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INTERVIEW/001: Chefdramaturg Manfred Hess zur Hörspielpremiere des "Ulysses" 2012 (SB)


Homer als Rezeptionshindernis



Mehr als zwei Jahre Vorbereitungs- und Produktionszeit und 250.000 Euro haben SWR2 und Deutschlandfunk gebraucht, um eines der schwierigsten Stücke moderner Literatur in einer ersten deutschen Hörspielfassung auf die Bahn zu bringen, den "Ulysses" von James Joyce. Zur Premiere dieses größten Hörspielprojekts, das je eine deutsche Radioanstalt unternommen hat, hatten die koproduzierenden Sender zu einer "Open Listening Party" ins Hauptstadtstudio der ARD nach Berlin eingeladen.

Am Bloomsday, dem 16. Juni, jenem Tag, an dem Fans des "Ulysses" und Anhänger von James Joyce auf der ganzen Welt der Irrfahrten des Romanprotagonisten Leopold Bloom durch Dublin im Jahre 1904 gedenken, konnte sich, wer immer wollte, von 8:00 Uhr an bis in die frühen Morgenstunden des folgenden Sonntags in entspannter Atmosphäre einhören. Am Rande des Premierenereignisses hatte der Schattenblick die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem für diese Produktion verantwortlichen Dramaturgen Manfred Hess vom SWR.

Manfred Hess - Foto: © 2012 by Schattenblick

Manfred Hess
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Kaum jemand wird erwarten, daß sich ein Hörer 22 Stunden Radio non-stop erlauben, geschweige denn so etwas ertragen kann. Welche Erwartungen verknüpfen Sie mit dem heutigen Event?

Manfred Hess (MH): Wir rechnen eigentlich nicht damit, daß die Leute tatsächlich die Audio Lounge stürmen, wenn es nicht die Engländer sind, als Usurpatoren im Sinne Biermanns. Wer, aufmerksam geworden durchs Radio, durch die Printmedien oder durch unser Internetangebot, mal 'reinhören möchte, dem bieten wir die Chance. Es wäre doch fatal, wenn wir das Hörspiel, das der Grund ist, weshalb wir hier sind, nicht präsent hätten. Man kann hinkommen, reinhören, und sei es auch nur eine Folge, und wieder rausgehen. Das bietet sich bei Joyce ja auch an, weil die Kapitel in sich abgeschlossen sind. Natürlich ersetzt das nicht die Lektüre, genauso wenig wie wir als Hörspielmacher die Lektüre von Joyce ersetzen, aber wir wollen eine Alternative bieten, die Leute dazu bringt: Oh, das ist ja gar nicht so schwer. Oh das ist ja wunderbar. Dazu haben wir das Werk in ein anderes Medium übertragen, was Tradition in der Literatur hat. Seit dem Beginn des Radios in den 20er Jahren gab es im Programm nicht nur Originalhörspiele, sondern immer wieder gleichzeitig die Form, so wie auch im Theater, Stoffe der Weltliteratur oder des zeitgenössischen Theaters oder auch einen Roman als Hörspieladaption anzubieten.

SB: Verstehen Sie diese Hörspieladaption als eine Art Lesehilfe?

MH: Nein, wir verstehen sie als eigenständige Lesart, so wie eine Filmadaption. Wir versuchen, nach den Gesetzen des Hörspiels einen Stoff, in diesem Fall den "Ulysses", so adäquat ins Hörspiel zu übertragen, daß wir eine sinnliche Entsprechung haben. Das kann die Lektüre nicht ersetzen, aber es kann auch ohne Lektüre gehört werden.

SB: Vielen galt und gilt der "Ulysses" als nicht lesbar, enthält er doch auf gut 1000 Seiten Tabubrüche nicht nur moralischer, sondern vor allem auch stilistischer und sprachlicher Art.

MH: Richtig.

