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ETHIK/1202: Neuregelung der Beihilfe zum Suizid - Wie steht es um den Lebensschutz? (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 116 - 4. Quartal 2015
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Wie steht es um den Lebensschutz?

Von Stefan Rehder


Am 6. November hat der Deutsche Bundestag die Beihilfe zum Suizid rechtlich neu geregelt. Die Reaktionen reichen von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Mitunter werden dieselben Einschätzungen sogar von jenen geteilt, die in der Debatte zwar an derselben Barrikade kämpften, jedoch auf entgegengesetzten Seiten standen. Wie passt all das noch zusammen, fragt sich nicht nur der Redaktionsleiter von "LebensForum", der hier den Versuch einer Verständigung unternimmt.


Hamburgs ehemaliger Justizminister Roger Kusch und Gründer des Vereins "Sterbehilfe Deutschland" hat gegen die Vorn Deutschen Bundestag beschlossene Neuregelung der Suizidhilfe in Deutschland Klage vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt. Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und die Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) priesen den vom Parlament verabschiedeten Gesetzentwurf in höchsten Tönen. Einzelne katholische Hirten äußerten sich dagegen deutlich kritischer und weigerten sich, in den ökumenischen Lobgesang einzustimmen. Die Bundesärztekammer begrüßte "sehr, dass der Deutsche Bundestag den Anträgen einiger Parlamentarier für eine Liberalisierung der Sterbehilfegesetzgebung nicht gefolgt ist", bezeichnete es aber nur als "gute Nachricht", dass der Gesetzgeber der sogenannten geschäftsmäßigen Sterbehilfe "nun endlich einen Riegel vorgeschoben" habe. Bei Lebensrechtlern reichten die Reaktionen von vehementer Ablehnung des neuen Gesetzes über tiefe Sorge bis hin zur Erleichterung darüber, dass Schlimmeres verhindert worden sei.

Selten hat ein Gesetzentwurf selbst unter denen, die sich eingehend mit ihm befassten, eine derart heftige Kontroverse über dessen angemessene Bewertung ausgelöst. Klar ist eigentlich nur: Auch wer bemüht ist, die verschiedenen Standpunkte in Rechnung zu stellen, von denen aus die Kommentatoren auf das neue Gesetz blicken, kommt nicht umhin festzustellen: Es scheint unmöglich, dass alle Einschätzungen in gleicher Weise richtig sind. Was allerdings nicht notwendig heißen muss, dass auch gleich alle Positionen derart unversöhnlich sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Daher soll hier nachfolgend der Versuch einer Verständigung unternommen werden.

Doch zunächst ein Szenenwechsel: Berlin, 6. November, Reichstagsgebäude, Plenarsaal: Kurz nach 13.00 Uhr verkündet Bundestagsvizepräsidentin Edelgard Bulmahn das Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur Dritten Lesung des einer Gruppe um die Abgeordneten Michael Brand (CDU), Kerstin Griese (SPD) und Michael Frieser (CSU) eingebrachten Gesetzentwurfs (Bundestagsdrucksache 18/5373): 360 der 630 gewählten Volksvertreter stimmten für den Gesetzentwurf. 233 lehnten ihn ab. Neun Abgeordnete enthielten sich der Stimme. 28 hatten an der Abstimmung gar nicht erst teilgenommen.

Zuvor hatte sich der Gesetzentwurf in Zweiter Lesung gegen drei weitere Gesetzentwürfe durchgesetzt. Weil die Initiatoren aller vier Gesetzentwürfe sich auf keine Reihenfolge hatten einigen können, in der diese im Parlament zur Abstimmung zu stellen seien, wurde über sie - abweichend von der üblichen Geschäftsordnung des Bundestags - im sogenannten Stimmzettelverfahren abgestimmt.

