Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

ETHIK/928: Migration und Gesundheit (1) Vorwort (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung für die medizinische Versorgung

Vorwort

Von Axel W. Bauer


Mit seiner zweiten Jahrestagung wandte sich der Deutsche Ethikrat am 20. Mai 2010 einem Thema zu, das außerhalb des Bereichs der Biomedizin und der amit verbundenen bioethischen Fragestellungen liegt. Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Einrichtung des Deutschen Ethikrates befasst sich der Rat zwar in erster Linie mit Problemen, die "im Zusammenhang mit der Forschung und den Entwicklungen insbesondere auf dem Gebiet der Lebenswissenschaften und ihrer Anwendung auf den Menschen" stehen. Allerdings sieht der Deutsche Ethikrat in dem Wort insbesondere die Legitimation dafür, sich auch solchen ethischen Fragestellungen zuwenden zu können, die jenseits des Kontextes der biomedizinischen Forschung angesiedelt sind.

In Deutschland leben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 16 Millionen Menschen mit einem sogenannten "Migrationshintergrund" (Mikrozensus 2009). In der abstrakten Sprache der Bevölkerungsstatistik sind Personen mit Migrationshintergrund "alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil". Somit gehören auch Spätaussiedler und deren Kinder zu der tatsächlich sehr heterogenen Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund, von denen ein Drittel schon seit ihrer Geburt in Deutschland lebt.

Das Verständnis von Krankheit und Gesundheit ist kulturell unterschiedlich geprägt und kann Einfluss auf das Gesundheitsverhalten sowie auf medizinische Therapieentscheidungen haben. Für den Gesundheitszustand wie für die adäquate Nutzung der bei uns zur Verfügung stehenden medizinischen Angebote sind weniger die Nationalität oder der Zeitpunkt der Zuwanderung entscheidend als vielmehr der soziale und kulturelle Kontext, in dem sich die Betreffenden bewegen, sowie Form und Verlauf der Interaktion, die sie mit dem deutschen Gesundheitssystem eingehen.

Längst nicht alle Schwierigkeiten und Missverständnisse, die dabei auftreten können, sind spezifisch für Migrantinnen und Migranten, denn Faktoren wie Lebensalter, Geschlecht, Bildung oder soziale Schichtzugehörigkeit überlagern die Frage der ethnischen Herkunft in komplexer und im Einzelfall überraschender Weise. Während im Arzt-Patienten-Gespräch eine deutsche Rechtsanwältin ihre diffusen Beschwerden im linken Oberbauch vielleicht in treffenderen Worten darzustellen vermag als ein aus Griechenland stammender Gastwirt, so könnte dieser doch jedenfalls dann im Erkenntnisvorteil sein, sobald die medizinische Zustandsbeschreibung Splenomegalie - eine krankhafte Vergrößerung der Milz - zur Sprache kommt. Auf der anderen Seite wird es für Patientinnen und Patienten mit geringen deutschen Sprachkenntnissen von essenzieller Bedeutung sein, dass sie etwa angesichts einer Krebsdiagnose über die vorgeschlagene mehrstufige Behandlung und über deren für ihr weiteres Leben einschneidende Folgen in ihrer Muttersprache aufgeklärt und beraten werden können.

Die sprachliche und kulturelle Vielfalt, der man heute in Deutschland sowohl aufseiten der Patientinnen und Patienten als auch zunehmend bei Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal begegnet, stellt eine erhebliche Herausforderung, zugleich aber, sofern sie klug genutzt wird, eine Bereicherung dar. Denn die moderne Medizin ist keineswegs nur jene angewandte Naturwissenschaft mit einer weltweit nach identischen Standards forschenden und in internationalen Zeitschriften publizierenden Scientific Community, als die sie sich auf Fachkongressen gerne präsentiert. Die Heilkunde ist zugleich eingebunden in ein soziales Gefüge, das Gesundheit und Krankheit als normativ zu bestimmende Gegenstände und eben nicht bloß als objektiv vorgefundene biologische Phänomene erweist. Im Hinblick auf ihre subjektive Wahrnehmung, ihre verbale beziehungsweise nonverbale Darstellung, ihre professionelle Beschreibung und gegebenenfalls ihre therapeutische Beeinflussbarkeit sind Gesundheit und Krankheit als historisch wandelbare Erscheinungen aufzufassen, die kulturellen, sozialen und mentalen Einflüssen unterliegen.

