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ETHIK/1334: Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie (Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 30 - Juli 2022 - 01/22

STELLUNGNAHME
Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie

von Thorsten Galert


In seiner am 4. April 2022 veröffentlichten Stellungnahme reflektiert der Deutsche Ethikrat die im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie gemachten Erfahrungen und zieht daraus Lehren für den zukünftigen Umgang mit Pandemien.


Er entwickelt wichtige ethische Kriterien für komplexe Entscheidungen und legt eine Reihe konkreter Empfehlungen für Güterabwägungen im Kontext von Pandemien vor. Neben dem Ausgleich zwischen individuellen Freiheitsrechten und Geboten der öffentlichen Gesundheitsfürsorge betreffen diese beispielsweise den Umgang mit Unwissen und Ungewissheit, die insbesondere zu Beginn der Pandemie politische Entscheidungen erschwert haben. Gefordert werden weiterhin verbesserte Kommunikations- und Informationsstrategien sowie die verstärkte Einbeziehung von Menschen mit eingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten in die sie betreffenden Entscheidungen. Bei der Entscheidung über Schutzmaßnahmen müssen die Menschenwürde und die Grund- und Menschenrechte in jedem Fall geachtet werden. Entstehende Belastungen müssen gerecht verteilt und Ungleichheiten gegebenenfalls kompensiert werden. Aus demokratietheoretischer Perspektive spricht sich der Ethikrat für die Förderung von Eigenverantwortung, Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt aus.

Während der COVID-19-Pandemie hat der Deutsche Ethikrat sich mehrfach kurzfristig zu ethischen Fragen geäußert, bezüglich derer akuter Beratungsbedarf entweder vonseiten der Politik angemeldet oder im Verlauf der öffentlichen Debatten offenkundig geworden war. So sind während der zwei ersten Pandemiejahre annähernd ebenso viele Ad-hoc-Empfehlungen erschienen wie zuvor insgesamt seit der Einführung dieses kürzeren Publikationsformats des Rates im Jahr 2014. So sinnvoll diese Zwischenrufe des Ethikrates in Form kurzer Publikationen gewesen sein mögen, stellten sie auch eine Belastungsprobe für das Gremium dar, dessen Arbeitsweise mit normalerweise monatlichem Sitzungstakt nicht gut zum politischen Handlungsdruck in Krisensituationen passt. Für die Zwecke der Ad-hoc-Empfehlungen mussten pragmatische Lösungen für moralische Konflikte gefunden werden, ohne diese ob der Kürze der Texte ausführlich begründen zu können - und teilweise ohne dass die zugrundeliegenden Kontroversen im Rat wirklich hätten ausgetragen werden können. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Erscheinen der abschließenden Stellungnahme des Rates zu normativen Fragen des Umgangs mit einer Pandemie zusätzlich an Bedeutung. Einige Rechtfertigungslasten, die in den kürzeren Veröffentlichungen nicht angemessen bewältigt werden konnten, werden darin nun gründlich abgetragen. Vor allem werden im normativen Teil der Stellungnahme die Kriterien detailliert erörtert, die der Deutsche Ethikrat bereits in seinen Ad-hoc-Empfehlungen bei der Abwägung der jeweils im Konflikt stehenden moralischen Güter zur Anwendung gebracht hat.

Missstände beseitigen

Die Entwicklung einer nachhaltigen Strategie, die sich auch bei der Bewältigung zukünftiger Pandemien bewähren können sollte, setzt eine kritische Analyse der in der Corona-Krise offen zu Tage getretenen systemischen Mängel und als ungeeignet erkannter Maßnahmen voraus. Zu den diskutierten Missständen gehört die unzureichende Vorbereitung auf die Pandemie, aber auch das Fehlen einer Langzeitstrategie zu ihrer Eindämmung. Zudem zeigte sich im Verlauf der Pandemie die mangelnde Krisenrobustheit diverser Institutionen, besonders dramatisch etwa im Fall der Gesundheitsämter. Viel zu lange mussten und müssen politische Entscheidungen auf ungenügender Datengrundlage getroffen werden. Auf die Dauer untergrub dies das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik ebenso wie die unzulängliche Krisenkommunikation. In der schlecht durchdachten letzten Konsequenz einzelner Infektionsschutzmaßnahmen kam es sogar zu Menschenrechtsverletzungen, wenn etwa Menschen in völliger Isolation sterben mussten. Aber auch ansonsten haben sich viele der während der Pandemie ergriffenen Schutz- und Partizipationskonzepte im Umgang mit besonders vulnerablen Gruppen (Menschen in der Langzeitpflege oder Behindertenhilfe, ohne feste Bleibe oder mit Flucht- oder Migrationshintergrund) im Laufe der Zeit als unzureichend herausgestellt. Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit, etwa hinsichtlich der mangelnden Würdigung der aus Rücksichtnahme auf ältere verpassten Entwicklungsmöglichkeiten junger Menschen, erhielten ebenso wenig die ihnen gebührende Aufmerksamkeit wie Fragen der internationalen Gerechtigkeit. Letztere betreffen beispielsweise das Maß der Solidarität, das wohlhabendere Länder weniger wohlhabenden bei der Bewältigung der Pandemie schulden.