Dabei entfielen auf den Gesetzentwurf der Abgeordneten Brand, Griese, Frieser und anderer 309 der 599 gültig abgegebenen Stimmen. Der Entwurf der Gruppe um die Abgeordneten Peter Hintze (CDU), Karl Lauterbach und Carola Reimann (beide SPD), der unter gewissen Auflagen die Einführung des ärztlich assistierten Suizids in Deutschland zur Folge gehabt hätte (Bundestagsdrucksache 18/5374), erhielt 128 Stimmen. 52 Parlamentarier stimmten für den Gesetzentwurf der Gruppe um die frühere Verbraucherministerin Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) und die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Petra Sitte (Bundestagsdrucksache 18/5375). Der vor allem von Lebensrechtlern favorisierte Gesetzentwurf einer Gruppe um die CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg, Thomas Dörflinger und Hubert Hüppe (Bundestagsdrucksache 18/5376), der ein Verbot jedweder Beihilfe zur Selbsttötung vorsah, erhielt 37 Stimmen.

Üblicherweise pflegt der Deutsche Bundestag über miteinander konkurrierende Gesetzentwürfe nacheinander abzustimmen, wobei dann über den weitreichendsten zuerst und über den am wenigsten weitreichenden zum Schluss abgestimmt wird. Sobald einer der zur Abstimmung stehenden Entwürfe die absolute Mehrheit erreicht, ist die Abstimmung zu Ende. Erreicht keiner der Entwürfe die absolute Mehrheit, kommt es zur Stichwahl.

In diesem Fall kam jedoch das Stimmzettelverfahren zur Anwendung. Dabei lag den Abgeordneten ein Stimmzettel Vor, der alle vier Gesetzentwürfe auflistete, verbunden mit der weiteren Möglichkeit, sich mit "Nein" gegen alle vier Gesetzentwürfe zu entscheiden oder aber sich der Stimmabgabe ganz zu enthalten. (Das Ergebnis dieser namentlichen Abstimmung dokumentiert "LebensForum" ab Seite 15.) Auf dem Stimmzettel durfte jeder Parlamentarier nur ein Kreuz machen.

Zuvor hatten die Abgeordneten mehr als drei Stunden lang mit mitunter harten Bandagen miteinander debattiert, für die von ihnen präferierten Entwürfe geworben und die der anderen heftig attackiert: Manche schreckten dabei selbst vor Panikmache und Desinformation nicht zurück (siehe INFO unten).

Man kann weder der gesamten, sich über mehr als eineinhalb Jahre erstreckenden Debatte, noch den in ihr handelnden Akteuren gerecht werden, wenn man zunächst - und zwar völlig unabhängig vom jeweiligen Standpunkt - zwei Dinge nicht in Rechnung stellt: Nämlich die bislang geltende Rechtslage und deren sich davon noch einmal - zumindest in weiten Teilen der Bevölkerung - unterscheidenden Rezeption.

Umfragen zufolge war nämlich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der irrigen Ansicht, der Staat verbiete die Beihilfe zur Selbsttötung. Tatsächlich waren aber bis zur jetzt erfolgten Regelung durch den Bundestag, die mittlerweile auch die Zustimmung des Bundesrats erhielt, weder die Selbsttötung noch irgendeine Form der Beihilfe dazu verboten. Der Staat hatte, auch wenn er die Beihilfe zur Selbsttötung nicht ausdrücklich erlaubte, sie doch auch nicht verboten und damit toleriert. Weder Ärzte noch Privatpersonen mussten eine strafrechtliche Verfolgung fürchten, wenn sie einem "Sterbewilligen" bei einem Suizid unter die Arme griffen. Nicht einmal das ärztliche Standesrecht, das dem entgegensteht, erwies sich als brauchbar, um Ärzte aus dem Verkehr zu ziehen, die Patienten bei der Selbsttötung assistierten.

Obgleich es mehrere Ärzte gab, die sich öffentlich dazu bekannten, wiederholt Beihilfe zum Suizid geleistet zu haben, wurde keinem einzigen die Zulassung entzogen noch wurde auch nur einer von ihnen von einem deutschen Gericht verurteilt. Im Gegenteil: Im März 2012 gab die 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin einer Klage des Urologen Uwe-Christian Arnold statt. Der hatte gegen die Ärztekammer Berlin geklagt, die ihm untersagen wollte, "Substanzen, die allein oder in Verbindung mit anderen dazu geeignet sind, den Tod eines Menschen herbeizuführen, an (...) Patienten abzugeben oder in sonstiger Weise zum Gebrauch für deren Suizid zu überlassen", und im Falle der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 50.000 Euro angedroht hatte.