Für die Medizin und die im Bereich der Medizin Tätigen jeglicher Nationalität ist es wichtig und lehrreich, sowohl die anthropologischen Gemeinsamkeiten wie die kultur- und persönlichkeitsbedingte Verschiedenartigkeit ihrer Patientinnen und Patienten zu erleben und zu respektieren. Dabei tauchen oftmals auch kritische Fragen zur konkreten Gestaltung des Miteinanderlebens in einer pluralen Gesellschaft auf. So fordern die einen volle Partizipation der Migrantinnen und Migranten sowie mehr Multikulturalität. Auf einer stärkeren Integration, Assimilation und Akzeptanz der hiesigen Traditionen beharren wiederum andere, die sich mitunter ähnlich fremd in der eigenen Stadt fühlen wie die Zugewanderten. Die Notwendigkeit, Vorurteile abzubauen, wird auf beiden Seiten zwar gesehen, doch den ersten Schritt soll die jeweils andere Seite tun. Zudem macht es eine in Deutschland vorwiegend auf staatliche Interventionen ausgerichtete Mentalität den Menschen manchmal zu leicht, sich abzukapseln und darauf zu warten, dass jeweils "die anderen" den nächsten Zug machen. Mehr Aktivität statt Reaktion, mehr Interesse statt Abgrenzung, mehr Offenheit und dialogische Kritikfähigkeit statt Verschlossenheit und schweigsame Aggressivität - das sind jedenfalls Wünsche, die man an beide Seiten richten muss, an die Einheimischen wie an die Hinzugekommenen.

Der Deutsche Ethikrat hat mit seiner Jahrestagung unterschiedliche Facetten des Themas Migration und Gesundheit aus der spezifischen Perspektive der Ethik aufgezeigt, sie mit Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen und Praxisfelder diskutiert sowie die in der Regel vor allem sozialpolitisch analysierte Thematik als ethisch relevant dargestellt.

Zu Beginn beschrieb Staatsministerin Maria Böhmer, die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik. Deutschland verstehe sich inzwischen nicht nur als Einwanderungs-, sondern auch als Integrationsland; der Handlungsbedarf im Bereich Migration und Gesundheit sei groß. Gesundheit und Pflege seien in dieser Legislaturperiode ein Schwerpunkt der Bundesregierung. Sie hob besonders die Notwendigkeit einer interkulturellen Öffnung des Gesundheitswesens und der Förderung interkultureller Kompetenz in den Ausbildungskonzepten der Gesundheitsberufe hervor. Die kulturelle Altenpflege sei ein zentrales Thema; ebenso wichtig sei jedoch die Förderung der Kinder- und Jugendgesundheit. Außerdem müsse die Forschung zur Datenlage in der Gesundheits- und Pflegeberichterstattung gefördert werden, um zielgenauer vorgehen zu können, den Handlungsbedarf wirklich zu identifizieren und auch Lösungen zu entwickeln.

Das sich daran anschließende Spektrum der fachwissenschaftlichen Vorträge entfaltete sich ausgehend von den medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Grundlagen über eine kulturwissenschaftlich geprägte Medizinethik hin zu spezifischen Gesundheitsproblemen von Frauen sowie von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Migration. An die medizinischen und epidemiologisch fokussierten Referate schlossen sich juristische und rechtsethische Überlegungen an. So wurde die Frage untersucht, ob und inwieweit spezielle Rechte vor allem im Hinblick auf eine adäquate medizinische Aufklärung für Migrantinnen und Migranten zu fordern sind, damit diese ihre in der Menschenwürde und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht begründete Selbstbestimmung innerhalb des Arzt-Patienten-Verhältnisses tatsächlich ausüben können. Einblick in ein spezielles Problem der Versorgungswirklichkeit bot sodann ein aus der ärztlichen Praxis schöpfender Beitrag über die besondere Situation von irregulär Zugewanderten und deren medizinische Versorgung.

Mit einem Vortrag über das Spannungsfeld zwischen Solidarität und Eigenverantwortung, das sich bei dem existenziellen Gut Gesundheit beziehungsweise seiner Wiederherstellung ergibt, wurden die Hörerinnen und Hörer schließlich in die sozialethische Dimension des Themas eingeführt: Welche Rechte und Pflichten ergeben sich angesichts der medizinischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten einerseits für die professionellen Akteure im Gesundheitswesen, die Organisationen, die Kostenträger, für die politische Gestaltung des Gesundheitssystems und für die aufnehmende Gesellschaft insgesamt? Welche eigenen Aktivitäten kann und darf man andererseits legitimerweise von den Migrantinnen und Migranten dabei erwarten?