Vulnerabilität und Resilienz

Der Ethikrat analysiert, wie Güterabwägungen während der Pandemie getroffen wurden, und schlägt normative Kriterien für zukünftige Abwägungen vor. Das Erleben der Pandemie hat vielen Menschen die Bedeutung bestimmter Merkmale der Grundverfassung der menschlichen Existenz in Erinnerung gerufen, wie etwa ihre wesentliche Verwundbarkeit und Verletzlichkeit. Der Ethikrat trägt dem Rechnung, indem er der Explikation der Kriterien pandemiepolitischer Entscheidungen (sozial-)anthropologische "Vergewisserungen" voranstellt, die um das Begriffspaar Vulnerabilität und Resilienz kreisen. Von der bereits erwähnten inhärenten Vulnerabilität des Menschen lässt sich zum einen eine situative Vulnerabilität unterscheiden, die in bestimmten sozialen, politischen oder ökonomischen Kontexten gründet, und zum anderen eine strukturelle Vulnerabilität. Letztere meint zunächst Gefährdungen der psychophysischen Integrität von Personen, die von Institutionen oder Organisationen ausgehen. Es kann aber auch sinnvoll sein, Institutionen selbst in einem übertragenen Sinn als vulnerabel zu betrachten, weil diese Betrachtungsweise Möglichkeiten zur gezielten Förderung ihrer Resilienz aufweisen kann. Als Gegenbegriff zur Vulnerabilität meint Resilienz sodann die Widerstandskraft bzw. Bewältigungskompetenz von Individuen oder Institutionen angesichts von Krisen.

Selbst wenn die während der Pandemie üblich gewordene pauschalisierende Rede über vulnerable Gruppen die Gefahr der Stigmatisierung in sich birgt, gibt es durchaus gute Gründe, in einer Krise einzelne Menschen oder bestimmte Personengruppen als "besonders" vulnerabel einzustufen. Daraus kann dann etwa ein Anspruch auf spezielle Solidarität abgeleitet werden. Auch bei solchen Überlegungen sollte nach Ansicht des Ethikrates ein differenziertes Verständnis von Vulnerabilität maßgeblich sein, das mehr als nur besondere Infektionsrisiken oder Risiken für schwere Krankheitsverläufe berücksichtigt. So können Menschen, die nicht als besonders vulnerabel für die Krankheit selbst zu betrachten sind, etwa in dem Sinn vulnerabel sein, dass sie besonders von den negativen Folgen der zur Eindämmung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen betroffen sind. Dies gilt beispielweise für Kinder, Jugendliche, Auszubildende und Studierende. Sie haben ein viel geringeres Risiko als ältere und vorerkrankte Menschen, schwer an COVID-19 zu erkranken, leiden dafür aber besonders unter Einschränkungen ihrer Ausbildungswege und ihres Soziallebens. Dennoch wurden ihnen erhebliche Einschränkungen dieser Art während der Corona-Krise auferlegt und unter anderem mit der Rücksichtnahme auf Ältere gerechtfertigt.

Entscheidungskriterien

Eine erste wichtige Quelle für Kriterien zu pandemischen Entscheidungskonflikten ist der Freiheitsbegriff. Der zentrale ethische Konflikt in Pandemien zwischen Freiheitsrechten auf der einen und Forderungen des Infektionsschutzes auf der anderen Seite stellt sich dann besonders unversöhnlich dar, wenn Freiheit individualistisch verstanden wird. Der Ethikrat setzt dem ein relationales Verständnis von Selbstbestimmung entgegen, demzufolge die Freiheit des Einzelnen sich in Abhängigkeit von anderen Personen und Institutionen konstituiert. Ebenso falsch wäre es, Freiheit als staatlicherseits gewährtes Privileg zu sehen. Vielmehr ist sie die prinzipiell unverhandelbare Grundlage des demokratischen Rechtsstaats. Intensive Eingriffe in Freiheitsrechte (etwa in der Form eines harten Lockdowns) sind demzufolge auch nur dann gerechtfertigt, wenn hohe Sterblichkeit, langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen signifikanter Bevölkerungsteile oder der drohende Kollaps des Gesundheitssystems nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen abgewendet werden können.

