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ALTERNATIVMEDIZIN/240: Traditionelle chinesische Medizin und der "Schmetterlings-Effekt" (wissen|leben - WWU Münster)


wissen|leben - Nr. 8, 16. Dezember 2015
Die Zeitung der WWU Münster

Das Geheimnis der richtigen Zubereitung

Apotheker Dr. Jandirk Sendker über die traditionelle chinesische Medizin und den "Schmetterlings-Effekt"


Für die Entdeckung zweier Naturstoffe erhielten drei Forscher im Dezember den Nobelpreis für Medizin: William C. Campbell und Satoshi Omura teilen sich eine Hälfte des Preises für die Entwicklung eines Wirkstoffes gegen Fadenwürmer. Die Chinesin Youyou Tu wurde mit der anderen Preishälfte für ihre Entdeckung eines pflanzlichen Wirkstoffes gegen Malaria geehrt. Sie entdeckte ihn in einer Arzneipflanze der traditionellen chinesischen Medizin (TCM). Über deren Besonderheiten und die Prüfung ihrer Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Standards sprach Christina Heimken mit Apotheker Dr. Jandirk Sendker. Der Akademische Rat am Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie ist Koautor eines kürzlich erschienenen Artikels zum Thema TCM in einer Sonderbeilage des Fachmagazins "Science".


Zwei Naturstoffe, drei Nobelpreisträger - gibt es in der Pharmakologie einen Trend hin zum Naturstoff, also zum Biomolekül?

Der Trend ist nicht neu. Im frühen 19. Jahrhundert wurde mit Morphin erstmals eine isolierte organische Verbindung als Arzneimittel zugänglich. Sie stammt aus dem schon seit Jahrtausenden medizinisch verwendeten Schlafmohn. Insgesamt sind etwa 40 Prozent aller heute gebräuchlichen chemisch definierten Arzneimittel entweder Naturstoffe, oder sie leiten sich von Naturstoffen ab.


Das gegen Malaria wirksame Artemisinin, für dessen Entdeckung Youyou Tu den Medizin-Nobelpreis erhielt, stammt aus dem Einjährigen Beifuß. Diese Pflanze wird in der TCM als Heilpflanze gegen "wiederkehrendes Fieber" eingesetzt. Ein Beleg für die Wirksamkeit der TCM?

Nein. Der Wirksamkeitsbeleg einzelner traditioneller Arzneimittel oder Behandlungsmethoden kann nicht als Argument für die Wirksamkeit des Systems im Ganzen herangezogen werden - eines Systems, das schier unüberschaubar ist: Allein zur Verwendung pflanzlicher Arzneimittel in der TCM sind aus klassischen Texten Zehntausende von Zubereitungen überliefert. Das sind ganz überwiegend Kombinationen aus mehreren Materialien pflanzlichen, aber auch tierischen oder mineralischen Ursprungs. Aus diesen wird durch intensives Kochen ein wässriger Extrakt erzeugt. Dieser sogenannte Dekokt stellt das eigentliche Arzneimittel dar. Übrigens: Das Artemisinin hat in seiner heutigen Anwendungsform nichts mehr mit TCM zu tun.


Abgesehen von den theoretischen Erklärungsmodellen der TCM, auf die wir hier nicht eingehen - was unterscheidet den Einsatz pflanzlicher Wirkstoffe in der traditionellen chinesischen Medizin von dem in der westlichen Schulmedizin?

Die modernen westlichen Phytopharmaka enthalten typischerweise aufwendig industriell hergestellte Trockenextrakte und sind mit traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln nur bedingt vergleichbar. Stellt man die pflanzlichen Zubereitungen der TCM den europäischen Arzneitees gegenüber, fällt zunächst auf, dass die Dosierung in der TCM viel höher ist und die Mischungen über eine längere Zeit intensiv gekocht werden. Auch enthalten die TCM-Rezepturen oft recht giftige Pflanzenteile, die mit europäischen Sicherheitsmaßstäben kaum vereinbar sind. Eine einzigartige Besonderheit ist, dass Pflanzenteile vor ihrer Verwendung typischerweise durch sogenannte Paozhi-Verfahren vorbehandelt werden.


Was heißt das?

