Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → FAKTEN


ETHIK/1332: Debatten in der Pandemie - Gespräch mit der Ethikrat-Vorsitzenden Alena Buyx (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2022

"Bei aller Gereiztheit werden wir etwas für die Zukunft mitnehmen"

Klaus-Jürgen Scherer im Gespräch mit der Medizinethikerin und Ethikrat-Vorsitzenden Alena Buyx über die Debatten in der Pandemie



Porträt von Prof. Dr. Alena Buyx - Foto: © Deutscher Ethikrat - Fotograf: Reiner Zensen

Die Medizinethikerin Prof. Dr. Alena Buyx ist Vorsitzende des Deutschen Ethikrats
Foto: © Deutscher Ethikrat - Fotograf: Reiner Zensen

Der Deutsche Ethikrat verfolgt nach gesetzlichem Auftrag als unabhängiges Sachverständigengremium "die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft". Seit 2020 ist die Medizinethikerin Alena Buyx Vorsitzende des Rates. Im Gespräch mit Klaus-Jürgen Scherer erläutert sie unter anderem, wie die Coronapandemie ihre Arbeit bestimmt und spricht über das Verhältnis zwischen Moral und Ethik.


NG|FH: Das Selbstverständnis des Ethikrats betrifft im Kern das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Einerseits nimmt die Bedeutung von Wissenschaft zu, andererseits wird aber doch mit Fake News alles wieder infrage gestellt, oder?

Buyx: Viele glauben, der Ethikrat sei dafür da, die Politik zu beraten. Das ist in der Tat eine wichtige Aufgabe, aber im Gesetz steht als erstes die Beförderung von öffentlichen Debatten zu ethischen Fragen. Angesichts dieser zwei Aufträge spielt natürlich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik und wie es im öffentlich-gesellschaftlichen Kontext gestaltet und vermittelt werden kann und soll eine wichtige Rolle, denn wir arbeiten ja genau an dieser Schnittstelle.


Was heißt das konkret?

Wir haben uns zum Beispiel in der letzten Ratsperiode bei einer Veranstaltung mit Fragen nach der wissenschaftlichen Einschätzung und der politischen Gestaltung im Umgang mit dem Klimawandel beschäftigt. Und dort wurde sehr intensiv die öffentliche Vermittlung diskutiert. Das beginnt schon mit der Wahl der Begriffe und Sprachbilder. Spricht man von Klimawandel, Klimakrise oder Klimakatastrophe? Da werden natürlich direkt unterschiedliche Grade von Dringlichkeit und Bedrohung mittransportiert. Und bereits da haben wir uns mit Fake News und mit neu entstehenden, teils dysfunktionalen Kommunikationsformen und -räumen befasst.

In fast jeder Empfehlung oder Stellungnahme des Ethikrates der letzten Jahre ist dieses Thema der Kommunikation zentral. In einer sich ja deutlich gewandelten kommunikativen Öffentlichkeit, in der sich die kommunikativen Räume immer stärker zergliedern - Stichwort Filterblasen - ist das aus meiner Sicht eine der zentralen ethischen Fragen für moderne Gesellschaften, was in diesem Bereich der öffentlichen Debatte passiert und wie man da gestalten kann. Denn da kann man ja typische ethische Konfliktlinien beobachten, etwa beim Bemühen, die Balance zu finden zwischen dem Schutz der Meinungsfreiheit und dem Eindämmen von Fehlinformation, Hass, Bedrohung. Das ist ein ganz klassisches Thema, das aber etwa in den sozialen Medien eine völlig neue Wucht entfaltet. Die Fragen nach dem Effekt von Desinformation etwa für unsere demokratischen Institutionen werden uns als Gesellschaft intensiv beschäftigen, das wird eines der wesentlichen Themen für die nächsten ein, zwei Jahrzehnte sein.


Sie sagen also, es braucht den Ethikrat gerade wegen dieser vielen Zielkonflikte...

...natürlich...


...die ohne Wissenschaft nicht mehr entscheidbar sind. Früher waren wohl die christlichen Kirchen zuständig für solche Fragen und das gesamte Leben?