In ihrem Urteil (Az.: VG 9K 63.09) führten die Richter aus, zwar könne das Standesrecht auch ein Verhalten verbieten, das nicht strafbar ist. Als Rechtsgrundlage reiche es aber nicht aus, um ein zwangsgeldbewährtes Verbot für ein Verhalten auszusprechen, dessen "ethische Zulässigkeit in bestimmten Fallkonstellationen auch innerhalb der Ärzteschaft äußerst kontrovers diskutiert" werde und dessen Verbot in diesen Fällen "intensiv in die Freiheit der Berufsausübung des Arztes und seine Gewissensfreiheit" eingreife.

Dabei könne es, so die Richter damals weiter, offen bleiben, ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, wenn der Staat die Beihilfe zum Suizid unter Strafe stelle oder die ärztliche Beihilfe zum Suizid gesetzlich verböte. "Solange dies aber nicht geschehen ist und auch die ärztliche Ethik in dieser Frage keine eindeutige Antwort gibt, ist kein Grund ersichtlich, weshalb das ärztliche Gewissen in den genannten Ausnahmefällen hinter der Auffassung der Ärztekammer zurückstehen sollte." Im Ergebnis erklärten die Richter die Verfügung der Berliner Ärztekammer daher für "rechtswidrig"und das angedrohte Zwangsgeld für "hinfällig".

Auch wenn die Mehrheit der Bürger die Rechtslage ganz anders eingeschätzt hat, Fakt ist: Das bisher geltende Recht bot nicht einmal einer Ärztekammer, die nicht die Augen davor verschließen wollte, dass ein ihr angehörender Arzt Patienten beim Suizid assistierte, eine rechtliche Handhabe, diesem derartige Handlungen zu untersagen.

Erschwerend kommt hinzu, dass selbst namhafte Juristen, die dem Schutz des Lebens höchste Priorität beimessen, mit anderen darin übereinstimmen, dass das Grundgesetz den Suizid selbst nicht nur nicht missbilligt, sondern dass ein gesetzliches Verbot desselben sogar verfassungswidrig wäre. So vertreten sowohl der Bonner Staatsrechtler Christian Hillgruber, Vorsitzender der "Juristen-Vereinigung Lebensrecht" (JVL), als auch sein Stellvertreter, Klaus-Ferdinand Gärditz, die Ansicht, dass auch das Grundrecht auf Leben (Art. 2, Abs. 2, Satz 1 GG) nicht den Schutz des Menschen vor sich selbst beinhalte. "Der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, und dessen Vollzug durch Selbsttötung" falle unter die "Ausübung grundrechtlicher Freiheit" und sei vom "allgemeinen Persönlichkeitsrecht" (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) gedeckt.

Wer bislang geglaubt hatte, der Staat missbillige grundsätzlich den Suizid und habe es nur unterlassen, dem auch unmissverständlichen Ausdruck zu verleihen, unterlag also offensichtlich einer Täuschung. S0 christlich, wie die Präambel des Grundgesetzes ("Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...") suggerieren mag, waren die Mütter und Väter des Grundgesetzes eben nicht. Bei genauerer Prüfung der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt sich vielmehr: Weder der Menschenwürdebegriff der Verfassung noch das Grundrecht auf Leben lässt sich, trotz großer Schnittmengen, mit der Sittenlehre der Katholischen Kirche vollumfänglich zur Deckung bringen.

"Lebensrechtler müssen sich die Augen gerieben haben."

So wendet sich aus Sicht der Katholischen Kirche der Suizident bei der Selbsttötung denn auch gar nicht gegen sein eigenes, sondern gegen ein ihm anvertrautes Gut. Für die Katholische Kirche ist der Mensch nicht "Eigentümer", sondern bloß "Verwalter" seines Lebens. Anders als der weltanschaulich neutrale Staat ist für die Kirche daher auch allein Gott, der den Menschen das Leben als Gabe schenkt und über deren Gebrauch er einst von ihnen Rechenschaft fordern wird, auch "Herr über Leben und Tod".