SB: Bei vielen hat das Vergnügen, ein unanständiges Buch zu lesen, die Anstrengung nicht aufgewogen. Deshalb sagt man vom "Ulysses", es sei ein Buch fürs Regal, das aber kaum jemand ganz gelesen hat, eben weil es nicht lesbar ist. Stimmt das überhaupt?

MH: Nein, das stimmt gar nicht. Der "Ulysses" ist lesbar und es gibt auch viele Leute, die ihn lesen. Aber er ist kein Bestseller in dem Sinne, wie das Geisterhaus oder Balzac. Selbst den Proust haben viele nicht zu Ende gelesen, weil er inkommensurabel ist, auch Musil ist nicht zu Ende gelesen worden. "Ulysses" ist eines der wenigen Bücher, in die nicht einfach so reinzukommen ist, es hat keine Storyline. Tatsächlich ist es bei der modernen Literatur wie in der modernen Kunst: Man muß sich darauf einlassen, die Kunst zu entziffern oder die Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Fritz Senn, der Meister der Joyce-Rezeption, sagt immer: "Ulysses" ist eigentlich ganz einfach: Wenn man sich auf die Gesetze einläßt, entdeckt man eine neue Welt. Aber wie bei allen großen Werken, selbst der Faust II ist vielfach ungelesen, darf man eben nicht erwarten, daß sie immer eingängig sind. Es braucht eine Mühe, es braucht eine Anstrengung und dann wird man auch entlohnt, davon bin ich überzeugt.

SB: Gerade zum "Ulysses" gibt es viele Lesehilfen, von James Joyce selbst zum Beispiel das sogenannte Gilbert-Schema, das er für seinen Freund Stuart Gilbert als eine Art Fahrplan durch den Roman gemacht hat. Auch Ihre Hörspielfassung hat einen "Hörplan" als Begleiter, den ich übrigens ausgezeichnet finde, der auf kleinem Raum den Inhalt des jeweiligen Kapitels, die homerische Folie und die Erzählweise, die ja im "Ulysses" sehr verschieden ist, kurz umreißt. Braucht der Roman so einen Plan oder kann man ihn nicht auch einfach so hören?

MH: Sie haben vollkommen recht, da sind wir immer hin und her gerissen. Wir haben ja auch die Aufgabe, Barrieren einzureißen, Leuten etwas nahe zu bringen. Das heißt aber nicht, ein Werk zu erklären oder überhaupt in Konkurrenz zu treten zur akademischen Sekundärliteratur, sondern nur zu zeigen, bitte habt keine Angst davor, guckt es Euch an, laßt Euch drauf ein, auch wenn die Sprache schwierig wird. Bei Joyce wird die Sprache ja selbst zum Thema. Es ist kein Abbildrealismus, der etwas beschreibt, sondern bei ihm konstruiert die Sprache die Wirklichkeit. Wie der alte Brecht sagte: Ich kann keine Fabrik mehr einfach fotografieren, sondern ich muß schauen, wie die Fabrik von innen funktioniert. Im Grunde kann man, ganz ohne sozialistischen oder materialistischen Hintergrund, sagen: Joyce bietet das an, was Brecht für seine Verfremdungstheorie einfordert, nämlich eine Wirklichkeitsdarstellung, wo die Leute unbehaust sind, wo sie gezeigt werden in ihren kleinen Krisen, in ihrer Heimatlosigkeit, aber als Konstrukt der Sprache. Musil sagt so schön: Man muß die transzendentale Obdachlosigkeit aushalten. Dann beginnt es vielleicht, interessant zu werden.

SB: Könnte denn diese transzendentale Obdachlosigkeit, die in der Vereinzelung und Vereinsamung des Menschen heute ihre gesellschaftliche Entsprechung findet, ein neuer Boden sein für ein "Ulysses"-Verständnis, das frühere Generationen vielleicht nicht hatten, die sich sehr schwer getan haben, die nicht selten verstört und mit Ablehnung und Überforderung reagiert haben - James Joyce als ein Dekonstrukteur par excellence?

