich als Opfer darzustellen, deren Leben von Schrecken und Mühsal geprägt ist. Merei will solche Schicksale zwar nicht verschweigen, jedoch Frauen zugleich auch mit Informationen versorgen, die ihnen einen umfassenderen Blick auf die Welt ermöglichen und eine Stimme in einer Revolution geben, die ihre Belange bisher weitgehend vernachlässigt hat.

Die Schilderungen einer Frau, die in der Haft in Syrien gefoltert wurde, sind in dem Magazin und auf seiner Facebook-Seite neben einer Rezension des Buches 'Der weibliche Eunuch' von Germaine Greer und einem Interview mit einer Polizistin zu lesen, die in von den Oppositionskräften eroberten Gebieten im Einsatz ist. Andere Artikel handeln von den negativen Auswirkungen erzwungener wirtschaftlicher Abhängigkeit auf Frauen und auf die nationale Wirtschaft und von drohenden Gesundheitsgefahren wie Tuberkulose in Flüchtlingslagern.


Kolumne von regimekritischer Juristin

Eine Juristin, die sich noch in den Landesteilen unter Kontrolle des Regimes von Präsident Bashir al-Assad aufhält, schreibt regelmäßig eine Kolumne. Die Anwältin war aus politischen Gründen 13 Jahre lang in Haft gewesen. Zwei übersetzte Berichte aus der internationalen Presse geben einen Einblick in das Weltgeschehen. Jedes Heft umfasst etwa 50 Seiten.

'Saiedet Souria' hat bisher in jeder Ausgabe Auszüge aus der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW abgedruckt, die 1979 von der UN-Vollversammlung angenommen wurde. Laut Merei wird der Text der Konvention in der nächsten Heftnummer vollständig zu lesen sein. Die Auflage liegt derzeit bei 4.500 bis 5.000 Exemplaren, von denen etwa 3.500 Hefte in Syrien über eines der vier Büros vertrieben werden.

Die Facebook-Seite des Magazins hat bereits mehr als 40.000 Follower. Dies ist eine beträchtliche Zahl in einem Land, in dem Facebook und YouTube zwischen 2007 und Anfang Februar 2011 verboten waren. Nur wenige Syrer haben Strom und Zugang zum Internet. Die Organisation 'Reporter ohne Grenzen' hat Syrien auf seine Liste der 'Internet-Feinde' gesetzt.


Mitarbeiterinnen regelmäßig bezahlt

Das Magazin, das bereits Büros in Daraa, Damaskus, Suweida und Qamishli hat, wird bald eine weitere Niederlassung in Aleppo eröffnen. "Alle zehn Frauen, die für uns arbeiten, erhalten ein regelmäßiges Gehalt von umgerechnet 200 US-Dollar", sagt Merei. "Sie sind dafür verantwortlich, die Hefte zu verteilen sowie Frauen bei Treffen zusammenzubringen." Die Hefte werden auf Märkten und von Stadträten ausgegeben. An mindestens einem Ort haben die Frauen die Möglichkeit, gelesene Exemplare zurückzugeben.

Die Grundausstattung der Redaktion mit Computern und Druckern hatte Gründer Mallak finanziert. 'Reporter ohne Grenzen' veranstaltete im April und September zwei Workshops für das Magazin. "Unser Ziel ist es, möglichst viele Frauen zu erreichen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken", sagt Merei.


Islamisten versetzen Land in Steinzeit zurück

Das Selbstbewusstsein der Syrerinnen hat durch den Krieg und die Islamisten gelitten, die Religion in den von ihnen kontrollierten Regionen als Druckmittel gegen Frauen einsetzen. Merei, die diese Gebiete vor einigen Monaten besuchte, hatte den Eindruck, dass das Land dort "in die Steinzeit zurückgekehrt ist". Sie sei sunnitische Muslimin, doch der Islam werde von den Extremisten anders ausgelegt, als sie es kenne.

"Eines der großen Probleme in Syrien besteht darin, dass die Intelligenz entweder im Gefängnis, im Ausland oder tot ist", sagt ein Mann, der die meiste Zeit seines Lebens außerhalb seines Landes verbracht hat. Nach Syrien ist er erst kürzlich zurückgekehrt, um Universitätskurse in der von der Opposition eingenommenen Stadt Aleppo zu organisieren. "Es gibt hier so gut wie keine Strukturen und niemanden, der Ideen voranbringt."

Wie Merei erklärt, will das Frauenmagazin auch an diesem Punkt ansetzen: "Wir wollen den Syrern das Wissen vermitteln, das sie für die Zukunft brauchen." (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/11/pushing-the-voice-of-syrian-women-for-a-new-future/

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IPS-Tagesdienst vom 19. November 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2014