Wenn nun Sterbehelfer und kämpferische Atheisten, wie etwa der Vizepräsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), Erwin Kress, dem Bundestag gleichermaßen Vorwerfen, er habe sich mehrheitlich in das "Fahrwasser" katholischer Moraltheologen und protestantischer Sozialethiker begeben, dann ist dies gleich in doppelter Weise falsch. Zunächst weil es auch dem weltanschaulich neutralen Staat jederzeit möglich bleiben muss, zu exakt denselben Ergebnissen zu kommen wie eine Religionsgemeinschaft; jedenfalls so lange, wie der Staat dies anders als religiös zu begründen vermag. Zum anderen aber, weil dies hier gar nicht der Fall ist. Auf die Seite der Kirchen hätte sich der Staat nicht einmal dann geschlagen, wenn er jede Form der Beihilfe zum Suizid statt "nur" die geschäftsmäßige verboten hätte. Dies wäre erst dann der Fall, wenn er auch den Suizid selbst untersagt und dieses Verbot obendrein religiös begründet hätte.

Umso mehr müssen die überschwänglichen Reaktionen wundern, die der Bundestagsbeschluss bei maßgeblichen Repräsentanten beider christlicher Konfessionen hervorgerufen hat. In einer gemeinsamen Erklärung priesen der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Alois Glück, sowie der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, und die Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Irmgard Schwaetzer, geradezu enthusiastisch das neue Gesetz. Mit der Entscheidung für ein Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung hätten die Abgeordneten "ein starkes Zeichen für den Lebensschutz und damit für die Zukunft unserer Gesellschaft und ihren Zusammenhalt gesetzt". Das neue Gesetz schütze "schwerkranke und ältere Menschen vor einem zunehmenden sozialen Druck, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden". Auch Ärzte und Pflegekräfte würden "vor der Erwartungshaltung geschützt, im Rahmen der gesundheitlichen Versorgung Suizidassistenz zu leisten". Weiter heißt es, das neue Gesetz setze "klare rechtliche Rahmenbedingungen, achtet das persönliche Arzt-Patient-Verhältnis und stärkt die Selbstbestimmung der durch Krankheit geschwächten Menschen, indem diesen Menschen die solidarische Zuwendung bis zum letzten Atemzug garantiert wird".

Lebensrechtler müssen sich die Augen gerieben haben, als sie diese Erklärung lasen. Denn der einzige Gesetzentwurf, der all das tatsächlich hätte leisten können, wäre der Entwurf der Gruppe um die CDU-Abgeordneten Patrick Sensburg, Thomas Dörflinger und Hubert Hüppe gewesen. Er allein sah vor, Anstiftung und jede Form der Beihilfe zum Suizid ausnahmslos bei Strafe zu verbieten.

Dieses Verbot sollte in einem neuen § 217 StGB wie folgt gefasst werden:

"(1) Wer einen anderen dazu anstiftet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar."

Leider hatte dieser Gesetzentwurf große Mühe, überhaupt ausreichend Unterstützer zu finden, um in den Bundestag eingebracht werden zu können. Erfreulicherweise gelang es den Initiatoren auf den letzten Metern, Abgeordnete, die bereits den Brand/Griese/Frieser-Entwurf unterstützten, auch noch zur parallelen Zeichnung ihres Entwurfs zu bewegen, so dass dieser wenigstens zur Abstimmung gestellt werden und seine Initiatoren bei den Plenardebatten im Parlament für ihn werben konnten. Wie sich im Verlauf dieser Debatten herausstellen sollte, erwiesen sich letztlich vor allem zwei Hürden als zu hoch, um erfolgreich überwunden zu werden. Hürden, die - wie sich bei genauer Betrachtung feststellen lässt - allerdings lediglich in den Köpfen der Volksvertreter bestanden und kein Fundament in der Wirklichkeit besaßen.