James Joyce - Foto: 2012 by Schattenblick - © The Poetry Collection of the University Libraries, - University at Buffalo, The State University of New York

James Joyce
Foto: 2012 by Schattenblick
© The Poetry Collection of the University Libraries,
University at Buffalo, The State University of New York

MH: Ich habe lange überlegt, ob ich das ins Vorwort schreibe, daß er eigentlich der erste richtig postmoderne Autor ist, weil er nämlich keinen großen Kosmos anbietet. Und auch wenn man Details dann nicht ganz versteht, er bietet eigentlich immer einen Zugang. Er bietet eine epische Beschreibung der Welt, aber er weiß, daß sie nicht mehr episch zu beschreiben ist. Sie haben vollkommen recht mit dem, was Sie da sagen: Er dekonstruiert im Grunde Wirklichkeit.

SB: James Joyce hat einmal gesagt, er werde Generationen von Literaturwissenschaftlern und Kritikern mit der Deutung seines Werkes beschäftigen und sich auf diese Weise unsterblich machen. Ist er ein Schelm, ein Sprachgenie oder einfach nur ein guter Akquisiteur in eigener Sache?

MH: Wenn Künstler über sich selber reden, sind sie - modern gesprochen - im inszenatorischen Modus. Dann versuchen sie sich natürlich in dem Sinne unsterblich zu machen, entweder durch einen Ausspruch, den sie gut überlegt haben oder durch Legendenbildung. Ich glaube, daß Joyce einfach sagen wollte: Seht her, ich habe hier ein Epos geschaffen, womit man sich noch in 200, 300 Jahren beschäftigen kann. Warum? Weil es immer wieder Elemente gibt, die aktualisiert werden können. Aber mehr ist es nicht.

SB: Umgekehrt gibt es ja diese Resonanz im Literaturbetrieb, so viele Interpretationen, Deutungen und theoretische Auseinandersetzungen auf ein Werk zu packen, daß man die Lust daran verliert.

MH: Richtig.

SB: Und ein Buch, das sich mir erst erschließt, wenn ich lauter theoretische Abhandlungen lese, das will ich eigentlich nicht lesen, jedenfalls nicht zum Vergnügen.

MH: Sie haben vollkommen recht. Deshalb wollten wir keinen großen Interpretationsappendix mit Anmerkungen geben, sondern wir wollten Zuhören ermöglichen. Ich hör einfach 'mal rein, entweder werde ich über den Sound verführt, die Sprache. Wie alle theatralen oder auch inszenatorischen Interpretationen bieten wir eine Lesart des "Ulysses" an, die vielleicht ein bißchen einfacher ist, als wenn ein Anglist es liest. Es muß zumindest partiell eine Art von Unmittelbarkeit geben, von Eingängigkeit: "Ach so ist das, ach das ist ein innerer Monolog!"

Wer klassisches Erzählen gewohnt ist, der muß im Grunde selber seine Spur suchen. Und das ist natürlich etwas Supermodernes. Die Wirklichkeit muß in der Aneignung des Romans erst konstruiert werden. Das ist ein ganz anderer Rezeptionsmodus.

SB: Der Schweizer Publizist und James-Joyce-Kenner Fritz Senn spricht davon, daß sich dieses Werk noch weniger als andere Literatur in seiner ganzen Vielfalt übersetzen, dramatisieren, verfilmen oder illustrieren ließe. Alle derartigen Versuche blieben ein schwacher Abglanz. Das verleitet natürlich zu der Frage, ob Ihr Unternehmen ein mutiges oder vielleicht sogar ein wenig wahnwitziges Unterfangen war.

MH: Das ist eine schöne Frage. Erstens wahnwitzig, weil es ja auch nicht einfach ist, so ein Projekt innerhalb eines Senders durchzubekommen, gerade bei einem angeblich so schweren Roman. Aber wir verstehen uns ja nicht unbedingt als eine Adaptionstechnik von Bestsellern, sondern wir haben auch einen Auftrag, Bildung eben auch auf vergnügliche oder auch inszenatorische Weise zu vermitteln. Und wir glauben, daß es sich lohnt, sich auch mit Stoffen auseinanderzusetzen, die schwierig sind. Diese Schwierigkeit ist eigentlich die Herausforderung, der wir uns stellen wollten. Und nicht zu sagen, wir setzen auf das, was sowieso läuft.