Den Abschluss der Jahrestagung bildete eine Podiumsdiskussion, an der Stefanie Vogelsang, MdB und Mitglied des Gesundheitsausschusses, ehemalige Dezernentin für den Bereich Gesundheit in Neukölln, Hamit Ince, Oberarzt am Klinikum Wahrendorff und Vorsitzender der deutsch-türkischen Medizinergesellschaft, Yasemin Yadigaroglu, die sich als Sozialwissenschaftlerin für eine Aufklärung über Verwandtenehen engagiert, und Axel W. Bauer als Mitglied des Deutschen Ethikrates teilnahmen. Die Podiumsteilnehmer diskutierten und erweiterten die Fragestellungen der Tagung vor dem Hintergrund ihrer Praxiserfahrungen: Wie beurteilen Menschen mit Migrationshintergrund, hier ein Psychiater und eine Sozialwissenschaftlerin, die zwar selbst in Deutschland aufgewachsen sind, deren Vorfahren aber aus der Türkei kamen, den von ihnen miterlebten und aktiv gestalteten Prozess zunehmender Partizipation und Integration in das von der Familie zunächst wohl als fremd empfundene neue Heimatland? Wo zeigen sich hier gegenwärtig bemerkenswerte Fortschritte, Defizite oder gar Rückschritte und wo bestehen aktuelle, ethisch gerechtfertigte Erwartungen von Migrantinnen und Migranten an Politik und Gesellschaft, aber auch umgekehrt berechtigte Erwartungen von Gesellschaft und Politik an Migrantinnen und Migranten?

Selbstverständlich konnte die Tagung nicht alle Facetten des komplexen Zusammenhangs von Migration und Gesundheit in den Blick nehmen. Der Deutsche Ethikrat wollte indessen vor allem Öffentlichkeit und Politik für die ethischen Aspekte sensibilisieren, die mit dem Thema Migration und Gesundheit verbunden sind. Den Referentinnen und Referenten ist es gelungen, die unterschiedlichen Perspektiven der von ihnen repräsentierten Fachgebiete deutlich zu machen und sie im interdisziplinären Dialog aufeinander zu beziehen. Dafür danken wir allen Mitwirkenden recht herzlich.

Wenn es um ethische Fragen geht, sind inhaltliche Kontroversen nicht zu vermeiden. Meinungsverschiedenheiten sollten daher durchaus zugelassen werden, denn sie fördern eine ernsthafte ethische Argumentation. Als ein wichtiges Ergebnis der Jahrestagung lässt sich jedenfalls festhalten, dass auf den angesprochenen Ebenen ein differenzierter Umgang mit dem Phänomen Migration erforderlich ist, der es ermöglicht, die Menschen als Individuen wahrzunehmen und dennoch ihre mit dem Migrationshintergrund verbundenen spezifischen Bedürfnisse adäquat zu berücksichtigen.

Der Deutsche Ethikrat hat einen Impuls gegeben, der nun gesellschaftliche und politische Wirkungen entfalten möge.


Axel W. Bauer ist Mitglied des Deutschen Ethikrates


*


INHALT

Axel W. Bauer - Vorwort
Maria Böhmer - Gesundheit als Ziel der Integrationspolitik
Oliver Razum - Gesundheit von Migranten: Hintergründe
Ilhan Ilkilic - Medizinethische Aspekte des interkulturellen Arzt-Patienten-Verhältnisses
Theda Borde - Frauengesundheit und Migration: Bedürfnisse - Versorgungsrealität - Perspektiven
Alain Di Gallo - Risiken und Chancen der Migration aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht
Andreas Spickhoff - Spezielle Patientenrechte für Migranten? Juristische und rechtsethische Überlegungen
Bettina Schlemmer - "Migranten ohne Pass" beim Arzt: Realität und politische Konsequenzen
Ulrike Kostka - Die medizinische Versorgung von Migrantinnen und Migranten zwischen Solidarität und Eigenverantwortung


*


Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2010
Migration und Gesundheit - Kulturelle Vielfalt als Herausforderung
für die medizinische Versorgung
© 2010 - Seite 7 - 11
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2011