Die erste Hürde bestand darin, dass der Gesetzentwurf das vollständige Verbot einer Praxis forderte, die hierzulande seit mehr als 140 Jahren mit dem Verzicht auf Strafe verbunden war, worauf zahlreiche Abgeordnete in den Bundestagsdebatten denn auch immer wieder mit Nachdruck hinwiesen. Auch wer grundsätzlich begrüßt, dass der Gesetzgeber im Strafrecht das "schärfste Schwert" des Staates erblickt und seinen Einsatz daher nur im äußersten Fall für angezeigt hält, wird nicht umhin können, festzustellen, dass der Verweis auf eine fast 15O-jährige Tradition noch kein Argument, sondern nur die Beschreibung einer Tatsache ist. Dass etwas von einer gewissen Dauer ist, belegt noch lange nicht dessen Richtigkeit. So war das "T4" genannte Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten ja auch nicht deshalb falsch, weil das Dritte Reich "nur" zwölf statt der von seinen Anhängern erhofften 1000 Jahre währte.

Die zweite Hürde war - noch bevor die Gesetzentwürfe vorlagen - von Juristen errichtet worden. Ohne Kenntnis der einzelnen Entwürfe hatten 150 "deutsche Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer" eine Stellungnahme "zur geplanten Ausweitung der Strafbarkeit der Sterbehilfe" unterzeichnet. Darin hieß es unter anderem: "Aus der Straflosigkeit des Suizids ergibt sich nach bewährten strafrechtsdogmatischen Regeln, dass auch die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar ist. Dies zu ändern, würde zu einem Systembruch führen, dessen Auswirkungen nicht absehbar sind." Auch wenn vernünftigen Menschen durchaus einleuchtet, dass die Beihilfe zu einer Tat grundsätzlich nicht schwerer bestraft werden kann als die Tat selbst, so muss die völlig blinde Anwendung dieses Prinzips durch 150 Strafrechtler hier doch sehr Verwundern. Denn die Beihilfe zur Selbsttötung unterscheidet sich ja schon formal signifikant von der Beihilfe zu jeder anderen Tat, wie etwa ein Vergleich mit einem Raubüberfall sofort einsichtig machen kann.

So richten sich bei einem Raubüberfall sowohl die Haupttat als auch die Beihilfe dazu (z.B. Beschaffung des Fluchtautos oder der Tatwaffe) jeweils gegen ein fremdes Gut, nämlich gegen das des Beraubten. Bei einem assistierten Suizid ist dies aber nicht der Fall. Aus Sicht des Staates richtet sich die Tat des Suizidenten lediglich gegen dessen eigenes Gut. Die Beihilfe des Suizidhelfers aber richtet sich gegen ein ihm fremdes Gut, nämlich gegen das Leben des Suizidenten. Aus diesem Grund müsste es dem Gesetzgeber völlig unbenommen bleiben, die Beihilfe zum Suizid rechtlich völlig anders zu bewerten als die Beihilfe zu irgendeiner anderen Tat. Wer wie die 150 Strafrechtler dagegen meint, zur Wahrung der Systematik des deutschen Strafrechts dürfe auch bei der Selbsttötung die Beihilfe zu dieser nicht schwerer bestraft werden als diese selbst, begeht entweder einen Kategorienfehler oder Vergleicht in der Hoffnung, anderen fiele dies nicht auf, absichtlich Äpfel mit Birnen.

Was in diesem Fall den Ausschlag gab, lässt sich kaum zweifelsfrei klären. Dass in Gestalt des Würzburger Strafrechtsprofessors Eric Hilgendorf aber einer der beiden Initiatoren der Erklärung der Strafrechtler auch im wissenschaftlichen Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) sitzt, wo auch der Urologe Uwe-Christian Arnold Platz genommen hat, ist mehr als bloß ein interessantes Detail. Die Tatsache, dass die GBS zusammen mit anderen Atheisten-Bünden die Kampagne "Letzte Hilfe" schulterte, die für die Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids warb, gibt immerhin Anlass zu der Hoffnung, dass es um das logische Denkvermögen deutscher Strafrechtler nicht generell besorgniserregend bestellt sein muss.

Dagegen sorgen sich Lebensrechtler mit Recht darum, welche Folgen der vorn Bundestag angenommene Gesetzentwurf entfalten wird. Wie auch der Sensburg/ Dörflinger/Hüppe-Entwurf fügt er dem Strafgesetzbuch einen neuen § 217 hinzu, fasst ihn jedoch wie folgt:

"(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten ist oder diesem nahesteht."