Natürlich erwarten wir jetzt keine 100.000 Hörer, auch keine 50.000, aber wenn es 10-, 15-, 20.000 Hörer werden - das ist immerhin so viel wie in einem mittleren Fußballstadion -, die wieder einen Zugang zu "Ulysses" finden, ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, erfüllt. Natürlich ist es ein wahnwitziges Projekt und zugegebenermaßen ein scheitern-müssendes Projekt, weil es eben eine Adaption ist. Aber es geht vielleicht auch darum, auf welchem Niveau man scheitert.

Manfred Hess mit SB-Redakteurin - Foto: © 2012 by Schattenblick

Manfred Hess mit SB-Redakteurin
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Das Kulturradio Berlin-Brandenburg startete am 16. April mit der Lesung des "Ulysses" in einer ersten ungekürzten deutschen Hörfassung in über 80 Folgen. Ist diese zeitliche Nähe desselben Themas das Ergebnis mangelnder Absprache, sinnlose Konkurrenz, Zufall oder eine Ergänzung mit Synergieeffekten?

MH: Das ist eine sehr schwierige Frage, da ist man auch innerhalb der Sender unterschiedlicher Meinung. Es gibt zwei Antworten. Die eine sagt: Es ist sinnvoll, daß diejenigen, die sich den Joyce puristisch erschließen wollen, eine Lesung haben. Obwohl ich glaube, daß das lesemäßig nicht geht, weil man immer wieder in eine interpretatorische Form geht in Raum, Geschichte usw. Der Text selbst widerspricht eigentlich einer klassischen Lesung, auch wenn Joyce selber einiges vorgetragen hat. Aber gleichwohl, Hörspiel ist nicht Lesung und von daher finde ich das eine sinnvolle Ergänzung. Die zweite Sache ist: 2013 wird es bei Suhrkamp eine neue, kritische Ausgabe mit zusätzlichen Texten geben. Wollschläger hatte ein paar Passagen nicht übersetzt und ein paar Sachen wird man vorsichtig angleichen. [1]

Da kann man sich durchaus fragen, warum man die Lesung nicht dann macht, vollständig und nach dem neusten Stand. Andererseits ist es natürlich so, daß die Kollegen vom RBB zurecht überlegten: Wenn wir zu spät sind mit der Lesung, kann es sein, weil die Urheberrechte erloschen sind, daß dann irgendjemand eine Billigversion macht. Und die würde dann die Seriosität, mit der die RBB-Lesung geleistet worden ist, untergraben. Ich habe sie selber gehört und finde sie wirklich interessant. Sie ist eine wunderbare Ergänzung und kann natürlich auch zu Synergien führen, weil die Lesung vielleicht Lust aufs Hörspiel macht, das Hörspiel macht vielleicht Lust auf die Lesung.

SB: Und würden Sie mit diesen Argumenten auch dem Vorwurf begegnen, es würden sinnlos öffentliche Gelder vergeudet?

MH: Ja, auf jeden Fall. Es gibt bei vielen Produktionen - Musil, Tolstoi, Dostojewski, um nur einige zu nennen - sowohl vollständige Lesungen als auch Hörspielfassungen. Eine Lesung ist etwas komplett anderes als ein Hörspiel. Von daher ist es keine sinnlose Vergeudung. Weil es eben unterschiedlich ist. Ein Hörspiel geht so stark in den interpretatorischen Fokus, es verkürzt, es ist die ureigene Kunstform des Radios. Und es gibt verschiedene Formen, sich diesem - und es ist nun mal ein inkommensurables - Werk zu nähern.

