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REZENSION/028: "Das Böse - Warum Menschen Menschen töten" (arte) (SB)


Das Böse - Warum Menschen Menschen töten



Mit "Das Böse - Warum Menschen Menschen töten" hat die Dokumentarfilmerin Karin Jurschick eine uralte Frage aufgegriffen, an der sich schon zahllose Theologen, Psychologen und Mediziner, aber auch Künstler, Romanschriftsteller und andere Medienschaffende versucht haben. Als Erklärung, warum Menschen "böse" sein können, werden in der Dokumentation vor allem genetische und Umwelteinflüsse - das heißt die Sozialisation und hier vor allem die frühkindliche Prägung sowie Erfahrungen des Heranwachsenden - genannt.

Nahlah Saimeh, Ärztliche Direktorin der Forensischen Psychiatrie Lippstadt, vertritt den Standpunkt, daß es sich bei ihren Patienten im Grunde genommen um Menschen wie du und ich handelt. "Die sehen genauso aus und sie haben sehr viel mehr (...) Gemeinsamkeiten mit uns als Trennungsmerkmale." Eine ähnliche Aussage trifft Harald Welzer. Der Sozialpsychologe berichtet über das 500 Mann starke Reservepolizeibattailon 101 aus Hamburg während der nationalsozialistischen Zeit. Von diesen Männern hätten nur ein oder zwei Handvoll von dem Angebot, nicht an Massenerschießungen teilnehmen zu wollen, Gebrauch gemacht. Unter anderem daraus zieht Welzer den Schluß, daß das Töten im Menschen angelegt ist.

Der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen geht davon aus, daß das menschliche Verhalten zu einem Drittel durch die Genetik und zu zwei Dritteln durch Umwelteinflüsse bestimmt wird. Letztere veränderten aber das Gehirn so, als wenn es genetisch determiniert wäre. Sprecherin: "Zwischen den Theorien, die die Sozialisation für kriminelles Verhalten verantwortlich machen, und den Ideen der Hirnforscher, gibt es demnach keinen Widerspruch."

Die ehemalige Leiterin der Sozialpsychiatrischen Abteilung des Gefängnisses Straubing, Susanne Preusker, die vor drei Jahren von einem Häftling als Geisel genommen, sieben Stunden lang mit dem Tod bedroht und mehrfach vergewaltigt wurde, spricht bei Menschen von einem "Restrisiko", das nie ganz ausgeschlossen werden könne. Aber bei diesem Häftling hätte sie das Restrisiko für sehr gering erachtet. Preusker gehört die Schlußaussage, von der man annehmen kann, daß sie nicht nur ihr persönliches Resümee, sondern auch das der Dokumentation sein soll: "Nichts ist sicher, nichts ist sicher, das fand ich sehr, sehr schwer."

Als persönliches Bekenntnis ist diese Aussage absolut glaubwürdig. Als Schlußfolgerung der gesamten Dokumentation hingegen weniger. Man könnte schon eine etwas kritischere Reflexion der heutigen Forschungsmethoden, mit denen "das Böse" aufgespürt werden soll, erwarten. Denn abgesehen davon, daß Forscher allein schon aus berufsständischen Gründen die Neigung verspüren, Perspektiven auf weitere, angeblich unbedingt notwendige Forschungsaufgaben zu eröffnen, vermittelt die in dem Film selten genug zum Ausdruck gebrachte Unsicherheit der Expertinnen und Experten nicht den Eindruck, als hinterfragten diese ihren Forschungsansatz. Vielmehr kam der Eindruck auf, als glaubten sie, sie seien sie mit ihrem ganzen apparativen Aufwand in der Lage, das Böse im Gehirn zu verorten, und ihm schon ein gutes Stück nähergekommen.

So glaubt der Hirnforscher Roth, daß eine geringe bzw. keine Aktivierung einer insulärer Cortex genannten Region im menschlichen Gehirn auf eine Gefühllosigkeit des Betreffenden deutet, was dann in der Folge mit mangelndem Mitleid und Kriminalität assoziiert wird. Und die Neurowissenschaftlerin Hedwig Eisenbarth von der Universität Regensburg, die mit Hilfe der Eye-tracking-Methode herauszufinden versucht, wohin eine Person innerhalb der ersten Bruchteile einer Sekunde, nachdem ihr ein Gesicht auf einem Computerschirm gezeigt wurde, unwillkürlich den Blick lenkt, meint, daß gesunde Menschen zuerst auf Augen und Mund schauten. Eisenbarths These: Psychopathen gucken später auf die emotionalen Reize des Gegenübers; die Hirnfunktionen dahinter sind eingeschränkt.