Auch wenn unter Juristen insoweit Einigkeit besteht, dass unter "geschäftsmäßigem" Handeln "das nachhaltige (...) Betreiben oder Anbieten gegenüber Dritten mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht" zu verstehen ist, gehen die Meinungen darüber auseinander, was als "nachhaltig" gelten kann. Sollte der Verein "Sterbehilfe Deutschland" vor dem Bundesverfassungsgericht mit seiner angekündigten Klage scheitern, werden womöglich andere Gerichte klären, wann die von Angehörigen oder Ärzten geleistete Beihilfe zur Selbsttötung als ein nachhaltiges Betreiben oder Anbieten von Suizidhilfe betrachtet werden muss.

Je nachdem, wie solche Urteile ausfallen, werden diese eine abschreckende oder aber ermutigende Wirkung entfalten. Fest steht derzeit nur: Sollte das Bundesverfassungsgericht das neue Gesetz für mit dem Grundgesetz vereinbar erklären, müssen nur Vereine wie "Sterbehilfe Deutschland" und Mediziner wie der Urologe Uwe-Christian Arnold fürchten, weggesperrt zu werden.

Katholiken können damit nicht zufrieden sein. Für sie wird, wie für andere vernünftig denkende Menschen auch, eine Handlung moralisch nicht erst dann verwerflich, wenn sie auf Wiederholung angelegt ist. Ist sie es, dann ist es die erste und einzige genauso wie die dreihundertste - so oft will allein Arnold Medienberichten zufolge Patienten bei einem Suizid assistiert haben. Kritisch hinterfragen wird man auch müssen, wie weit in der Praxis der Schutz vor Sterbehilfevereinen und Medizinern reicht, die mit tödlichem Handgepäck durch die Republik touren, wenn ihnen weder die Werbung für den Missbrauch der ärztlichen Kunst noch die Suizidberatung verboten ist.

Wenn trotz alldem dennoch einige Lebensrechtler erleichtert darüber sind, dass der Brand/Griese/Frieser-Entwurf und nicht etwa der Hintze/Reimann/ Lauterbach-Entwurf das Rennen gemacht hat, bedeutet dies keineswegs, dass sie die Beihilfe zum Suizid auch nur in einem einzigen Fall gutheißen. Es bedeutet nur, dass sie der Auffassung sind, dass mit Ausnahme des Sensburg/Dörflinger/Hüppe-Entwurfs, der als einziger Lebensrechtler wie Katholiken zufrieden gestellt hätte, jede der verbliebenen Optionen noch schlechter gewesen wäre als die, die der Bundestag am Ende mehrheitlich beschloss.

Das gilt sowohl für die bislang geltende Rechtslage, die jede Form der Suizidhilfe gestattet und die dann fortbestanden hätte, wenn keiner der vier Gesetzentwürfe eine Mehrheit erhalten hätte, als auch für den Hintze/Reimann/Lauterbach-Entwurf, der als einziger neben dem Brand/Griese/Frieser-Entwurf eine Aussicht auf eine Mehrheit im Parlament besaß.

Während der Brand/Griese/Frieser-Entwurf nämlich eine Verschärfung der bisher geltenden Rechtslage bedeutet, indem nun erstmals all jene mit Strafe bedroht werden, die aus der Suizidhilfe ein Regelangebot gemacht haben, hätte der Hintze/Reimann/Lauterbach-Entwurf ein solches von Staatswegen etabliert. Wenn auch unter Auflagen - die freilich ihrerseits jederzeit verschiebbar gewesen wären - hätte der Staat den ärztlich assistierten Suizid nicht länger bloß mehr toleriert, sondern erstmals tatsächlich positiv goutiert. Schon der Titel "Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung" zeigt an, um was es seinen Initiatoren ging. Nämlich um die Schaffung und Organisation einer Form, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden.

