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UMWELT/234: Bericht - IPPNW-Tagung zu den Folgen von Tschernobyl und Fukushima für Natur und Menschen (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 654-655 / 28. Jahrgang, 3. April 2014

Fukushima und Tschernobyl

Den Opfern der atomaren Katastrophen eine Stimme geben

Internationale Tagung zu den Folgen von Atomkatastrophen für Mensch und Umwelt

von Annette Hack



Zu den Folgen von Tschernobyl und Fukushima für Natur und Menschen veranstaltete die IPPNW Deutschland - Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. zusammen mit der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau im hessischen Arnoldshain eine Tagung mit internationalen Referenten und Teilnehmern. Zur Finanzierung trugen neben den Veranstaltern auch weitere evangelische Kirchen und Organisationen bei.

Der in Japan lebende, fließend Japanisch sprechende Dokumentarfilmer Ian Thomas Ash zeigte zunächst seinen Film "A2-B-C". Der mysteriöse Titel bezieht sich auf die Einstufung von Kindern und Jugendlichen nach den Resultaten des Schilddrüsenscreenings in der Präfektur Fukushima; die genannten Gruppen umfassen größere Veränderungen der Schilddrüsen bis hin zum Krebsverdacht und zum Krebs.

"Ich bin A2", sagt in dem Film ein kleiner Junge und zieht ein Gesicht, als wisse er nicht genau, ob man darauf stolz sein kann. Ash zeigt das Leben von Kindern aus der Präfektur Fukushima, die mit Personendosimetern und fast ohne Spiel und Bewegung im Freien aufwachsen, und unterhält sich mit Müttern über die Veränderungen in ihrem Leben nach der Katastrophe. Er hört zu, und er zeigt auch das Schweigen seiner Gesprächspartnerinnen, statt diese Momente des Suchens nach dem rechten Wort, der Ratlosigkeit oder auch der Verzweiflung wegzuschneiden.

Eine Mutter erzählt, daß ihr Kind unmittelbar nach dem Atomunfall zweimal Nasenbluten bis zur Ohnmacht hatte und auch noch heute zu wenig Leukozyten im Blut hat. Eine andere, bei deren Kind der Schilddrüsenultraschall zahllose kleine Knoten zeigte - "wie Sandpapier" - fragte nach und erfuhr, das seien, da unter 1 mm groß, "wissenschaftlich keine Knoten".

Auch die Lebensmittelmessungen und das Schulessen werden thematisiert. Die Eltern haben durchgesetzt, daß das Schulessen gemessen und so zumindest die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte für Lebensmittel gesichert wird. Wenn man seinem Kind Essen von zu Hause mitgibt, läuft man selbst Gefahr, als Störenfried angesehen zu werden, und das Kind wird "na ja, vielleicht ein bißchen" gemobbt.

Gezeigt und besprochen werden auch die Dekontaminationsarbeiten: man hat ein Merkblatt bekommen, wie Radioaktivität im eigenen Haus zu messen sei, "extrem hohe Werte" sollten dabei nicht berücksichtigt werden. Es schien allgemein bekannt, daß die Dekontamination keine langfristige Wirkung hat, und daß die IAEA die Wälder für nicht dekontaminierbar hält.

Eine 17jährige Schülerin bemerkt im Gespräch mit Ash, daß das Krisenbewußtsein verloren gehe. Vergessen und Gewöhnung sieht sie als Gefahr. Sie findet es unverständlich, daß für Erwachsene und Kinder dieselben Grenzwerte gelten. Und wenn sie sich was wünschen dürfte? Dann würde sie gerne in das Fukushima vor dem Unfall zurückkehren ... Diesen Wunsch dürften auch andere haben - gerade diejenigen, die sich intensiv mit dem Strahlenschutz in ihrer Umgebung auseinandersetzen; die in Zusammenarbeit mit anderen und oft gegen die Bürokratie versuchen, ihren Beitrag zur Verminderung der Belastung zu leisten. Und die allmählich die Kraft und der Mut verlassen. Ein paar Tage in weniger verstrahlten Gebieten Japans sind keine Erholung, wenn man sich dort wie ein Leprakranker behandelt fühlt." Wir müßten mal richtig wütend werden, " ruft eine Frau unter Tränen. Damit schließt der Film.