Weil die Folgen der Pandemie und ihrer Bewältigung zwar alle betreffen, aber eben nicht alle in gleicher Weise, kommen auch vielfältige Aspekte der Gerechtigkeit ins Spiel. Sie betreffen Kriterien für die gerechte Verteilung von knappen Impfstoffen oder intensivmedizinischen Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene ebenso wie Maßnahmen der Kompensation für besondere pandemiebedingte Belastungen. Ein Aspekt der intergenerationellen Gerechtigkeit betrifft die Frage, welche Lasten die gegenwärtig lebenden Menschen zukünftigen Generationen aufbürden dürfen, indem sie Pandemiefolgekosten durch die Neuaufnahme von Schulden finanzieren.

Eng mit dem Gerechtigkeitsbegriff verwoben ist der der Solidarität. Viele Menschen haben sie während der Corona-Krise freiwillig geübt, indem sie eigene Ansprüche, deren Erfüllung ihnen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten prinzipiell zustand, zugunsten anderer zumindest zeitweilig aus freien Stücken zurückgestellt haben. Für die Bewältigung der Pandemie sind aber auch Solidaritätspflichten von großer Bedeutung, die der Staat bestimmten Personengruppen auferlegt. Für die Akzeptabilität solcher Solidaritätspflichten ist unter anderem von Belang, dass die mit ihnen einhergehenden Lasten vom Staat möglichst fair verteilt und angemessen kompensiert werden. Für ihre faktische Akzeptanz dürfte darüber hinaus wesentlich sein, ob die zur Solidarität verpflichteten Personen den Institutionen, die über solche Verpflichtungen entscheiden (etwa Parlament, Verwaltungen) oder auf deren Wissensbasis solche Entscheidungen getroffen werden (Wissenschaft), vertrauen. Zusätzlich zum Vertrauensbegriff gewinnt in der Stellungnahme der Begriff der Verantwortung kriterielle Relevanz. Als besonders fruchtbar erweist sich das Konzept der Multiakteursverantwortung, dem zufolge Personen mit Entscheidungsbefugnis auf allen gesellschaftlichen Ebenen von einzelnen Einrichtungen oder Betrieben bis zur obersten politischen Entscheidungsebene entsprechend ihrem Zuständigkeitsbereich rollenspezifische und eng miteinander verflochtene Verantwortungen tragen. In diesem Zusammenspiel ist der Gesetzgeber in Bund und Ländern für die Regelung der Rahmenbedingungen zuständig, unter denen die Menschen selbst sowie im Sinne der Subsidiarität andere institutionelle Akteure tätig werden.

Im Anschluss an diesen Beitrag folgen die konkreten Empfehlungen für Güterabwägungen im Kontext von Pandemien, die der Deutsche Ethikrat am Ende seiner Stellungnahme ausspricht, im Wortlaut. Zur Einordnung sei vorausgeschickt, dass die Bekämpfung einer Pandemie in einem freiheitlich demokratischen Gemeinwesen eine Aufgabe ist, bei der die Individuen, die (Zivil-)Gesellschaft und der Staat - von der kommunalen Ebene über die Bundesländer bis hin zum Bund - zusammenwirken müssen. Bestehen keine effektiven und zumutbaren Selbstschutzmöglichkeiten, die der Eigenverantwortung der einzelnen Menschen und der Zivilgesellschaft unterliegen, können Bürgerinnen und Bürger vom Staat erwarten, dass er sie vor pandemiebedingten Gefahren für Leben, Gesundheit und andere grundrechtlich relevante Güter schützt.


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QUELLE

Die Stellungnahme "Vulnerabilität und Resilienz in der Krise - Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie" ist von der Website des Deutschen Ethikrates abrufbar unter
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-vulnerabilitaet-und-resilienz-in-der-krise.pdf
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Quelle:
Infobrief Nr. 30 - Juli 2022 - 01/22, Seite 6-8
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstraße 22/23, 10117 Berlin
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. August 2022

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