Auch wer mit dem Brand/Griese/Frieser-Entwurf zu Recht unzufrieden ist, kann einsehen, dass es noch einmal einen Unterschied macht, ob ein Staat nicht sämtliche Formen der Suizidhilfe verbietet oder ob er stattdessen die Assistenz bei einer Selbsttötung durch einen Arzt per Gesetz zu einer ärztlichen Tätigkeit erklärt und das ärztliche Standesrecht, das dem bislang entgegensteht, auf diese Weise gewissermaßen im Vorbeigehen auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt.

"Was war politisch mehrheitsfähig und was maximal zu erhoffen?"

Es lässt sich nicht leugnen, dass der Brand/Griese/Frieser-Entwurf entgegen der auch sonst erstaunlich kenntnisfreien Beurteilung durch DBK und EKD Patienten, die fürchten, anderen zur Last zu fallen, nicht den Druck nimmt, sich unter Umständen nicht doch für einen Suizid zu entscheiden. Der Hintze/Reimann/Lauterbach-Entwurf hätte diesen Druck aber durch die Schaffung eines staatlich legalisierten und organisierten Regelangebotes noch ungleich erhöht.

Lebensrechtler mögen darüber streiten können, ob der Brand/Griese/Frieser-Entwurf Anleihen an dem skandalösen Gesetzentwurf nahm, den vier Hochschullehrer im Sommer des vergangenen Jahres präsentiert hatten (vgl. LF 111, S. 10f.). Für jeden offensichtlich ist das jedenfalls nicht. Worüber sich aber - weil tatsächlich für jedermann offensichtlich - nicht streiten lässt, ist, dass eine Annahme des Hintze/ Reimann/Lauterbach-Entwurfs im Ergebnis eine nahezu vollumfängliche Umsetzung dieses Entwurfs bedeutet hätte.

Das Abstimmungsergebnis des deutschen Bundestages vom 6. November müsse "differenziert betrachtet werden", befand denn auch der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer. Zu fragen sei: "Was war politisch möglich und mehrheitsfähig? Und was war unter der Rücksicht eines umfassenden Lebensschutzes maximal zu erhoffen?" Der mehrheitlich verabschiedete Gesetzentwurf stelle die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe unter Strafe und sorge dafür, dass "'Suizidbeihilfe-Firmen', wie wir sie aus der Schweiz kennen, in Deutschland keine Arbeitsgrundlage haben. Insofern ist das Gesetz zu begrüßen", so Voderholzer.

"Was aber den Lebensschutz insgesamt betrifft", müsse befürchtet werden, "dass das neue Gesetz nur eine sehr schwache Hürde auf einer insgesamt abschüssigen Bahn" sei. Er sehe nicht, wie mit der vom Bundestag verabschiedeten Gesetzgebung verhindert werden könne, "dass der innere und äußere Druck auf alle Alten, Schwerkranken und Pflegebedürftigen zunimmt", so der Regensburger Oberhirte, der besorgt fragt: "Werden sich alte, bedürftige und schwerkranke Menschen wirklich noch von einer selbstverständlichen Solidarität und Hilfe ihrer Mitmenschen getragen wissen oder müssen sie sich nicht doch eher als Last und als unnütz empfinden, wenn sie ihren Platz nicht legal und unter straffreier Mithilfe eines Angehörigen oder Nahestehenden räumen?"

Lebensrechtler wären keine Lebensrechtler, wenn sie keinen umfassenden Schutz des Lebens einforderten und Gesetze nicht zuerst danach beurteilten, inwieweit sie ihn gewährleisten. In Politik und Gesellschaft hineinwirken werden sie aber auf Dauer nur können, wenn sie darüber hinaus bereit sind, berechtigte Kritik auch differenziert statt pauschal zu adressieren. Wer etwa in der Frage der rechtlichen Neuregelung des Suizids mit dem vom Bundestag beschlossenen Gesetz unzufrieden ist, zugleich aber Erleichterung darüber verspürt, dass noch schlechtere Alternativen verhindert wurden, der verrät nicht den Lebensschutz, sondern stellt lediglich die Realität einer inzwischen weitgehend entchristianisierten Gesellschaft in Rechnung.