Einmal tief durchatmen. Dann erhebt sich Dr. Mikhail Malko aus Belarus, lobt den Film und merkt an, daß das im Film beschriebene Nasenbluten als erster Grad der Strahlenkrankheit (radiation sickness) einzustufen sei. Nocheinmal tief durchatmen.


Leukämien und Erbschäden

Aus dem "unsystematischen Überblick über die Risiken ionisierender Strahlung" von Wolfgang Hoffmann (Universität Greifswald) bleibt festzuhalten, daß auch die sogenannte Hintergrundstrahlung (natürlichen und nicht natürlichen Ursprungs) bei Kindern Leukämien induziert. Die Befunde aus unterschiedlichen Settings (Deutschland, Schweiz, Frankreich) zeigten das gleiche Risiko. Alle Leukämien seien durch niedrige Strahlendosen induzierbar, was beim Röntgen und bei CT-Aufnahmen zu bedenken sei. Die These, unterhalb von 100 mSv seien keine Schäden zu erkennen, bezeichnete Hoffmann als "infame Lüge", denn dabei würden Ergebnisse ignoriert, die seit 40 Jahren vorlägen.

Warnungen vor Schädigungen des Erbguts gab es schon wesentlich früher, nämlich 1955, wie Inge Schmitz-Feuerhake (emerita Universität Bremen und im Vorstand der Gesellschaft für Strahlenschutz) in ihrem Beitrag zu den genetischen Folgen ionisierender Strahlung feststellte. Sie verwies insbesondere auf die unterschiedliche Strahlenempfindlichkeit in verschiedenen Stadien der Zellentwicklung (z. B. bei der Spermatogenese). Die haploiden Zustände (nach Chromosomenteilung) seien dabei besonders zu beachten. Schmitz-Feuerhake diskutierte verschiedene Studien zu angeborenen Fehlbildungen und zu Erkrankungen von Kindern strahlenbelasteter Eltern.


Vorzeitige Alterung und Nicht-Krebserkrankungen

Mit dem Phänomen vorzeitiger Alterung und den Nicht-Krebserkrankungen als Folge radioaktiver Belastung befaßte sich SAKIYAMA Hisako (ehem. Forscherin am Institut für radiologische Wissenschaft Chiba, Mitglied der unabhängigen Untersuchungskommission des japanischen Parlaments zur Katastrophe von Fukushima und Mitglied des Takagi-Instituts). Sakiyama zeigte am Beispiel des Endothels der Arterien, wie durch Oxidationsreaktionen fibrotische Veränderungen und letztlich Arteriosklerose hervorgerufen werden. Es ist inzwischen nachgewiesen, daß Sauerstoffverbindungen wie (-OH) und (O2-) auch noch lange Zeit nach der Strahlenbelastung hergestellt werden. Die Zellen werden durch Verkürzung der Telomere, durch die Akkumulation nicht zu reparierender DNA-Schäden sowie durch kumulierende, etwa 100fach häufigere Degeneration der Mitochondrien beeinträchtigt und ihr natürlicher Alterungsprozeß beschleunigt.

Timothy Mousseau merkte in der Diskussion an, er habe bei wild lebenden Vögeln in nach Tschernobyl verstrahlten Gebieten auch Telomerverlängerungen gefunden, die möglicherweise Auswirkungen auf die Alterung der Tiere hätten. Untersuchungen anderer Forscher an verstrahlten Vögeln hätten aber bisher noch keine Wirkung auf die Alterung gezeigt.


