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ETHIK/1240: Medizinische Versuchsreihen im ehemaligen Landeskrankenhaus Schleswig (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2017

Hesterberg
"Ethisch in keiner Weise zu vertreten"

Interview von Dirk Schnack mit Dr. Henrik Herrmann


Dr. Henrik Herrmann zu den Versuchsreihen, die in den 1950er und 60er Jahren im früheren Landeskrankenhaus Schleswig an Patienten vorgenommen wurden.


Medien haben mehrfach über die fragwürdigen medizinischen Versuchsreihen berichtet, die es in früheren Jahrzehnten im ehemaligen Landeskrankenhaus Schleswig gegeben hat. Zunächst waren solche Versuchsreihen an Kindern bekannt geworden. In diesem Jahr stellte sich heraus, dass auch Patienten der Erwachsenenpsychiatrie solchen Versuchen ausgesetzt waren. Die Betroffenen sollen aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen oft nicht einwilligungsfähig gewesen sein. Außerdem sollen die Medikamente zum Teil allen neuen Patienten einer Station verabreicht worden sein, unabhängig von der individuellen Diagnose. Bekannt wurde dies aus historischen Fachaufsätzen, die die Mediziner im Anschluss an ihre Forschungen veröffentlichten. Nach Medienberichten sollen mehr als 800 Patienten betroffen sein. Ärzte sollen die Wirksamkeit von Psychopharmaka, die u. a. gegen Schizophrenie oder Psychosen helfen sollten, getestet haben. Dabei soll es zu Nebenwirkungen wie Bewegungsstarre oder Muskelsteifheit gekommen sein. In der Landespolitik diskutiert man, ob eine Aufarbeitung der Vorfälle ausschließlich auf Bundes- oder auch auf Landesebene geschehen soll. Dr. Henrik Herrmann, Vizepräsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, erläutert im Gespräch mit Dirk Schnack, wie die Ärztekammer zu diesen Versuchsreihen steht.

SHÄB: Warum haben Ärzte an den jetzt publik gewordenen Versuchsreihen mitgewirkt - wollten die primär helfen oder experimentieren?

Dr. Henrik Herrmann: Schon seit der Antike gibt es die beiden Grundfundamente ärztlichen Handelns: den Kranken zu helfen und ihnen keinen Schaden zuzufügen. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Ärzte primär helfen wollten und dass dies der Ausgangspunkt ihres Handelns war. Das schließt Experimente an gesunden und kranken Menschen aus, sofern nicht eine ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen mit einer sehr umfangreichen Aufklärung zuvor vorliegt. Wissenschaftlicher Fortschritt braucht Studien unter strikter Einhaltung ethischer Normen, die sich die ärztliche Profession selber gibt und die auch vom Rechtsstaat vorgegeben sind. Experimente ohne Einhaltung dieser Normen sind vollkommen inakzeptabel und aufs Entschiedenste abzulehnen.

Wie ist diese Mitwirkung ethisch einzustufen?

Herrmann: Medikamentöse Studien an Patienten, die nicht einwilligungsfähig sind und bei denen es auch keine Einwilligung von dritter Seite gibt, die sogar gegen den Willen der Patienten und unabhängig von den Diagnosen erfolgen, sind ethisch in keiner Weise vertretbar und dürfen auf keinen Fall durchgeführt werden. Ein Vorgehen, so wie es bei den Medikamentenversuchen Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Schleswig-Holstein vorgekommen ist, ist schon längst nicht mehr hinnehmbar. Inzwischen hat es in der Ärzteschaft weltweit einen Bewusstseinswandel durch die Helsinki-Deklaration gegeben.

Müssen wir dennoch befürchten, dass solche Versuchsreihen auch heute noch möglich sind?

Herrmann: Das ist heutzutage vollkommen undenkbar und somit nicht möglich. Seit mehreren Jahrzehnten haben wir in Schleswig-Holstein und bundesweit Ethikkommissionen, durch die jede Studie an Patienten in einem aufwendigen Verfahren überprüft und genehmigt werden muss. Diese Ethikkommissionen sind z. B. an den Universitätsklinika oder bei den jeweiligen Landesärztekammern angesiedelt und müssen im Vorwege zu jeder klinischen Studie eine Zustimmung geben.

Welchen Schutz / welche Sicherheit gibt es heute für Patienten?

