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PRESSE/131: New Left Review - Die intelligenteste linke Zeitschrift der Welt wird 50 (spw)


spw - Ausgabe 2/2010 - Heft 177
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

New Left Review - Die intelligenteste linke Zeitschrift der Welt wird 50

Von Christina Ujma


Die New Left Review, eine linke Theoriezeitschrift mit einer relativ bescheidenen Auflage, ist 50 Jahre alt geworden und damit auch die Tradition der Neuen Linken Englands. Man sieht es den broschierten Büchlein, in denen die Zeitschrift zweimonatlich erscheint nicht an, dass mit ihnen Geschichte gemacht und die Entwicklung der Sozial- und Kulturwissenschaften in der englischsprachigen Welt entscheidend beeinflusst wurde. Ein wenig hat sie auch in die Teile der Welt ausgestrahlt, in denen nicht englisch gesprochen wird, denn in den Siebzigern wären eigentlich die meisten deutschsprachigen Journale gern wie die New Left Review (NLR) geworden, die Prokla, die damals noch Probleme des Klassenkampfs hieß, der Sozialismus, das Argument oder die SPW teilten Format und Anspruch des unabhängigen Marxismus mit dem berühmten englischen Schwesterjournal. Aber keiner gelang es auch nur annähernd, die politische Breite und Intellektualität der NLR auf Dauer beizubehalten. In den achtziger Jahren gab man in Deutschland teilweise das Format des kleinen Buchs auf und wechselte mehrheitlich zum etwas populäreren Magazinformat, das weniger Wissenschaftlichkeit ausstrahlt und mehr Lesbarkeit verspricht.


Theorieorgan der globalen Marxisten

Was die NLR von den deutschen Linksjournalen unterscheidet, ist ihr theoretischer Pluralismus, der zwar meist umstritten war und immer wieder erkämpft wurden musste, aber auf 50 Jahre gesehen doch durchgehalten wurde. Wie überall bei der intellektuellen Linken Englands zofften sich in den achtziger Jahren auch hier Althusserianer und Gramscianer, es gab sektiererische Phasen und Zeiten der theoretischen Beliebigkeit. Perry Anderson, der langjährige Chefredakteur, kompensierte den Pessimismus seiner luziden politischen Analysen gern mit ein bisschen Arbeiterbewegungsromantik und beschwor das kämpferische männliche Subjekt, was besonders bei Frauen, Homosexuellen und Schöngeistern auf wenig Begeisterung stieß.

Heute gilt das mehr als ein harmloser Anachronismus bei einem der wenigen übrig gebliebenen DenkerInnen des westlichen Marxismus, als dessen Zentralorgan die NLR im historischen Rückblick zu recht gilt. Auch wenn man dies zeitnah nicht immer so wahrgenommen hatte. Deshalb verwundert es kaum, dass New Left Review zu den deutschen Linksdebatten in den letzten 20 Jahren eher wenig Kontakt hatte, denn die Strömung des westlichen Marxismus ist in der Bundesrepublik fast ausgestorben. Gegenüber den DenkerInnen des realexistierenden Sozialismus oder orthodoxem Marxismus hat NLR immer Distanz gehalten, aber immerhin war Habermas in großer Regelmäßigkeit mit Aufsätzen vertreten. Als außerenglische Bezugspunkte galten vor allem die linksintellektuelle Szene in Frankreich und Italien, euromarxistische Denker wie Lucio Magri oder Luciana Castellina waren regelmäßig mit Artikeln in NLR vertreten, ebenso wie außereuropäische Marxisten. Internationalismus wird nicht nur aus Prinzip praktiziert, sondern weil heute potentielle LeserInnen auch in den USA, Südamerika oder an englischsprachigen Universitäten Asiens zu finden sind.

Das Interesse am Marxismus ist außerhalb Europas streckenweise größer als in vielen Ländern des alten Kontinents. So hat man sich ganz bewusst global positioniert. Angesichts dieses Hintergrundes hat New Left Review mit der Internationalisierung der Zeitschrift vermutlich den einzig möglichen Weg gefunden, die linkstheoretische Krise, die dem Jahr 1989 folgte, zu überleben.


