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REPRODUKTIONSMEDIZIN/163: Für eine rechtebasierte Fortpflanzungsmedizin (pro familia)


pro familia magazin 1/2022
pro familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.

Für eine rechtebasierte Fortpflanzungsmedizin

von Dorothee Kleinschmidt und Gabrielle Stöcker


pro familia hat sich im vergangenen Jahr im Fachausschuss Medizin und in einer Arbeitsgruppe aus Bundesverbands- und Landesverbandsvertreter*innen mit dem Thema Fortpflanzungsmedizin befasst. Auf der Grundlage des Positionspapiers des Landesverbands Nordrhein-Westfalen(1) wurden Forderungen diskutiert, die an ein künftiges neues Fortpflanzungsmedizingesetz gestellt werden müssen. Bei den meisten Punkten waren sich die Diskutierenden einig, lediglich beim Thema Leihmutterschaft gab es unterschiedliche Sichtweisen.

In Kürze wird ein gemeinsames Positionspapier vorgestellt werden, das auf dem NRW-Positionspapier beruht und das die unterschiedlichen Abwägungen beim Thema Leihmutterschaft aufnimmt. Um die bisherige Diskussion nachvollziehbar zu machen und die weitere Debatte anzuregen, stellen die Autorinnen des Landesverbands Nordrhein-Westfalen im Folgenden Auszüge aus dem Positionspapier von pro familia NRW vor, die in die gemeinsame Stellungnahme einfließen werden. Anschließend werden die konträren Positionen zum Thema Leihmutterschaft näher beleuchtet.


pro familia setzt sich seit ihrer Gründung für die Durchsetzung der sexuellen und reproduktiven Rechte ein. Dabei geht es nicht darum, alles zu erlauben, was medizinisch machbar ist. Zu unterschiedlich sind die Interessen der Akteur*innen. Gesetzliche Regulierung sollte jedoch nicht stärker eingreifen als unbedingt notwendig. Bei allen Schritten reproduktiven Handelns müssen sowohl die Rechte und Bedürfnisse der Wunscheltern als auch die Rechte der zukünftigen Kinder auf seelische und körperliche Gesundheit und die der möglichen Spender*innen von Eizellen, Samenzellen und Embryonen berücksichtigt werden. In den letzten Jahren gab es wiederholt Forderungen nach einem neuen Fortpflanzungsmedizingesetz. Das Embryonenschutzgesetz von 1990, das Abstammungsrecht und die fehlende Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften entsprechen kaum den Vorstellungen moderner Medizin und Familienformen. Die Reproduktionsmedizin wird nicht nur durch verschiedenste Gesetze, sondern auch durch die nicht übereinstimmenden Berufsordnungen der 17 Landesärztekammern geregelt. Nachfolgend werden verschiedene Teilbereiche und Aspekte beleuchtet, bei denen dringender Handlungsbedarf auch in Richtung einer bundeseinheitlichen Rechtsprechung besteht.


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Erläuterung zur Sprache im Text:
Frau*, Mann*, Mutter*, Vater*, Spender*, Spender*in

Menschen, die eine Gebärmutter haben, können schwanger werden oder in die Lage kommen, eine Kinderwunschbehandlung in Anspruch nehmen zu müssen. Sie können cis-Frauen, trans*Männer, non-binäre oder Intersex*Personen sein. Daher wäre es im Kontext von Fortpflanzungsmedizin korrekter, von gebärfähigen oder zeugungsfähigen Menschen, von Menschen mit Uterus oder mit Penis zu sprechen. Auch mit den Begriffen Mutter, Vater, Spender und Spenderin fühlen sich nicht alle Personen korrekt wiedergegeben. Zur Vereinfachung des Lesens haben wir uns in den vorliegenden Texten für die Bezeichnung Frau*, Mann*, Mutter*, Vater*, Spender* und Spender*in entschieden. Zitate aus externen Quellen wurden aus Urheberrechtsgründen im Original belassen.
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Der elektive Single-Embryo-Transfer (eSET): Beim eSET wird aus den Embryonen nur derjenige ausgewählt, der die besten Entwicklungschancen aufweist. Um eine solche Auswahl treffen zu können, wird eine größere Anzahl von Eizellen befruchtet und ihre Entwicklung über einige Tage beobachtet. Ein solches Vorgehen untersagt das deutsche Embryonenschutzgesetz. Es verbietet, bewusst mehr Embryonen zu erzeugen, als der Frau* in einem Zyklus übertragen werden sollen. Expert*innen sind sich einig, dass die Auswahl und der Transfer eines einzelnen, gut entwickelten Embryos bei gleichen Schwangerschafts- und Geburtenraten die Gesundheit von Mutter* und zukünftigem Kind schützt (Mehrlingsschwangerschaften bergen relevante Risiken für Mutter* und Kinder). Kaum ein europäisches Land hat ähnlich hohe Zwillings- und Drillingsraten nach reproduktionsmedizinischer Behandlung wie Deutschland.