Herrmann: Patienten, die heutzutage an Studien teilnehmen, haben einen eindeutigen rechtlichen Schutz und eine versicherungsrechtliche Sicherheit. Ohne ausführliche Aufklärung und Einwilligung ist eine Teilnahme an solchen Studien nicht möglich. Die Patientenrechte haben heute einen sehr hohen Stellenwert und sind vollständig zu berücksichtigen. Das hat sich z. B. schon im letzten Jahr auch bei der Bundestagsdebatte über Studien an Menschen mit kognitiven Einschränkungen gezeigt, wo intensiv diskutiert wurde, ob eine schriftliche Zustimmung nach Aufklärung zur Teilnahme an solchen Studien vor Eintritt der kognitiven Einschränkung ausreichend sein kann. Auch hierin zeigt sich die enorme Bedeutung der Zustimmung des Betroffenen und die hohe Hürde, welche eine Teilnahme an Studien beinhaltet.

Haben Aufsichtsgremien damals versagt?

Herrmann: Aufsichtsgremien wie heutzutage gab es in diesem Umfang in den 50er und Anfang der 60er Jahre leider noch nicht. Die Deklaration von Helsinki, die als erste weltweit in der Ärzteschaft die Regeln der guten klinischen Praxis und insbesondere zur Teilnahme an Studien festlegt, wurde erst 1964 verabschiedet. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass erst Mitte bis Ende der 50er Jahre in zunehmendem Maße eine pharmakologische Therapie von Krankheiten möglich war. Die ersten Psychopharmaka kamen Anfang der 50er Jahre auf den Markt, vorher hatten die Ärzte nur wenige Medikamente, die sie einsetzen konnten. Dennoch ist festzuhalten, dass es natürlich auch in den 50er Jahren eine ärztliche Berufsordnung gab und ein ethisches Handeln der Ärzte festgelegt war. Doch leider zeigt die Geschichte des 20. Jahrhunderts, dass auch in der Ärzteschaft diese Regeln nicht immer befolgt wurden, besonders leidvoll in den Jahren des Nationalsozialismus.

Wer sollte mit der Aufklärung beauftragt werden?

Herrmann: Zunächst einmal ist auch im historischen Sinne die Aufarbeitung dieser Vorfälle von äußerster Wichtigkeit. Nur so können wir aus der Vergangenheit lernen, dass wir auch in Zukunft wachsam sind, dass die ethischen Regeln gerade im ärztlichen Handeln vollkommen eingehalten werden. Auch die Rolle der deutschen Ärzteschaft im Nationalsozialismus ist erst in den letzten zehn Jahren historisch umfangreich aufgearbeitet worden. Auch hier hat Schleswig-Holstein eine Vorreiterrolle übernommen. Diese Aufklärung ist nicht ganz einfach, da grundlegende historische Arbeit geleistet werden muss, um die Fakten nach 50 Jahren ans Licht zu bringen. Es ist wünschenswert, wenn dies auf Landesebene aktiv betrieben wird und die Landespolitik sich dieser Aufarbeitung annimmt. Auch der Landtag selber hat ja seine Geschichte aus den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet, genauso sollte dies auch mit den Medikamentenversuchen geschehen. Es ist sehr zu begrüßen, dass durch die Medienberichte diese Medikamentenversuche aufgedeckt wurden, jetzt muss eine genaue Aufarbeitung erfolgen.

Kann die Ärztekammer etwas tun?

Herrmann: Die Ärztekammer Schleswig-Holstein als Körperschaft des öffentlichen Rechts kann selber und von sich aus eine genaue historische Aufarbeitung der Ereignisse vor 50 Jahren nicht vornehmen. Sie kann aber unterstützend tätig werden und diesen Aufarbeitungsprozess aktiv begleiten. Eine zentrale Aufgabe der Ärztekammer ist es, das ethische Handeln der ärztlichen Profession als oberstes Gebot hervorzuheben und immer dafür einzutreten, dass die Arzt-Patienten-Beziehung einen äußerst hohen Stellenwert hat. Es ist dabei nicht zu verschweigen, dass heutzutage gerade vor dem Hintergrund der ökonomischen Rahmenbedingungen dieses Arzt-Patienten-Verhältnis gestört werden kann. In dieser Hinsicht müssen die Ärztekammern sehr wachsam sein und aus der Geschichte lernen, damit sich solche Ereignisse nie wiederholen. Gerade dafür tun die Ärztekammern heute und in Zukunft viel und werden diese Aufgabe immer intensiv wahrnehmen.

Vielen Dank für das Gespräch.


info

2,1 Mio. Euro bringt das Land Schleswig-Holstein in die "Stiftung Anerkennung und Hilfe" ein, auf die sich Bund und Länder Ende 2016 geeinigt hatten, damit Vorgänge in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie zwischen 1949 und 1975 aufgearbeitet werden können. Für Betroffene in Schleswig-Holstein wurde eine Anlauf- und Beratungsstelle beim Landesamt für Soziale Dienste in Neumünster eingerichtet.

Versuchsreihen, wie sie früher im Landeskrankenhaus Schleswig vorgenommen wurden, hält er heute für undenkbar.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201704/h17044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, April 2017, Seite 14 - 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2017

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