Das kann etwa Rösten, Dämpfen oder Verkohlen sein, teils mit Zusatz weiterer Zutaten wie zum Beispiel Reiswein oder Honig. Diesen Verfahren wird traditionell eine große Bedeutung für die Wirkung zugeschrieben. Ein Beispiel ist die Verarbeitung der Wurzelknollen einiger Eisenhut-Arten, während der außerordentlich giftige Inhaltsstoffe größtenteils abgebaut werden und das Material so überhaupt erst anwendbar wird. Aus denselben Rohmaterialien lassen sich durch Paozhi-Verfahren auch verschiedene Arzneien erzeugen, denen unterschiedliche Wirkprofile zugesprochen werden.


Das klingt als sei es nötig, auch die Methoden der Zubereitung unter die Lupe zu nehmen, um die Wirkungen in der TCM zu entschlüsseln ...

Ja. Erstaunlicherweise werden die Paozhi-Verfahren in wissenschaftlichen Studien erst seit wenigen Jahren beachtet. Die Verarbeitungsschritte und auch die exakte Reihenfolge der Zugabe der Zutaten beeinflussen die chemische Zusammensetzung des Produkts mehr oder weniger stark. Wie sich dies im Einzelnen auswirkt, ist noch weitgehend unbekannt. Wir wissen aber von beispielhaften Studien, dass es zu erheblichen Veränderungen der fertigen Arznei-Zubereitungen kommen kann. Man kann in diesem Zusammenhang sogar von einem "Schmetterlings-Effekt" sprechen. Gemeint ist: Schon Abweichungen während der ersten Zubereitungsschritte können am Ende die Wirksamkeit beeinflussen. Eine weitere Herausforderung: Vielfach ist zwar die Wirksamkeit von Zubereitungen gut belegt. Sie lässt sich aber oft nicht allein durch die Wirkung eines einzelnen Inhaltsstoffes oder einer Gruppe ähnlicher Inhaltsstoffe erklären. Solche Effekte finden sich nicht nur in der TCM. Auch von dem hierzulande gegen Depressionen eingesetzten Johanniskraut-Extrakt ist bekannt, dass seine Wirksamkeit von bestimmten Begleitstoffen abhängt, die für sich allein genommen keinen antidepressiven Effekt zeigen. Noch spannender wird es, wenn solche Begleitstoffe erst in der Kombination von zwei unterschiedlichen Arzneidrogen, also trockenen Pflanzen oder Pflanzenteilen, relevant werden.


Das chinesische Wissenschaftsministerium weist auf den Wert der traditionellen Methoden hin, fordert aber auch, die Wirksamkeit zu überprüfen und dabei wissenschaftliche Standards anzulegen ...

Experten bemängeln oft, dass die vorhandenen Studien zum Nachweis der Wirksamkeit pflanzlicher Zubereitungen nicht den modernen Qualitätskriterien genügen. Aus pharmazeutischer Sicht ist es ein sehr häufiges Problem, dass die verwendeten Zubereitungen nicht ausreichend charakterisiert sind. Mit anderen Worten: Gerade wegen der enormen Komplexität der Mischungen und der Gefahr von problematischen Verunreinigungen ist es erforderlich, dass die botanische Identität der einzelnen Zutaten, ihre weitere Verarbeitung sowie die chemische Zusammensetzung des Endproduktes so gut wie möglich erfasst werden. Das wird leider noch zu wenig praktiziert, was allerdings nicht ausschließlich Studien zur TCM betrifft.


Hebt sich die TCM von anderen traditionellen Heilmethoden ab?

Traditionelle Medizin auf Basis pflanzlicher Zubereitungen gibt es weltweit. Übrigens stellen nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation traditionelle Therapieformen in Entwicklungsländern für bis zu 80 Prozent der Bevölkerung die wichtigste oder sogar die einzige Gesundheitsfürsorge dar. In China ist die TCM ein wesentlicher Bestandteil des Gesundheitssystems, und auch in anderen ostasiatischen Ländern spielen die jeweiligen traditionellen Heilmethoden eine bedeutende Rolle. Was die TCM meiner Ansicht nach besonders hervorhebt, ist die kontinuierliche Entwicklung gemeinsam mit der fast 2000 Jahre zurückreichenden, sehr umfangreichen schriftlichen Überlieferung.

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Quelle:
wissen|leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 8, 16. Dezember 2015, S. 5
Herausgeberin: Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Redaktion: Norbert Robers (verantw.)
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Die Zeitung ist das offizielle Organ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Im freien Verkauf beträgt die Bezugsgebühr ein Euro/Stück.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2016

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