Familiengründung in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften

Es ist im Rahmen der reproduktiven Teilhabe nicht nachvollziehbar, dass die Co-Mutter* das durch Samenspende gezeugte Kind in einem umständlichen und entwürdigenden Prozess adoptieren muss. Dies ist nicht im Sinne der Kinder und widerspricht dem Kindeswohl. Auch Männer*paare sind in einem Adoptionsverfahren nicht komplett gleichgestellt.(2) Die Reform des Abstammungsrechts,(3) bereits am 1. Juli 2017 unter Federführung des damaligen Justizministers Heiko Maas erarbeitet, wurde bis zum heutigen Tage nicht verabschiedet. Die dort aufgeführten Regelungen können Rechtssicherheit für Wunscheltern und zukünftige Kinder, und zwar von Geburt an, gewährleisten.

Moderne Lebensformen und Kassenfinanzierung: Obwohl in Deutschland immer mehr Paare bei Familiengründung nicht verheiratet sind, wird diese Lebensform bei der Kinderwunschbehandlung diskriminiert. Eine Kassenfinanzierung ist nur für verheiratete heterosexuelle Paare vorgesehen. Selbst bei verheirateten Paaren wird eine Spendersamenbehandlung nicht kassenfinanziert, auch wenn in der Regel eine eindeutige und schwerwiegende Fertilitätsstörung beim Mann* vorliegt. Wesentlich moderner und neuen Familienrealitäten angepasster entscheiden Schweden und Dänemark. Verheiratet, nicht verheiratet, sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität oder alleinstehend spielt in den Angeboten und der Kassenfinanzierung von 90 bis 100 Prozent keine Rolle, da neben der medizinischen auch eine soziale Indikation zur Finanzierung der assistierten Reproduktion anerkannt wird.

Samenspenderregistergesetz

Das Samenspenderregistergesetz(4), in Kraft getreten am 17. Juli 2017, war längst überfällig und hat viele Aspekte gut geregelt. Endlich besteht Rechtssicherheit für Spender* und Kinder. Die Registrierung der Spender* ermöglicht den Kindern, Kenntnisse über ihre Herkunft zu erlangen. Es besteht jedoch noch Nachbesserungsbedarf. So sollte es unter anderem eine Aufnahme der sogenannten Altfälle und Aufnahmemöglichkeiten der privaten Samenspenden ins Register geben, und die Anzahl der gezeugten Kinder pro Spender* sollte begrenzt werden. Zusätzlich sollte ein freiwilliges, professionelles Beratungsangebot für die Kontaktaufnahme des Kindes zum Spender* installiert werden.


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"Es geht nicht darum, alles zu erlauben, was medizinisch machbar ist. Zu unterschiedlich sind die Interessen der Akteur*innen."
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Eizellspende

Eizellspende und Samenspende sind durchaus vergleichbar. Und trotzdem ist die Eizellspende anders, weil die Frau* als Spender*in andere Risiken eingeht. Unter Befürworter*innen der Legalisierung der Eizellspende in Deutschland werden die Risiken für die Spender*in häufig verharmlost. Hervorgehoben wird, dass die Risiken der Hormonbehandlung für die Spender*in durch Veränderung der Medikamentengabe in den letzten Jahren kaum noch ins Gewicht fallen.(5) Die Risiken der Eizellpunktion (Blutungen, Infektionen, Verletzungen der Nachbarorgane), die Risiken der Vollnarkose bei der Punktion und die Nebenwirkungen der Medikamente werden nicht selten negiert. Auch wenn gefährliche Komplikationen sehr selten auftreten, wird deutlich, dass Ei- und Samenspende nicht gleich zu behandeln sind. Bei der Eizellspende entscheidet die Frau* jedoch über einen relativ kleinen, eingegrenzten Zeitraum. Die Behandlung kann jederzeit abgebrochen werden, Teilentscheidungen können individuell getroffen und widerrufen werden. Sie unterscheidet sich in diesen Aspekten deutlich von der Leihmutter*schaft. Es stellt sich die Frage, ob die Risiken der Eizellspende rechtfertigen, dass der Staat regulierend eingreift und die reproduktive Freiheit einschränkt. Frauen* und Männer* dürfen in Deutschland auch in andere, für sie risikoreiche Eingriffe einwilligen, wenn sie volljährig sind. Daher spricht sich pro familia für eine Legalisierung der Eizellspende in Deutschland aus. Es bedarf eng formulierter Ausführungsbestimmungen, die die größtmögliche Sicherheit und eine selbstbestimmte Entscheidung der Spender*in ermöglichen.