Risikokommunikation

In seinem Beitrag zum Vergleich der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima erinnerte Ian Fairlie (Chemiker und Strahlenbiologe, Berater des Europaparlaments und internationaler NGOs) auch daran, daß in den ersten Tagen des Unfalls von Fukushima Dai'ichi 7 Arbeiter bzw. Soldaten durch die Explosionen getötet wurden. Dieser Unfall dauere noch an, so sei z.B. völlig unklar, wo ca. 100 Tonnen Brennmaterial aus den Reaktorkernen eigentlich abgeblieben seien. Die Folgen der großräumigen Kontamination für das komplexe Zusammenspiel des Lebens im Meer seien fast völlig unbekannt. "Wir werden nichts sehen, wenn wir nicht anfangen zu (unter)suchen", mahnte Fairlie. Die Daten zu den Unfällen seien oft mit Vorsicht zu betrachten, die besten Daten seien diejenigen, die von "Interessen nicht kontaminiert" seien. Nach dem gegenwärtigen Stand seiner Informationen geht Fairlie davon aus, daß der Unfall von Fukushima nicht so gravierend gewesen sei, wie der von Tschernobyl. Auf den Einwand von Henrik Paulitz (IPPNW), die Bevölkerungsdichte der kontaminierten Gebiete in Japan sei wesentlich höher als in den Gebieten, die durch Tschernobyl verstrahlt wurden, gab es keine klare Antwort.

Dr. IRI'E Norio (Nara, Japan) hatte die Einschätzungen von acht hochrangigen japanischen Institutionen und wissenschaftlichen Gesellschaften zu den gesundheitlichen Auswirkungen der Katastrophe von Fukushima Dai'ichi zusammengestellt. Es überrascht nicht, daß sie alle den Thesen von japanischer Regierung und IAEA beipflichteten, zum Teil sogar die Auffassung vertraten, unterhalb von 100 mSv seien Schäden nicht erkennbar. Noch nicht einmal die Pädiatrische Gesellschaft Japans erlaubte sich Zweifel. Die Japanese Society of Public Health (Nihon koshu eisei gakkai) verstieg sich gar zu der Aussage, das größte Gesundheitsrisiko sei die Angst vor Strahlung.


Das Versagen von WHO und IAEA

Keith Baverstock (Chemiker und Strahlenbiologe, ehemals WHO-Funktionär, jetzt Universität von Ost-Finnland in Kuopio) unterstrich in seinem Vortrag das Versagen sowohl der WHO als auch der IAEA bei der Bewältigung der Katastrophe von Fukushima. Diese Organisationen hätten in den ersten Tagen Unterstützung durch verläßliche Informationen leisten müssen, was aber nicht geschah. Nach dem Unfall von Tschernobyl war zur Vorbereitung auf einen möglichen AKW-Unfall in Europa 1994 ein "Zentrum für nukleare Notstände" in Zusammenarbeit von WHO und finnischer Atomaufsicht eingerichtet, aber 2001 wieder aufgelöst worden. Der Aufgabenbereich sei wieder zur WHO- Zentrale nach Genf verlagert worden, die jedoch nicht über die nötigen Kompetenzen in diesem Bereich verfüge. Er wisse nicht, ob die Abschätzung der Gesundheitsfolgen von Fukushima durch die WHO (2013) und die vorläufigen Dosisabschätzungen (2012) realistisch seien, da es insbesondere für die erste Zeit nach dem Unfall, in der die Belastungen am höchsten waren, keine zuverlässigen Daten gebe. WHO und IAEA hätten 2011 beide beim Schutz der öffentlichen Gesundheit versagt - am Sitz der IAEA, zum Teil auch bei UNSCEAR, sehe man öffentliche Gesundheit ohnehin als Problem der Kommunikation, um nicht zu sagen: Propaganda. Die Belege für das Schweigen und die irrelevanten Mitteilungen der ersten Zeit seien bei beiden Organisationen heute nicht mehr im Internet zu finden; so werde die Geschichte neu geschrieben.

Eine Arbeitsgruppe der WHO-Europa habe sich 1990 mit den psycho-sozialen Belastungen nach einer Atomkatastrophe befaßt. Diese seien ein nicht zu unterschätzendes Gesundheitsrisiko - nicht zuletzt deshalb, weil das Vertrauen in Behörden und andere Autoritäten im Gesundheitswesen verloren gehe. Die psycho-sozialen Belastungen seien real. Sie hätten nichts mit der so genannten Radiophobie zu tun. Baverstock gab auch seiner Sorge Ausdruck, daß die Diskussion um die gesundheitlichen Folgen von Atomkatastrophen von der Propaganda der Nuklearindustrie und der etablierten akademischen Welt vereinnahmt werde. In der Tendenz sei das auch in anderen Feldern der öffentlichen Gesundheit zu sehen, so sei etwa bei der evidenz-basierten Medizin mittlerweile die "Evidenz" im Begriff, von der Pharma-Industrie gekapert zu werden.