Eine eigene wissenschaftliche Agenda

Ein Kennzeichen der NLR ist intellektuelle Rigorosität und daraus folgend auch Seriosität. Hier wird oft wissenschaftlicher Marxismus betrieben, der es darauf anlegt, sprachlich, stilistisch und akademisch weit über dem zu stehen, was die bürgerliche Wissenschaft produziert. Fast triumphierend verkündet die Chefredakteurin Susan Watkins in der Jubiläumsnummer der New Left Review, dass man es ablehne, sich auf die meist aus den USA kommenden intellektuellen Moden einzulassen, die oft vor allem darauf aus sind, herrschaftstechnisches Wissen zu generieren (z.B. Governance), sondern seine eigene Agenda setze.

Charakteristisch für die hochintellektuelle Unabhängigkeit ist die Jubiläumsnummer der New Left Review allemal, hier fehlen Selbstbeweihräucherung oder Lobhudelei. Während die New Left Review Lesegruppe auf Facebook noch damit angibt, dass die NLR die intelligenteste politische Zeitschrift der Welt sei, feiert die Jubiläumsnummer den 50. Geburtstag, indem sie die wichtigsten lebenden MarxistInnen zu Wort kommen lässt und sich großer Themen annimmt. Das Motto der Jubiläumsnummer scheint zwar zu sein: Trau keinem unter 60, aber wenn man Eric Hobsbawm, Stuart Hall oder Perry Anderson unter den Beiträgern hat, dann ist das eine lässliche Sünde, zumal diese einmal mehr beweisen, dass intellektuelle Offenheit und kreatives Theoretisieren altersunabhängig ist.

In einem Interview über die Situation der Linken weltweit zeigt der 1917 geborene Historiker Hobsbawm, dass die globale Perspektive eigentlich schon immer zu den besten Tugenden der unabhängigen marxistischen Linken gehört hat. Perry Anderson vergleicht im hochdifferenzierten Aufsatz die russische mit der chinesischen Revolution und verfolgt die Geschichte der Staaten, die aus diesen hervorgingen bis in die Gegenwart. Tariq Ali analysiert die Lage im arabischen Raum im Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt und der US Außenpolitik. Susan Watkins zeigt in ihrem Editorial, dass luzide Analysen kein Privileg in Ehren ergrauter männlicher Meisterdenker sind. Ausgehend von der gegenwärtigen Hegemoniekrise des Neoliberalismus verbindet sie einen wirtschaftspolitischen Rückblick und Ausblick mit einer Diskussion von Geschichte und Zukunft der NLR. Sie konstatiert, dass die Parallele zwischen 1960, dem Gründungsjahr von NLR, und dem Jahr 2010 darin besteht, dass es Tauwetter gibt, d.h. die Hegemonie der herrschenden Ideologien anfängt zu bröckeln, womit auch der Spielraum für das Überleben des unabhängigen linken Denkens und der NLR wieder besser geworden sei. In den horriblen neunziger Jahren sah es damit nicht gut aus, es schien vielmehr so, als sei der Triumphzug des Neoliberalismus unaufhaltbar, sagt Watkins, vor allem nach dem die europäischen Sozialdemokratien sich mit diesem verbündeten und aktiv daran arbeiteten, die Errungenschaften des Sozialstaats und der linken Kultur, für die Generationen ihrer eigenen Leute gekämpft hatten, zu zerstören.


Die neue Linke und das neue Denken

Gegründet wurde die Zeitschrift allerdings in einem Klima des Aufbruchs, das um einiges optimistischer gestimmt war, als die heutigen Zeiten. Stuart Halls dichter und komplexer Beitrag zur Jubiläumsnummer analysiert den sozial- und ideengeschichtlichen Hintergrund der Entstehungsgeschichte der NLR. Er verortet den Ursprung der Zeitschrift im Jahr 1956, als die Suezkrise und der sowjetische Einmarsch in Budapest vielen Linken endgültig die Illusionen über das kapitalistisch-wohlfahrtstaatliche England und den realexistierenden Sozialismus austrieb. Viele Mitglieder der CPGB, der kommunistischen Partei Großbritanniens, traten damals aus und suchten neue Zusammenhänge und Publikationsmöglichkeiten.

Auf der anderen Seite regte sich viel Unzufriedenheit mit der Staatsgläubigkeit und der autoritären Weltsicht der Labour Party. In der NLR wurde ein Stück weit das linke Denken neu erfunden und alles was später unter den linken Theoretikern und Wissenschaftlern Rang und Namen hatte, war in den frühen sechziger Jahren mit Aufsätzen vertreten, z.B. E. P. Thompson, Eric Hobsbawm oder Raymond Williams, daneben aber auch SchriftstellerInnen wie Doris Lessing. Die Mehrheit der AutorInnen bestand aus MarxistInnen aber auch KeynesianerInnen waren vertreten, wie die berühmte Ökonomin Joan Robinson. Die überwiegend jungen Leute, die die Zeitschrift damals machten, kamen von renomierten Hochschulen, waren aber gleichzeitig Außenseiter, weil sie, wie Hall, aus den Kolonien kamen oder jüdischer Herkunft waren. Das bewahrte sie damals davor, die Arbeiterklasse zu sehr zu idealisieren, bekamen sie doch die fremdenfeindlichen und rassistischen Züge der working class culture relativ häufig zu spüren.