Ich finde es sehr wichtig, dass wir als Ethikrat unsere Position und unseren Einfluss nicht überschätzen. Wir sind eine Institution in der Gesellschaft. Wir brauchen viele. Was der Ethikrat versucht, ist unterschiedliche Stränge sowohl der wissenschaftlichen Ethik als auch anderer Fachdisziplinen zusammenzubringen. Wir haben Mitglieder aus den Kirchen, einen Vertreter aus der Patientenselbsthilfe. Unsere Mitglieder haben teils sehr unterschiedliche Positionen. Wir versuchen als Expertengremium gleichzeitig Pluralität zu bieten, auch wenn wir natürlich kein Abbild der Gesellschaft sein können. Wir sind ein Gremium, das gesetzlich legitimiert ist, aber dennoch unabhängig. Anders als andere Gremien können wir uns Themen selbst auswählen. Und damit, so hoffe ich, füllen wir eine Lücke und bieten eine Plattform für schwierige Fragestellungen. Es braucht aber natürlich noch andere Prozesse der ethischen und gesellschaftlichen Meinungsbildung.


Auch wenn die moralischen Grundfragen von Krieg und Frieden aktuell dominieren, bleiben uns die anderen wichtigen ethischen Konflikte, mit denen sich der Ethikrat seit Jahren beschäftigt, erhalten. Was sind die zentralen Themen des Ethikrates?

Wir beschäftigen uns gegenwärtig mit dem Thema des Suizids und untersuchen zentrale Konzepte und Begriffe, die für eine Neuregelung von Suizidprävention und Suizidbeihilfe relevant sind, die insbesondere aber auch die zukünftige Praxis in diesem Bereich betreffen. Ein weiteres Thema ist das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine und welche ethischen und gesellschaftlichen Fragen die Durchdringung unserer Lebenswelten beispielsweise mit Entscheidungsalgorithmen aufwirft. Algorithmen in der medizinischen Behandlung, in der Schule - wollen wir das, und wenn ja, wie?

Auch das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft und eben auch das Thema des Umgangs mit neuen kommunikativen Räumen, mit Fake News und Desinformation gehören dieser Tage immer dazu.


In seiner neuesten umfangreichen Studie "Vulnerabilität und Resilienz" hat der Ethikrat Fehler und Missstände bei der Bewältigung der Coronakrise aufgezeigt, welche sind dies vor allem?

Wir haben in unserer Stellungnahme vieles aufgezeigt, das gut funktioniert hat - aber um Lehren zu ziehen, schaut man auch auf Beispiele, in denen es hätte besser laufen können. Vor allem zu Beginn der Krise wurde über dem Bemühen um Eindämmung der Pandemie zu wenig beachtet, wie unterschiedlich sich Verwundbarkeit darstellen und auch über die Zeit wandeln beziehungsweise verstärken kann.

Bezüglich der jüngeren Generation etwa wurde zu spät und zu wenig erkannt, in welchem Maße Kinder, Jugendliche, aber auch Auszubildende und Studierende unter den Kontaktbeschränkungen zu leiden hatten. Ihre besondere Verletzbarkeit liegt nicht so sehr in ihrer Anfälligkeit für COVID-19, sondern vielmehr darin, dass Einschränkungen ihres Rechts auf Bildung und allgemein ihrer Entwicklungsmöglichkeiten sie hart treffen. Das hat sich erst mit der Zeit gezeigt und in Zukunft müssen solche Erkenntnisse klarer zu einer entsprechenden politischen Gestaltung führen.

Es wurden auch bestehende Missstände von der Pandemie offengelegt und verschärft. Ein Beispiel hierfür ist der Personalmangel in der Pflege, ein weiteres sind die Defizite in der Digitalisierung, von denen die Gesundheitsämter bei der Kontaktpersonennachverfolgung ebenso betroffen waren wie Schulen bei der Umstellung auf Distanzunterricht. Probleme gab es auch bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Krise.