In der Diskussion wies Mikhail Malko darauf hin, daß Verantwortung für die Gesundheitspolitik die einzelnen Staaten trügen, nicht WHO oder IAEA. Angelika Claußen (IPPNW) merkte an, daß die WHO nur noch zu 30 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanziert werde, der Rest stamme von "Bill Gates & Co."


Soziale Folgen

FURITSU Katsumi (Genetikerin und Strahlenbiologin, Medizinische Hochschule Hyogo, Japan; Forschungen in verstrahlten Gebieten weltweit) wies in ihrem Vortrag darauf hin, daß die jetzt in Japan zu lösenden Probleme eher politischer und ökonomischer als wissenschaftlicher Natur seien. Sie sprach damit die prekäre Lage der Evakuierten und den ungenügenden Gesundheitsschutz der Aufräumarbeiter im AKW Fukushima Dai'ichi an. Die zulässigen Dosen bei der Arbeit seien auf 250 mSv erhöht worden. Es handelt sich dabei zur Zeit um 32.000 Menschen, von denen etwa 27.000 Leiharbeiter sind. Viele leben auch in den verstrahlten Gebieten. Auch im Zusammenhang mit Tschernobyl sei - zwei Jahre vor dem 30. Jahrestag der Katastrophe - immer noch angemessene Unterstützung für die Opfer zu fordern. Sorgen machten ihr neue Schulbücher in Japan, in denen die Gefährlichkeit der Radioaktivität mittels Vergleichen mit anderen schädlichen Substanzen verharmlost würde und die Kinder aufgefordert würden, die Anweisungen der Regierung zu befolgen. Das Agieren und die Verlautbarungen der japanischen Regierung wie auch der in Japan tätigen internationalen pro-nuklearen Organisationen (ICRP, IAEA, UNSCEAR, WHO usw.) und deren Zusammenspiel hält Dr. Furitsu für verbrecherisch.

Vor die Frage, ob sie flüchten oder bleiben sollte, sah sich die Allgemeinmedizinerin KONTA Kaoru aus der Kleinstadt Inawashiro, Präfektur Fukushima, im März 2011 gestellt. Sie schickte ihre 17- und 18jährigen Kinder zu Verwandten nach Südjapan und blieb selbst zu Hause, denn ihre Heimatstadt hatte sich über Nacht um 3000 Evakuierte aus Nami'e-machi, südlich des AKW, heute Verbotszone, vergrößert. Sie organisierte zunächst warme Suppe für die in einer Sporthalle Untergebrachten, die von den Hilfswerken nur kalte Reisklöße erhalten hatten. Es gab in der ersten Zeit leergekaufte Geschäfte und aufgrund der Stromsperren und der Erdbebenzerstörungen erhebliche Versorgungsschwierigkeiten. In ihrer Praxis hatte sie nun zeitweise 200 Patienten am Tag, darunter auch Strahlenbelastete und Dekontaminationsarbeiter.

Dr. Konta bestätigte, daß das Ergebnis der Schilddrüsenuntersuchungen mit den Eltern der betreffenden Kinder nicht diskutiert werden darf. Durch die Fortschritte in der Ultraschalldiagnostik sei es möglich, Krebserkrankungen früher zu erkennen. Bei Kindern steige das Übergewicht stark an. Allgemein nähmen Herzkrankheiten als Todesursache zu. Die Fotos, Tabellen und Graphiken ihres Vortrags hat Dr. Konta ins Internet gestellt. Dort findet sich auch die Geschichte eines Fischers, der mit seinem Boot (seinem Vermögen) aufs Meer fuhr, um es vor dem Tsunami zu retten. Als er zurückkehrte, waren sein Haus zerstört und seine Familie tot. Vor der Küste der Präfektur Fukushima herrscht immer noch Fangverbot, so daß ihm das Boot gar nichts mehr nützt. Dr. Kontas älteste Tochter, Medizinstudentin im 3. Studienjahr, hatte diese Geschichte vorgetragen.