SB: Das Radio ist ja das Hör-Medium par excellence. Wenn man sich die gesellschaftliche Entwicklung betrachtet, scheinen die Fähigkeiten des Hörens und Zuhörens verloren zu gehen. Entweder lohnt es sich nicht mehr, zuzuhören, oder die Menschen können 's nicht mehr. Wie kann man mit einem solchen Stoff die Lust am Zuhören neu installieren?

MH: Da muß ich Ihnen widersprechen. Gerade in den heutigen Zeiten erleben wir, daß Jugendliche, wenn man ihnen in dieser bilderbetonten und -dominierten Welt etwas zu hören gibt, sehr konzentriert sind. Es ist nur das Erscheinungsbild, aus dem man (falsche) Rückschlüsse zieht. Das Radio als Transmitter, als einfaches Übertragungsmedium, muß eine andere Gestalt gewinnen. Gehört wird heute relativ viel, aber zeitunabhängig. Wenn Sie sich die Downloadzahlen von unterhaltsamen Geschichten wie dem Radio-Tatort ansehen, dann sind das eine Million. Und wenn ein beim SWR produziertes Hörspiel beim WDR, beim Hessischen Rundfunk oder in Bayern wiederholt wird, kommen sie plötzlich auf 100.000 bis 120.000 Hörer.

Das klingt natürlich nicht viel, aber für den Kulturbereich ist es viel; das schafft kein Theater. Man denkt, die Leute hören nicht mehr, aber das stimmt nicht, sie hören relativ viel. Das zeitunabhängige Hören ist ein großer Vorteil für uns, aber es gibt kein Feedback mehr in dem Sinne. Hören ist etwas Autistisches geworden. Man ist in seiner eigenen Welt, redet auch gar nicht so gerne drüber, weil man auch in gewissem Sinne überwältigt wird, anders vielleicht als beim Film. Ich glaube, daß es viele Leute gibt, die hören. Sie hören vielleicht nicht mehr nur das Einschaltprogramm, sondern sie wünschen sich ein zeitunabhängiges Zuhören.

SB: Beim WDR Kulturradio gibt es eine Aktion, die sich "Die Radioretter" nennt. Da haben über 20.000 Menschen unterschrieben für den Erhalt politischer und kultureller Sendeplätze im Rundfunk. Gibt es in Ihrem Sender etwas Vergleichbares? Oder besteht keine Notwendigkeit?

MH: Beim SWR gibt es im Augenblick keine Notwendigkeit, würde ich mal sagen. Wir haben Sendeplätze von 50 Minuten oder Kurzhörspiele von 20, 30 Minuten bis hin zu Terminen mit 110 Minuten. Beim SWR sieht es eigentlich sehr gut aus, auch was die Formatierung betrifft. Man hat eine breite Angebotspalette, so daß wir nicht die Befürchtung haben, daß das Programm, was, ähnlich wie beim Deutschlandfunk, ein durchaus klassisches, kulturorientiertes ist, sich so den Dingen nähert wie in Köln. Es funktioniert, es hat seine Hörer, hat seine Akzeptanz.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie haben nicht zum ersten Mal als Dramaturg mit Klaus Buhlert, der Regie geführt hat, zusammengearbeitet. Was schätzen Sie an Klaus Buhlert, was schätzen Sie an der Zusammenarbeit ganz besonders?

