Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2018
Ethik
Wegweisend auch für die heutige Medizin
von Horst Kreussler
Wie aktuell sind die ethischen Zentralbegriffe Albert Schweitzers heute noch? Dieser Frage ging ein medizinethisches Seminar an der Universität Hamburg nach.
Nur wenige Ärzte dürfte es geben, die von Albert Schweitzers
ethischem Zentralbegriff "Ehrfurcht vor dem Leben" nichts gehört
haben. Allerdings gibt es gelegentlich Zweifel, ob der berühmte
elsässische Arzt, Musiker, Theologe und Friedensnobelpreisträger des
Jahrgangs 1875 für die heutige und künftige Zeit noch Vorbild sein
kann. Auch vor dem Hintergrund der Reform des Hippokratischen Eids
sagte einer der besten Kenner Schweitzers, der Hallenser Gelehrte
Prof. Ernst Luther (geb. 1932) bei einem kürzlichen Referat im
medizinethischen Seminar der Universität Hamburg: "Ja, welthistorisch
betrachtet ist die Idee und das Programm Schweitzers noch sehr
lebendig."
Weithin bekannt ist wohl das Zitat mit Schweitzers Definition des Begriffs "Ehrfurcht vor dem Leben" (le respect de la vie, reverence for life): "Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will". Oder auch: "Gut ist, Leben zu erhalten und Leben zu fördern, böse ist, Leben zu vernichten und Leben zu hemmen." In diesen einfachen Sätzen, so Luther, klinge Nietzsches Lebensbejahung, Schopenhauers Mitleidsethik und Kants universeller Pflichtbegriff durch. Lange nach seinen philosophischen und theologischen Studien kam Albert Schweitzer auf seine fundamentale Idee, in der er Welt- und Lebensbejahung mit Ethik verknüpfte, als er im September 1915 auf einer langen Bootsfahrt zu einer kranken Missionsfrau in einer reichen Vegetation viele Flusspferde im Wasser wahrnahm. Menschen, Tiere, Pflanzen, und zwar grundsätzlich alle, schloss er in seine Idee ein. Bald habe er jedoch gesehen, dass sich ein solcher Universalitäts- und Absolutheitsanspruch in der Praxis nicht widerspruchsfrei halten lässt. Gegensätzliche Lebensansprüche zeigten sich zum Beispiel in Lambarene bei der Haltung von Hühnern, die vor gefräßigen Riesenameisen mit Lysol geschützt werden mussten.
Aber im Gegensatz zur gängigen Praxis einer unreflektierten egoistischen Selbstbehauptung, so Schweitzer, gelte es, sich vom Zeitgeist zu lösen und immer wieder Gutes für das Leben, für andere zu tun. Das könne der Schutz von Tieren und Pflanzen sein, soweit eben möglich im Rahmen einer vernünftigen Ernährung. Zu Jagd, Fischfang und Stierkampf habe sich Schweitzer kritisch geäußert. Er vermied aber ausdrücklich eine Rangfolge von mehr oder weniger wertvollem Leben.
Anders sein als viele in der Gesellschaft hieß für Schweitzer mit Vernunft und Herz handeln: zu wenige täten dies. Vor allem aber fehle es an Menschen, die sich auch für Schwache einsetzten, die ein bisschen Zeit, Teilnahme, ein bisschen Freundlichkeit zeigten, die "einmal einen freien Abend opfern", die ein kleines "Nebenamt" hätten: "Schaffen Sie sich ein Nebenamt!" Heute gibt es auch in Schleswig-Holstein eine ganze Reihe von Ärzten, die ein humanitäres "Nebenamt" (oder mehrere) haben, wie z. B. in den DRK-Ortsvereinen oder als Vorsitzende lokaler Spendenparlamente.
Einen weiteren Aspekt von Schweitzers Ethik zitierte der Medizinethiker Luther am Schluss: sein Appell zur ständigen Arbeit für eine friedliche Welt. Das kann speziell im Gesundheitsbereich heißen: ein engagiertes, tätiges, fleißiges, diszipliniertes Arbeiten für die körperliche und seelische Gesundheit des einzelnen und aller im Sinn der klassischen Tugend "vita activa", wie sie von vielen Ärzten seit jeher zum ärztlichen Ethos gezählt wird. Dass damit Ärzte letztlich auch zum Frieden in der Welt beitragen können, wird auch jüngeren Anhängern einer modernen freizeitorientierten "Work Life Balance" verständlich sein.
Damals war Schweitzers Arbeit für eine friedliche Welt vielfältig. Ganz praktisch setzte er sich im Spital von Lambarene für eine "gewaltfreie Psychiatrie" ein und quälte sich mit der Frage, ob ein "wohltätiger" oder fürsorglicher Zwang statthaft sei. Konkret versuchte er, ruhige und "lärmende" Geisteskranke angemessen getrennt unterzubringen. In seiner publizistischen und rednerischen Tätigkeit kritisierte er die Auswüchse der Kolonialpolitik, die beginnende atomare Rüstung, aber auch eine naturferne Überzivilisation. Schweitzers "Sieben Harmonieregeln" für den Frieden im Hause könnten in einem modernen Kommunikationsleitbild z. B. für ein Krankenhaus vorkommen, wie die Mahnung, spontan kein unbedachtes unfreundliches Wort zu sagen, den rechten Zeitpunkt für ernste Dinge zu wählen, nicht ungeduldig zu sein, nicht anklagend hinter dem Rücken eines anderen und schließlich: "Suche die Schuld des Unfriedens in deinem Haus immer bei dir selbst, und wenn du hundertmal glaubst, die anderen dafür verantwortlich machen zu können."
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Januar 2018, Seite 15
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2018
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