Dr. TANE'ICHI Yasuyuki aus der Stadt Koriyama schloß seine orthopädische Praxis bei 0,7 μSv pro Stunde und "einer Bodenbelastung wie in der Evakuierungszone". Er berichtete, daß etwa 200 Ärzte die Präfektur verlassen hätten. Das Universitätskrankenhaus der Medizinischen Hochschule Fukushima solle bis 2015 um 330 Betten vergrößert werden. Vizepräsident der Hochschule ist Yamashita Shun'ichi, vormals Leiter des Gesundheitsmanagements der Präfektur Fukushima nach der Katastrophe. Die Aufstockung der Bettenzahl um über 40 Prozent sei bemerkenswert, weil Yamashita ab dem 18. März 2011 vor Ärzten verschiedentlich vorgetragen hatte, daß keine oder nur geringe Auswirkungen der Strahlung zu erwarten seien. Die ärztlichen Untersuchungen, wie etwa das Schilddrüsenscreening, seien nur für unter 18jährige, die als Bürger der Präfektur registriert sind, kostenlos.

Gerade diese kostenlosen Untersuchungen würden jetzt als Druckmittel verwendet, um die Strahlenflüchtlinge zur Rückkehr in kontaminierte Gebiete zu bewegen.


Schilddrüsenkrebs

Larisa Danilova, Professorin an der Belorussischen Akademie für ärztliche Weiterbildung und Leiterin des dortigen endokrinologischen Instituts, gab einen in Zusammenarbeit mit Yuri Demidchik erarbeiteten Überblick über die Schilddrüsenerkrankungen auf dem Gebiet der Republik Belarus nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Zwischen 1986 und 1989 fanden die ersten Schilddrüsenscreenings in den Bezirken Mogil'ev und Gomel' statt, die jedoch unter Ausrüstungsmangel litten. Das Internationale Rote Kreuz und Japan halfen mit Ultraschallgeräten aus. Groß angelegte Studien mit internationaler Beteiligung scheint es dagegen erst ab 1990 gegeben zu haben. Die Graphik auf Seite 38/61 ihres unter
www.tschernobylkongress.de/dokumentation-arnoldshain.html
dokumentierten Vortrags zeigt den Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und Jugendlichen in Belarus zwischen 1986 und 2000, es folgen der Anstieg und die sich ändernde Verteilung nach Altersgruppen sowie die Schilddrüsenkrebsmortalität. Zu weiteren Forschungen und Überlegungen sollte die Tabelle auf Seite 49/61 anregen, die die errechnete Schilddrüsendosis durch Radiojod den erwarteten und gefundenen Fällen von Schilddrüsenkrebs gegenüberstellt. Es gibt drastische Über- und Unterschreitungen der Erwartungen. Danilova zufolge dauert die vermehrte Entstehung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern auch immer noch an, die Sterblichkeit nehme aber ab. Daneben gibt es Graphiken und Informationen zu anderen Erkrankungen wie angeborener Schilddrüsenunterfunktion, autoimmuner Schilddrüsenentzündung (auch zusammen mit Schilddrüsenknoten oder Diabetes mellitus Typ 1 auftretend), Knoten und Kropf. Bei Knoten ist das Malignitätsrisiko nach Danilova erhöht bei Strahlenexposition, Bestrahlung von Kopf und Hals in der Vergangenheit sowie bei sehr jungem oder bei fortgeschrittenem Alter. Chronische Tonsillitis ist ebenfalls weit verbreitet. Klinische Untersuchungen an Frauen im reproduktiven Alter und Schwangeren ergaben, daß fast 45 Prozent an Schilddrüsenstörungen leiden, die gerade noch nicht als Unterfunktion zu bezeichnen seien.