MH: "Ulysses" ist ja nicht vom Himmel gefallen. Klaus Buhlert hatte bereits Sachen gemacht wie Raoul Schrotts "Ilias". Er hat Bernward Vespers "Die Reise", eine Rock'n'Roll-Nummer, virtuos umgesetzt, er hat klassische Formen gemacht, Hermann Brochs "Schlafwandlertrilogie" oder Hofmannsthal. Also all die Stillagen, kann man sagen, die bei Joyce in einem seiner Kapitel bestimmend sind. Und nachdem die Zusammenarbeit mit Klaus Buhlert sich als sehr positiv erwiesen hat - wir kommen beide vom Theater, sind also Quereinsteiger innerhalb des Rundfunks -, lag bei der Frage: Wer kann so ein Projekt machen? die Überlegung nahe, ihm den Auftrag zu geben. Was ihn ausweist, ist, daß er ein exakter Leser ist. Es ist ganz wichtig, einen Regisseur zu haben, der das nicht so an sich reißt, daß das Original nicht mehr zu erkennen ist. Das war die Grundvoraussetzung, ein ganz wichtiges Moment, und das ist bei Klaus Buhlert gegeben. Es ist eben kein Regietheater. Und dazu ist er wohl der einzige, der in Personalunion Komponist ist und vom Theater kommt, was ganz wichtig für die Schauspielführung ist. Er verfügt über eine wunderbare Vernetzung innerhalb der Schauspielszene und er ist jemand, der nicht, wie im Alltagsgeschäft, mit Zweit-, Dritt-, Viertbesetzungen geht, sondern versucht, seine beste Besetzung zu realisieren. Natürlich ist es auch eine gemeinsame Tabori-Geschichte [2], die Tradition hat. Da ist ein Vertrauensverhältnis und auch eine Sprache entstanden, wo man sagt, okay, den Klaus Buhlert verpflichtet man, der wird nicht immer die gleichen SprecherInnen nehmen, aber man weiß um seine seriösen Arbeiten und um sein musikalisches Verständnis. Er ist auch jemand, der sich über die 8 Stunden, die ein normaler Studiotag lang ist, hinaus einsetzt, weil er nämlich die Möglichkeiten hat, in seinem Studio zu produzieren. Das führt auch, das muß man sagen, zu einer Kostenreduzierung. Es gibt, glaube ich, keinen unter den Regisseuren, der gleichzeitig Tonmeister gewesen ist, das ist ein Unikat. Buhlert braucht zwar auch ein Team, um Großprojekte zu realisieren, aber er ist kein Anfänger mehr, sondern blickt auf 20 Jahre Projektarbeit zurück. Und er ist derjenige, der auch von seiner Vita her dem Joyce den genügenden Respekt entgegenbringt.

SB: Joyce ist ja auch ein leidenschaftlicher Musiker gewesen, Viele sprechen von ihm als dem Tenor, der unter anderem auch ein paar Bücher geschrieben hat.

MH: Ja, genau.

SB: Auch von daher gibt es eine Nähe zu Klaus Buhlert. Welche Rolle spielt die Musik in Ihrer Hörspielfassung?

MH: Erst einmal spielt der Text eine entscheidende Rolle. Aber der ist, wenn man Joyce selber mal gehört hat, auch musikalisch. Die Musik hat hier eine doppelte Funktion. Zum einen versucht sie, Atmosphäre herzustellen, sie versucht, einen Kosmos zu erstellen, der aus dem Joyce'schen Werk gespeist wird, also die ganzen Musiken, die zitiert werden. Hier haben wir uns auf wenige Begleitmotive beschränkt. Die Musik ist, wie bei vielen Dingen und auch gerade beim Hörspiel, eine spannungstransferierende, atmosphärische, kann aber auch eigenständig werden. Sie kann ihre Gestalt wie Proteus je nach Aufgabenstellung variieren. Sie kann zitieren, was da anklingt, damit es nicht einfach nur gesprochen wird. Sie kann etwas hinzugeben, die Figuren charakterisieren. Und sie kann etwas verständlich machen, was eigentlich nicht zu verstehen ist. Das berühmte 14. Kapitel zum Beispiel, das ist nicht zu verstehen. [3] Ich gebe gerne zu, ich habe das beim ersten Lesen auch kurz angeschaut - und ich war über das Germanistik-Studium mit dem Mittelhochdeutschen sogar vertraut - und gedacht: Nee, das verschiebst du dir auf später. Für denjenigen, der daran Spaß hat, ist es ergötzend, aber für mich war es irgendwie unmöglich. Bei diesem Kapitel haben wir uns gefragt: Was machen wir damit? Wollen wir die Hörer rauswerfen? Wollen wir jetzt so puristisch sein, daß wir Joyce Joyce sein lassen, uns aber nicht mehr darum kümmern, an wen wir uns eigentlich richten? Und da haben wir eine Lösung gefunden - wie auch bei "Skylla und Charybdis", diesem schwierigen, literaturwissenschaftlichen Kapitel -, indem wir versuchen, den Geist der Kapitel zu transportieren. Da hat die Musik zum Beispiel eine autonome Funktion, eine metaphorische, verdichtende. Man versteht nicht immer alles, aber man kriegt mit, daß es um Liebe geht, um Fruchtbarkeit, ums Saufen, um eine Sprachgeschichte. Wenn uns das gelingt, haben wir die Aufgabenstellung gelöst, daß wir den ganzen "Ulysses" machen und gleichzeitig diese Kapitel nicht um Teufel-komm-raus am Hörer vorbei produzieren, sondern eine künstlerische Entsprechung setzen. Vielleicht ist es gelungen. So hat die Musik eigentlich eine dreifache Funktion: das Charakterisieren der Figuren, die Stimmungsgeschichte, damit man weiß, wo man ist oder eine Atmosphäre mitbekommt und daß sie Elemente des Buches in eine Klangwelt überträgt.