INFO
Auszug aus der Debatte

Eine der bemerkenswerten Reden in der Bundestags-Debatte am 6. November hielt die grüne Bundestagsabgeordnete Elisabeth Scharfenberg, obwohl sie nicht den Sensburg/Dörflinger/Hüppe-Entwurf unterstützte, sondern zu den Initiatoren des Brand/Griese/Frieser-Entwurfs gehörte:

"(...) In unserer Gesellschaft leben immer mehr ältere und pflegebedürftige Menschen, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Menschen, die alleine leben, Menschen, die durch ihre Lebensumstände sehr verletzlich geworden sind und deshalb unseren besonderen Schutz brauchen. Wie aufgehoben sich diese Menschen in unserer Gesellschaft fühlen, das ist auch vom Ausgang der heutigen Debatte abhängig.

In unseren Diskussionen und Reden ist viel von Selbstbestimmung die Rede. Selbstbestimmung ist aber keine Einbahnstraße. Selbstbestimmung braucht Bedingungen, unter denen eine freie Entscheidung möglich ist.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Ich bezweifle, dass das bei den meisten Suiziden - assistiert oder nicht - der Fall ist. Wenn wir genauer hinschauen, warum vor allem ältere Menschen aus dem Leben scheiden wollen, dann sehen wir, dass sie niemandem zur Last fallen wollen. Sie haben Angst, Dinge nicht mehr allein tun zu können. Sie haben Angst, dement zu werden. Sie haben Angst vor Pflegebedürftigkeit. Viele leiden unter chronischen Schmerzen, unter versteckten Altersdepressionen, und viele sind einfach nur sehr, sehr einsam.

(...) Oft ist das Verlangen nach einem Suizid ein Hilferuf, der an uns gerichtet ist: Wende dich doch endlich mir zu! Siehst du denn überhaupt nicht, wie ich leide? - Diese Menschen wollen nicht um jeden Preis sterben. Diese Menschen befinden sich einmalig in einer Situation, aus der sie in dieser Situation keinen Ausweg wissen. (...) Suizid ist nicht eine Option im Leben, die gleichberechtigt neben anderen steht. Und genau darum geht es in unserem Gesetzentwurf: Suizidbeihilfe darf keine normale Dienstleistung werden. Suizidbeihilfe darf nicht alltäglich oder normal für unsere Gesellschaft sein.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Wir fürchten: Wo es ein Angebot gibt, gibt es auch eine Nachfrage, und wenn etwas gesetzlich geregelt ist und häufiger praktiziert wird, erweckt es den Eindruck von Normalität, von Unbedenklichkeit. (...)

Die steigende Zahl der assistierten Suizide in den Niederlanden zeigt: Das sind keine vagen Vermutungen. Die organisierte Sterbehilfe suggeriert uns: Wir haben eine ganz einfache Lösung für all eure Probleme; das Erbe für die Kinder und die Enkel muss nicht für die teure Pflege aufgebracht werden.

Woher das Zweifeln am Leben kommt, darum muss sich dann keiner mehr kümmern, da muss keiner mehr nachforschen. In der aktuellen Debatte wird häufig das Gefühl vermittelt, dass Alter, Schwäche, Demenz oder Pflegebedürftigkeit Zustände sind, die einem Menschen die Würde nehmen. Das möchte ich ganz klar zurückweisen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Es gibt kein würdeloses Leben, auch nicht in der Demenz. Wir machen es nur würdelos, wenn wir den Menschen nicht verstehen, wenn wir den Menschen degradieren, wenn wir über ihn reden anstatt mit ihm. Es ist nicht würdelos, auf Hilfe angewiesen zu sein. Es ist nicht würdelos, sich von anderen Menschen pflegen zu lassen. (...)"


IM PORTRAIT

Stefan Rehder, M.A.
Der Autor, geboren 1967, ist "Chef vom Dienst" der überregionalen, katholischen Tageszeitung "Die Tagespost", Redaktionsleiter von "LebensForum" und Leiter der Rehder Medienagentur Er studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Köln und München und hat mehrere bioethische Bücher verfasst, darunter "Grauzone Hirntod. Organspende verantworten" und "Die Todesengel. Euthanasie auf dem Vormarsch." Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2010 bzw. 2009. Stefan Rehder ist verheiratet und Vater von drei Kindern.

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 116, 4. Quartal 2016, S. 4 - 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2016

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