Sprecherin: "Schon lange haben Wissenschaftler versucht, dem Bösen auf die Spur zu kommen. Sie wollten in das Gehirn eindringen, um es zu verstehen. Doch die Technik war noch nicht so weit." Ist sie es denn heute? Worin unterscheiden sich prinzipiell solche zielführenden Experimente, in denen das vermutete (oder erwünschte?) Ergebnis in die Voraussetzungen des Versuchs einfließt, von den Bemühungen der Wissenschaftler in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, das Böse beispielsweise anhand physiognomischer Merkmale des Menschen ausfindig machen zu wollen? Mögen die heutigen Experimente auch komplizierter erscheinen, die Grundidee, "das Böse" auf diese Weise bestimmen zu können, ist die gleiche.

Im übrigen wird bereits mit dem Titel der arte-Dokumentation eine Annahme vorausgesetzt, die an keiner Stelle des Films ernsthaft hinterfragt wird. Zwar äußern sich die Expertinnen und Experten zum "Bösen", aber ihre kritische Einschätzung beschränkt sich darauf zu erklären, daß das Böse eigentlich normal ist und es mehr Gemeinsamkeiten zu "uns" als Unterschiede gibt. In solchen nach Hannah Arendts Buch "Eichmann in Jerusalem. Bericht von der Banalität des Bösen" (1963) keineswegs neuen Erkenntnissen steckt eine klare Abgrenzung: Wir und die anderen.

Die Psychopathen sind noch immer die Bösen, vor denen sich die Gesellschaft der Guten zu schützen habe. Wenn es der Standpunkt von Nahlah Saimeh gewesen sein sollte, das Stereotyp des Psychopathen als "Monster" aufzubrechen, so hinterläßt die Dokumentation, so sehr sie sich um eine moderate Präsentation bemühte, insgesamt einen anderen Eindruck.

Das liegt vor allem am unreflektierten Postulat des Bösen, als wenn an dessen Existenz kein Zweifel bestünde. "Hat das Böse überhaupt ein Gesicht?", wird beispielsweise in der Moderation zu Beginn der Sendung gesagt. Und etwas weiter, als die Kamera das Gefängnis Straubing zeigt: "Hier zumindest scheint das Böse unter Kontrolle. Doch genau hinter diesen Mauern passiert am 7. April 2009 das Unvorstellbare." Selbst die Aussage der Moderatorin, "was das Böse ist, ist immer eine Frage der Definition", trägt eher zur Verklärung des vorherrschenden Weltbilds bei, wird darin doch die Existenz des Bösen schlicht und einfach vorausgesetzt.

Aber spiegelt nicht die Vorstellung vom Bösen schon immer die Sichtweise derjenigen wider, die für sich die Seite des Guten reklamieren? Kam das Böse nicht erst in die Welt, nachdem das Gute postuliert wurde? Und wird es nicht immer wieder von neuem auf eben diese Weise erschaffen?

Die systematische Massenvernichtung der Juden und anderer marginalisierter Gruppen im nationalsozialistischen Deutschland, auf die in der Dokumentation rekurriert wird, fand nicht im Namen des Bösen statt, sondern in dem des Guten. Das festzustellen könnte weitreichendere Konsequenzen haben. Auf die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse bezogen wäre zu fragen, wo überall werden im Namen des Guten Menschen getötet? Wer entscheidet über Gut und Böse, wenn nicht derjenige, der sich durchsetzt?

Es wird vermutlich nicht die letzte Sendung sein, die sich an dem Begriff des Bösen abarbeitet, ohne das dahinterstehende dualistische Denkkonzept kritisch zu reflektieren. Doch allein dafür, Fragen aufzuwerfen, die über die Aussagen der Dokumentation hinausführen, könnte es sich lohnen, die Sendung anzuschauen.




Das Böse

Warum Menschen Menschen töten

Dokumentation von Karin Jurschick

Arte / ZDF, Deutschland 2012, 52 Min.

Erstausstrahlung: 5. Juli 2012, 21.40 Uhr

3. Juli 2012