SB: Immer bleibt es eine Interpretation, gerade bei so einem komplizierten Buch. Wie auch der Stellenwert der klassischen Vorlage, die "Odyssee" des Homer, eine Frage der Interpretation bleibt.

MH: Ich glaube, Joyce wollte da einfach sagen, ich docke mich an die Anfangsgeschichte der Literatur, an die große zivilisatorische Kultur, an und arbeite das um. Das ist natürlich auch eine Strategie gewesen, sich im Kulturdiskurs zu verankern.

Heute besteht der Unterschied darin - ich habe das bei der "Ilias" gemerkt - daß das, was früher Standard war, daß jeder wußte, um welches Kapitel in der Odyssee es sich jeweils handelte, heute nicht mehr selbstverständlich ist.

SB: Und die Leute fragen: Homer, hä, wer ist das bitte?

MH: Eben deswegen führt diese Klärungsfolie, die eigentlich eine Stützfolie ist, heute dazu, daß man sagt, jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Soll das jetzt mit dem Homer zusammenhängen? Muß ich also erst den Homer lesen und dann erst den Ulysses? Das ist unsinnig. Fritz Senn sagt, ohne den Homer geht es auch. Er ist manchmal eine Assoziationsstütze, aber er ist auch ein Rezeptionshindernis.

SB: Herr Hess, wir bedanken uns ganz herzlich für dieses aufschlußreiche Gespräch.


Anmerkungen

[1] Die Übersetzung von Thomas Wollschläger aus dem Jahre 1975 war nicht die erste, galt aber als kongenial und wurde Grundlage für die meisten Adaptionen.

[2] George Tabori (1914-2007) war Dramatiker, Theaterregisseur, Drehbuchautor und Übersetzer ungarischer Herkunft. Seit 1969 arbeitete er als Theaterautor und Regisseur in Deutschland und Österreich. Klaus Buhlert lernte Tabori 1983 in London kennen und schrieb für ihn bis 1995 zahlreiche Bühnenmusiken.

[3] Im 14. Kapitel, Die Rinder des Sonnengottes, besucht Leopold Bloom die Frauenklinik, wo seine Bekannte Mrs. Purefoy einen Sohn zur Welt bringt. Der Assistenzarzt Dixon nimmt ihn zu einem Treffen von zechenden Medizinstudenten im Hinterzimmer mit. - Thema dieses Kapitels ist die Geschichte der englischen Sprache, vom Altenglischen beginnend und im Slang endend. Sie wird analog gesetzt zur Embryonalentwicklung eines Kindes.

ARD-Hauptstadtstudio - Foto: © 2012 by Schattenblick

ARD-Hauptstadtstudio
Foto: © 2012 by Schattenblick

25. Juni 2012