In der Diskussion fügte sie hinzu, daß Belarus eine Bevölkerung von rund 9,5 Millionen Menschen (4,4 Millionen Männer und 5,1 Millionen Frauen) hat und bisher 1,1 Millionen Krebsfälle allgemein registriert wurden. Nach 1986 habe es keinen steilen, aber einen stetigen Anstieg gegeben. Der Schilddrüsenkrebs sei vor allem bei Frauen der Stadtbevölkerung und bei Liquidatoren deutlich angestiegen.

TAKAMATSU Isamu (Leiter der gleichnamigen Kinderklinik in Osaka und Mitglied der Ärztevereinigung I-Mon-Ken) stellte die Befunde des Schilddrüsenscreenings der Präfektur Fukushima vor. Die offizielle Argumentationslinie ist, daß die bisher gefundenen Krebs- und Krebsverdachtsfälle nicht im Zusammenhang mit dem AKW-Unfall zu sehen sind. Sie wären ohnehin aufgetreten, und nun nur durch die hervorragende Qualität der Ultraschallgeräte und die große Menge der Untersuchten früh entdeckt worden. Die gewonnenen Daten seien als Grundlinie für die weitere Forschung zu sehen.

Dr. Takamatsu stellte dem die bisherige japanische Schilddrüsenkrebsinzidenz von 0,5/100.000 bei 15- bis 19jährigen und von 1,1/100.000 bei 15- bis 24jährigen im Zeitraum von 1975 bis 2008 gegenüber und zeigte auch regionale Ballungen und den Vergleich zu den in hoch belasteten Gebieten um Tschernobyl gefundenen Inzidenzen. Interessant sind auch die Effekte von Annahmen unterschiedlicher Erkrankungszeiten vor Diagnose. Screening-Effekte seien zwar nicht auszuschließen, aber man könne von einem realen Ausbruch von Schilddrüsenkrebs in der Präfektur Fukushima sprechen.

In der Diskussion plädierte Keith Baverstock dafür, die zweite Runde des Screenings abzuwarten. Es sei verfrüht, jetzt schon Schlüsse auf den Zusammenhang mit dem freigesetzten Radiojod zu ziehen. Auch die jüngste Studie des Deutschen Peter Jakob sei verfrüht.

In der hitzigen Diskussion, die daraufhin entbrannte, ging der eigentliche Skandal unter: nach offizieller Ansicht sollen die Befunde des Schilddrüsenscreenings zur "Grundlinie" der späteren Forschung erhoben werden.


Falsche Strahlenmessungen

YAKASAKI Katsuma (Physiker, Ryukyu Universität, Okinawa/Japan) sprach in seinem Beitrag von einer "täterorientierten Wissenschaft", die es zu überwinden gelte. Die oft festgestellten niedrigen Dosisanzeigen der amtlichen Meßpunkte in der Präfektur Fukushima hingen mit deren Kalibrierung auf 90 Prozent der Effektivdosis zusammen, außerdem seien Metallteile so angebracht, daß sie insbesondere die Strahlung des Cäsiums reflektierten und damit den Meßwert verfälschten. Die mit über 1 mSv/Jahr kontaminierte Landfläche schätzt Yakazaki auf genauso groß oder sogar größer als die nach Tschernobyl. Die amtliche japanische Dosisabschätzung berücksichtige nur 40 Prozent der Luftdosis, man nehme dabei an, daß die Menschen sich 16 Stunden pro Tag nicht im Freien aufhielten.

Wer in der Land- und Forstwirtschaft, im Garten- und Straßenbau oder in der Dekontamination arbeitet, wird es sicher mit Interesse zur Kenntnis nehmen, daß ihre oder seine Tätigkeit für die Dosiskalkulationen keine Rolle spielt.

IPPNW und Evangelischer Kirche ist für diese Tagung, deren Referenten und Diskutanten hier nicht alle erwähnt werden konnten, zu danken.


Die Vorträge können aus der Kongreßdokumentation im Internet abgerufen werden:
www.tschernobylkongress.de/dokumentation-arnoldshain.html.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_14_654-655_S04-07.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, April 2014, Seite 4-7
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2014