Um Abwägungen zwischen Schutzmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen seriös vornehmen zu können, werden zuverlässige und präzise Daten nicht nur zur Wirksamkeit der Maßnahmen, sondern auch zu ihren Konsequenzen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen benötigt. Die Wissenschaft hat hierzulande in verschiedenen Bereichen wie etwa der Impfstoffentwicklung geglänzt, zugleich gab es zu anderen wichtigen Fragen zu wenig Forschungsaktivität und -unterstützung oder keine ausreichende Datenbasis. Um für ähnliche Krisen besser gerüstet zu sein, entwickeln wir aus der Analyse dieser Beispiele ethische Kriterien für zukünftige Entscheidungskonstellationen, sowie konkrete Empfehlungen.


Welche Empfehlungen geben Sie in dieser Studie für zukünftige Pandemiekrisen im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Schutz?

Empfehlungen betreffen zum Beispiel den erforderlichen Schutz besonders vulnerabler Personengruppen. Dieses Ziel setzt ein umfassenderes Bewusstsein dafür voraus, auf welch unterschiedliche Weise Menschen sich in einer Pandemie als verletzlich erweisen können. Der Gegenbegriff zur Vulnerabilität ist ja die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit. Die gezielte Förderung von Resilienz setzt wiederum ein differenziertes Verständnis von Verletzbarkeit voraus. Neben der Stärkung individueller Resilienz werden in der Stellungnahme auch Maßnahmen zur Förderung der Krisenrobustheit von Institutionen und Organisationen empfohlen. Krisenfestigkeit von Institutionen erweist sich daran, wie gut es ihnen gelingt, Erfordernisse des Infektionsschutzes mit ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Auftrag in Einklang zu bringen.

Zur besseren Bewältigung zukünftiger Pandemien empfiehlt der Ethikrat weiterhin die frühzeitige Entwicklung einer Gesamtstrategie, die noch stärker dezentrale, an bereichsspezifische und regionale/lokale Gegebenheiten angepasste Schutzkonzepte beinhaltet. Um die Akzeptanz solcher Konzepte zu erhöhen, sollten bessere Kommunikations- und Informationsstrategien entwickelt werden. Dabei sollte zielgruppenorientiert und kultursensibel vorgegangen werden. Auch sollten soweit wie irgend möglich Personen an Entscheidungen über sie betreffende Schutzmaßnahmen beteiligt werden, also Möglichkeiten der Partizipation gestärkt werden.


Vieles läuft auf Sonderreglungen für bestimmte verletzliche Bevölkerungsgruppen hinaus, warum ist das eigentlich gerecht?

Gerechtigkeit bedeutet ja nicht die Gleichbehandlung aller. Das Ziel einer sinnvollen Schutzstrategie sollte es sein, aus der Pandemie und den zu ihrer Eindämmung ergriffenen Maßnahmen resultierende Belastungen möglichst gerecht zu verteilen. Das kann nur dann gelingen, wenn man das unterschiedliche Ausmaß berücksichtigt, in dem Menschen wegen ihrer physischen oder psychischen Konstitution oder auch ihrer Arbeits- und Lebenssituation für bestimmte Belastungen anfällig sind.

Leider hat sich während der Pandemie gezeigt, dass gerade ohnehin benachteiligte Personengruppen besonders von den Folgen der Krankheit und den Schutzmaßnahmen betroffen waren beziehungsweise sind. Es sollte daher darauf geachtet werden, dass sich vorhandene soziale Ungleichheiten in einer pandemischen Krise zumindest nicht weiter verschärfen. Dazu gehört auch, für angemessene Kompensation zu sorgen, wo sich ungleiche Belastungen nicht vermeiden lassen.


Etwas allgemeiner zum Thema Solidarität und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen nachgefragt: Da gibt es grundsätzlichen Reformbedarf?

Diese Begriffe werden ja schon sehr lange im Kontext von Gesundheit und Krankheit diskutiert, aber in den letzten zwei Jahren natürlich besonders intensiv. Für Solidaritätsforscher gab es in der Pandemie sehr viel zu untersuchen. Wir haben vom Ethikrat schon zu Beginn, im März 2020 und noch mit meinem Vorgänger Peter Dabrock betont, dass das Potenzial von Solidarität in der Gesellschaft enorm ist, es sich aber erschöpfen kann. Man muss damit pfleglich umgehen. Genau so hat sich das tatsächlich dann auch ereignet, was ja verschiedene sozialwissenschaftliche Studien über die Zeit untersucht bzw. festgehalten haben. Und daher gibt es immer die Diskussion, wie viel Solidarität kann man wie lange von dem Einzelnen einfordern im Spannungsfeld zwischen Individuum und Staat, etwa in der komplexen Abwägung von Gütern wie Freiheit und Gesundheitsschutz, die ja miteinander auch noch verwoben sind und sich nicht sozusagen unverbunden gegenüberstehen.