Embryoadoption

Prinzipiell sollte die Möglichkeit der Embryospende/Embryoadoption befürwortet werden. Menschen sollten selbstbestimmt über ihre Gameten (Ei- und Samenzellen), über befruchtete Eizellen im Vorkernstadium und Embryonen entscheiden können. Den Zentren dürfen durch die Weitergabe jedoch keine finanziellen Vorteile entstehen, um zu vermeiden, dass die Entstehung von überzähligen Embryonen aus wirtschaftlichen Interessen gefördert wird. Der Gesetzgeber muss für umfangreiche Beratung und Begleitung in allen Phasen des Prozesses sorgen.

Leihmutter*schaft

Die kontrovers diskutierte Leihmutter*schaft wird in diesem Magazin gesondert betrachtet.

[Anmerkung der Schattenblick-Redaktion: Die Links zu den Beiträgen dieser Debatte im Schattenblick finden Sie unten im Text.]

Die oben ausgeführten Forderungen sollten zwingend umgesetzt werden, um Fortpflanzungsmedizin rechtebasiert und zeitgemäß zu gestalten. Erfreulicherweise finden sich viele der Forderungen im neuen Koalitionsvertrag wieder, sodass wir hoffen, dass schon bald mehr Menschen reproduktive Gerechtigkeit erfahren.

Über die Autorinnen:

Dorothee Kleinschmidt ist Ärztin und Familientherapeutin und bei pro familia Bochum sowie im Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland tätig.

Gabrielle Stöcker ist Frauenärztin und systemische Beraterin und arbeitet bei pro familia Köln. Sie ist Sprecherin des Medizinischen Arbeitskreises von pro familia NRW.


Fußnoten:

(1) Der ausführliche Text des Positionspapiers von pro familia NRW mit detaillierten Erläuterungen und Ausführungen findet sich unter
https://www.profamilia.de/fileadmin/landesverband/lv_nordrhein-westfalen/pro_familia_NRW_rechtebasierte_Fortpflanzungsmedizin_Positionspapier_2020_Mai.pdf

(2) https://www.bundesverfassungsgericht.de/e/ls20130219_1bvl000111.html

(3) https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/07042017_AK_Abstimmung_Abschlussbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=4

(4) https://www.gesetze-im-internet.de/saregg/BJNR251310017.html

(5) Stoop, D., Vercammen, L., Polyzjos, N. P., de Vos, M., Nekkebroeck, J. & Devroey, P. (2012): Effect of ovarian stimulation and oocyte retrieval on reproductive out-come in oocyte donors. Fertility and Sterility, 97(6), 13281330. DOI: 10.1016/j.fertnstert.2012.03.012


Weitere Beiträge aus dem pro familia magazin 1|2022 zum Thema "Reproduktionsmedizin" finden Sie im Schattenblick unter:

SCHATTENBLICK → INFOPOOL → MEDIZIN → FACHMEDIZIN
REPRODUKTIONSMEDIZIN/161: Zur Notwendigkeit eines Fortpflanzungsmedizingesetzes (pro familia)
REPRODUKTIONSMEDIZIN/162: Klinischer Alltag in der Reproduktionsmedizin (pro familia)
REPRODUKTIONSMEDIZIN/164: Debatte - Gegen eine Legalisierung der Leihmutter*schaft (pro familia)
REPRODUKTIONSMEDIZIN/165: Debatte - Legalisierung der Leihmutterschaft in Deutschland als Chance (pro familia)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_fachmed_reproduktionsmedizin.shtml

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Quelle:
pro familia magazin Nr. 1|2022, S. 14, 15 und 18
Herausgeber und Redaktion:
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Das pro familia magazin erscheint vierteljährlich.
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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