Hall weist auch auf den ideologischen Einfluss der kleinen kommunistischen Partei hin, die sich bereits früh von der Gängelung durch Moskau löste und einen britischen Weg zum Sozialismus propagierte. Einig war man sich in der Frühphase der New Left Review darüber, was man nicht wollte: Realexistierenden Sozialismus und realexistierenden Fordismus. Die Debatte über den Status Quo wurde vom ersten Chefredakteur Stuart Hall forciert; bald gründeten sich mit dem Journal verbundene New Left Clubs, in denen auch zahlreiche Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre, z.B. die Frauenbewegung ihren Ausgang nahmen.

Die intellektuelle Stärke der NLR und der neuen Linken war die enge Verzahnung von Bewegung, Kultur und Politik. Anders als in Westdeutschland der Sechziger und Siebziger, wo die Marxisten vor allem politische Ökonomie betrieben und die Kultur der Frankfurter Schule überließen, die wiederum wenig mit konkreter linker Politik anfangen konnte. Das Interesse auch an Alltagskultur ermöglichte ganz andere Anschlüsse an die Sozialwissenschaften, als das in der jungen Bundesrepublik der Fall war, was sich nicht zuletzt im legendären Centre for Contemporary Cultural Studies ausprägte, das Stuart Hall ab 1968 leitete.


Zukunftsperspektiven

Parteipolitisch führte und führt in Großbritannien kein Weg an der Labour Party vorbei, das spricht Hall in seinem Artikel auch an. Die Protagonisten von New Left Review haben es aber in der Vergangenheit oft geschafft, in die Labour Debatten hineinzuwirken, ob sie in der Partei waren oder nicht. Wenn im Mai 2010 Labour die Regierungsmehrheit verliert, dann beginnt auch der Wettlauf darum, wer es schafft, der intellektuell vollkommen ausgelaugten Partei neues Leben und neue Theorien einzuflößen. Im Unterschied zu den sozialdemokratischen Formationen in Deutschland, Italien oder Frankreich ist die Labour Linke theoretisch vollkommen auf den Hund gekommen. Hier hat die NLR gute Chancen wieder zu direkter politischer Relevanz zurückzufinden, denn abgesehen von den Blättchen der linksradikalen Sekten gibt es keine Zeitschriften mehr, die sich um linke Theorieproduktion kümmern. In den nächsten Jahre wird also das alte Spiel des Ringens um Einfluss in der Labour Party, das Stuart Hall mit one foot in - one foot out charakterisiert hat und das durch Doris Lessing bereits Eingang in die Literatur gefunden hat, wieder losgehen. Wenn dies gut läuft, dann wird New Left Review in 10 Jahren vielleicht noch mehr Grund haben zu feiern, wenn nicht, dann gibt es auch so genug Themen, die dringend der Analyse bedürfen.

Denn die offenen Zukunftsfragen, die Susan Watkins in ihrem Editorial formuliert hat, sind gewichtig: Wie entwickeln sich Wirtschaft und Krise weiter? - Gibt es eine Abkehr vom Neoliberalismus oder die reichlich paradoxe Konstruktion eines regulierten Neoliberalismus? Ist mit dessen Hegemoniekrise auch die weltweite US Hegemonie beendet? - Wird es zukünftig eine zwischen den USA, der EU und/oder China geteilte Hegemonie geben? Bleibt der Shareholder Value und damit die immer weiter vorangetriebene Enteignung der arbeitenden Klassen weiter die Maxime des wirtschaftlichen Handelns oder wird es gelingen, dass diese nicht alleine die Kosten der Krise tragen? Wie entwickelt sich die Emanzipation der Frauen weiter? Wenn es der NLR gelingt, all diese Fragen mit der ihr eigenen intellektuellen Rigorosität zu beantworten, kann man gespannt auf die Zukunft der Zeitschrift sein.

Dr. phil. Christina Ujma ist Wissenschaftlerin und Publizistin und lebt in Berlin.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2010, Heft 177, Seite 55-58
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2010