Bei aller Gereiztheit im öffentlichen Diskurs, angesichts der Rede von der "Spaltung" der Gesellschaft, der Skepsis gegenüber Wissenschaft in manchen gesellschaftlichen Gruppen, auch dem Verlust von Vertrauen in staatliche und andere Institutionen bin ich dennoch zuversichtlich, dass wir aus dieser intensiven Debatte, die wir als Gesellschaft über die Frage von Gerechtigkeit und Solidarität geführt haben in dieser Pandemie, etwas mitnehmen für die Zukunft, so anstrengend das auch war für uns alle. Wir versuchen in unserer Stellungnahme, die Komplexität der notwendigen Güterabwägungen zu beschreiben und ethische Kriterien zu formulieren, die dabei zukünftig noch stärker berücksichtigt werden sollten.


Vielfach wird zu viel moralisierende Überhöhung kritisiert. Spaltet nicht auch dies die Gesellschaft in verschiedenen Gruppen?

Moral, das ist eine griffige, wenn auch verkürzte Definition, ist die Gesamtheit unserer Werte und Normensysteme. Ethik wiederum ist das methodische Nachdenken über die Moral, also die Theorie der Moral. Dazu gehört die Analyse dieser unterschiedlichen Normensysteme und aus so einer umfassenden Analyse erwächst oft ein Verstehen und auch die Möglichkeit einer Verständigung über moralische Konflikte - also eigentlich das Gegenteil von "Spaltung".

Moralisierung ist deshalb ein Problem, weil sie nicht auf dieser Reflexionsebene operiert, sondern aus einer partikularen Position heraus und auch gelegentlich mit Schuldzuweisungen und Diskussionsstopps arbeitet. Um Ethik zu betreiben, muss man Argumente hören, andere Positionen kennen und verstehen, ist also nachgerade gezwungen, in den konstruktiven Austausch zu gehen. Gerade deswegen scheint mir die Unterscheidung zwischen Ethik und Moral in diesen Tagen so wichtig wie selten.

So gehen wir auch im Ethikrat vor. Im Rahmen der Analyse loten wir oft eine Art gemeinsamen Korridor aus, als mögliche gemeinsame Position. Das ist eine ganz wichtige Funktion der Arbeit des Rates, dass man sich trotz einer deutlichen Pluralität von Positionen regelmäßig auf eine gemeinsame Position einigen kann. Für so etwas ist ein beratendes Gremium ja da - ansonsten könnten wir einen Sammelband mit 24 pointierten Einzelpositionen veröffentlichen. Wenn eine gemeinsame Position nicht möglich ist, weil die Argumente und Begründungen auch nach sorgfältiger Prüfung von Kompromissoptionen zu weit auseinander liegen, dann macht man das transparent, das gibt es bei uns ja auch immer wieder.


Spielt die Arbeitsethik in der Arbeit des Ethikrates auch eine Rolle?

Das ist ein spannendes Thema, bei dem sich ja die Sozialwissenschaften, die Politik und die Ethik sehr fruchtbar verschränken können. Bisher haben wir uns das noch nicht spezifisch vorgenommen, aber es spielt natürlich eine gewisse Rolle etwa beim erwähnten Thema Mensch/Maschine. Die Pandemie war eine vollkommen außergewöhnliche Zeit mit einem viel schnelleren Rhythmus und anderen Formaten, eigentlich ist der Ethikrat für dieses Tempo nicht gebaut. Ich habe die Hoffnung, dass wir irgendwann wieder zurückkehren können zu einem etwas weniger atemlosen Arbeiten, wieder die langfristigeren thematischen Linien verfolgen können. Und ich bin selbst gespannt, welche Themen wir dann noch bearbeiten werden.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2022, S. 4 - 9
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
Kurfürstenstraße 84, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-7151, -52, -53, Telefax: 030/26 935 9238
E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang