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FRAGEN/017: Interview mit Amal Ramsis - Ägypten nach dem Sturz Mubaraks (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 118, 4/11

Ägypten nach dem Sturz Mubaraks
Der Kopf des Monsters ist ab, der Körper lebt noch
Interview mit Amal Ramsis

Von Verena Bauer


Mit ihren Filmen widersetzte sich die ägyptische Filmemacherin Amal Ramsis(1) den Verboten der Regierung Mubaraks und stellte, abseits vom ägyptischen Mainstream-Kino, das tatsächliche Leben der ÄgypterInnen mit dessen Herausforderungen, Problemen und Träumen dar. Anlässlich der Filmpremiere ihres Dokumentarfilms "Forbidden", der kurz vor dem Regierungssturz zu Ende gedreht wurde und die Situation in Ägypten direkt vor der Revolution zeigt, hielt sich Amal Ramsis Anfang Oktober für einige Tage in Wien auf, wo sie Zeit für ein Interview mit Verena Bauer von Women on Air fand.


VERENA BAUER: Wie ist die Arbeit als Regisseurin in Ägypten? Gibt es viele Regisseurinnen?

AMAL RAMSIS: Die erste Regiearbeit in Ägypten war von einer Frau, und immer noch gibt es viele Regisseurinnen. Zurzeit sind einige der bekanntesten ägyptischen RegisseurInnen weiblich, allerdings sind sie vor allem im Bereich des Mainstream-Kinos tätig, das geprägt ist durch eine konservative Darstellung und einer Stereotypisierung der Frau.

Die Produktion von alternativen Filmen, wie ich sie mache, war bis jetzt ein relativ schwieriges Unterfangen, da es für diese Art von Filmen keine staatliche Förderung gibt. Dies und die strenge Zensur führten daher zu einer Kommerzialisierung der ägyptischen Filmproduktion. In den 1970er und 1980er Jahren, als Independent-Movies noch subventioniert wurden, gab es in diesem Bereich einige bekannte ägyptische RegisseurInnen, welche ein relativ progressives Frauenbild zeigten. Heute werden alternative Filme nur von jungen Leuten gedreht, die noch die Energie haben, sich über Verbote hinwegzusetzen. Abseits von der Mainstream-Produktion erhalten RegisseurInnen den verdienten Respekt im eigenen Land nur, wenn sie auf internationalen Filmfestivals Preise erhalten.

VERENA BAUER: Was hat Sie dazu gebracht, die Arbeit als Anwältin aufzugeben und als Filmemacherin tätig zu werden?

AMAL RAMSIS: Mich hat das Produzieren von Filmen immer schon gereizt. Gedanken manifestieren sich als Bilder, und das Medium Film dient mir als Ausdrucksmittel, durch das viele Menschen erreicht werden können. Aber ich habe zuerst Jura studiert, da es in Ägypten nicht einfach ist, vom Filmemachen zu leben. Allerdings arbeitete ich nur drei Jahre als Anwältin, begann dann als Regieassistentin und besuchte schließlich die Filmschule in Madrid.

VERENA BAUER: Wer ist Ihre Zielgruppe? Für wen produzieren Sie Ihre Filme, und was sind die Themen, die Sie aufgreifen?

AMAL RAMSIS: Wenn ich einen Film mache, denke ich nicht an das Publikum. Ich drehe einen Film, der Frauen und Männer aus verschiedenen Bereichen interessieren könnte, Ägypter genauso wie Ausländer. Wenn man beim Produzieren eines Films zu viel an das Publikum denkt, läuft man Gefahr, sich dem Mainstream unterzuordnen. Natürlich fühlen sich manche Menschen von einem Thema mehr angezogen als andere, z. B. von der Dokumentation "Solo Suenos" ("Nichts als Träume") fühlen sich vor allem ägyptische Hausfrauen angesprochen, da es im Film über die Träume von ägyptischen Frauen geht. Mein letzter Film hingegen, "Forbidden"(2), hat wieder ein anderes Publikum angesprochen. Ich habe diesen Film für die ÄgypterInnen gedreht, als Protestakt. Zu meiner Überraschung begann die Revolution in Ägypten, als ich mit den Dreharbeiten fertig war. Dadurch hat sich das Publikum erweitert, da Menschen außerhalb von Ägypten wissen wollen, wie die Situation in meinem Land war, bevor die Revolution ausbrach.

VERENA BAUER: Wie haben Sie die Revolution in Ägypten erlebt?

AMAL RAMSIS: Ich war vom ersten Tag an bei den Aufständen dabei. Jeden Tag haben wir uns auf dem Tahrir-Platz getroffen, diskutiert und laut über die Zukunft nachgedacht.

Auch nach dem Sturz der Regierung wurde jeden Freitag auf den Plätzen der Städte demonstriert. Seit einem Monat treffen sich die Menschen sogar wieder täglich, um für unterschiedliche Dinge zu demonstrieren. Denn dadurch kann etwas in Bewegung gesetzt werden. Bis jetzt sind kaum Fortschritte des Wandels erkennbar, im Gegenteil, es werden eher Rückschritte sichtbar, wie die Gerichtsverhandlungen von Mubarak und dessen Kindern sowie die Behandlung der Ex-Minister zeigen. Das alte System wird geschützt. Immer wieder kommt es zu Räumungen der Plätze und sogar zu Tötungen durch die Polizei und durch das Militär, doch die DemonstrantInnen lassen sich nicht unterkriegen und formieren sich immer wieder neu.

VERENA BAUER: Die Protestbewegungen waren gekennzeichnet durch die große Präsenz von Frauen. Wie sehen Sie die Rolle der Frauen in der Revolution und deren Teilnahme an der Regierungsbildung?

AMAL RAMSIS: Als die Menschen auf die Straße gingen, um gegen das ägyptische Regime zu protestieren, wurde nicht nach Geschlecht unterschieden. Die Frauen machten die Hälfte der DemonstrantInnen aus. Aber das war nicht das erste Mal, dass Frauen aktiv an politischen Protestbewegungen teilnahmen. Frauen nahmen auch an den Debatten und Allianzen teil und waren sogar teilweise deren Sprecherinnen. Niemand hinterfragt ihre Position, denn die Frauen waren die ganze Zeit involviert, sie sind stark und intelligent.

Die Frage ist nicht, ob Frauen an der Regierungsbildung aktiv teilnehmen werden, sondern ob die revolutionären Kräfte involviert sein werden. Zurzeit wird Ägypten durch eine Zivilregierung regiert, welche vom Militär ernannt wurde. Aber in der Realität regiert das Militär. Allem Anschein nach versucht es, das alte System zu erhalten. Gerade wurde ein Gesetz erlassen, das die Wiederwahl der ehemaligen Regierungsmitglieder ermöglicht. Wenn Revolutionsmitglieder an der Regierungsbildung teilhaben werden, sind sicher auch Frauen dabei.

VERENA BAUER: Was sind die zentralen Ziele des Landes nach dem Sturz der Regierung?

AMAL RAMSIS: Die Schlagwörter der Revolution sind Freiheit, Wandel und soziale Gerechtigkeit. Diese Ziele können erst erreicht werden, wenn ein neues Parlament gewählt wurde und dieses die dafür nötigen Gesetze erlässt.(3) Die soziale Gerechtigkeit stellt ein wichtiges Ziel der Revolutionsbewegung in Ägypten dar. Zurzeit befinden sich 60 bis 70% der ÄgypterInnen im Streik. ÄrztInnen, LehrerInnen, die Universitäten, der Textilsektor kämpfen für soziale Gerechtigkeit und eine bessere Bezahlung. Die alten Arbeitsgesetze schützen die Interessen einer bestimmten Klasse und dienen oft als Schutzschirm für verschiedene Arten von Korruption. Vor kurzem hat die Regierung ein Gesetz entworfen, das Streiks verbietet, das Verbot wird jedoch von der Bevölkerung missachtet.

VERENA BAUER: Wie sehen Sie die Rolle der Muslim-Bruderschaft in der Revolution?

AMAL RAMSIS: Ich sehe die Rolle der Muslim-Bruderschaft sehr kritisch. Sie haben nicht von Beginn an an den Demonstrationen teilgenommen und sind gegen Streiks. Sie pflegten Verbindungen zur alten Regierung, und es wird vermutet, dass sie eine Allianz mit dem Militär geschlossen haben. Ihre Einstellung hinsichtlich der Frauen ist sehr konservativ, ihr politisches Programm hinterfragt nicht die Rolle der dominierenden Klassen, und sie planen keine großen Veränderungen im Land.

Das Problem ist, dass es seit 40 Jahren keine Parteienlandschaft in Ägypten gibt, die einzigen Parteien, die bereits existieren, sind jene der ehemaligen Regierung. Es fehlt die Zeit für Transformation, die nötig wäre, um die Mentalität der Bevölkerung zu ändern und zu lernen, wie ein politisches Programm aussehen sollte. Die nächsten Jahre werden gekennzeichnet sein durch viele Parteienbildungen, viele Wahlen und häufige Regierungswechsel. Es steht uns ein langer Weg bevor, den wir gerade erst angetreten haben. Der Sturz der Regierung war erst der Anfang der Revolution.

Anmerkungen:

(1) Amal Ramsis arbeitete drei Jahre als Anwältin, bevor sie dank eines Stipendiums an der Filmschule in Madrid "Septima Ars" Regie studierte. Im Jahr 2008 organisierte sie in Zusammenarbeit mit der spanischen Botschaft ein Filmfestival über Frauen in arabischen und romanischen Ländern. Seit 2002 schreibt sie für verschiedene Zeitungen und Magazine, darunter auch für das "Journal of the Council of Solidarity with the Arab Cause". 2009 erhielt sie den Preis für Literatur und Kunst der Fundación Euroárabe in Granada.

(2) In diesem Film zeigt Amal Ramsis, wie die Verbote der Regierung das Leben der ÄgypterInnen beeinflussen und das zwischenmenschliche Leben erschweren.

(3) Der Beginn der Parlamentswahlen wurde für den 28. November 2011 festgesetzt. Das Ergebnis war beim Verfassen des Artikels noch nicht bekannt.


Hörtipp:
"Der arabische Frühling in Ägypten. Woman on Air: Verena Bauer im Gespräch mit der Filmemacherin Amal Ramsis (Kairo)" in der Sendereihe "Globale Dialoge" am Dienstag, den 27.12.2011 um 13 Uhr auf Orange 94.0 (livestream www.o94.at) und danach jederzeit abrufbar auf www.noso.at.


Zur Autorin:
Verena Bauer hat an der Universität Wien Kultur- und Sozialanthropologie studiert und ist Radioredakteurin von Women on Air. Sie lebt in Wien.

Übersetzung aus dem Spanischen: Verena Bauer


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 118, 4/2011, S. 14-15
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2012