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FORSCHUNG/3391: Hirnforschung im Darm - Wie die Darmflora das Gehirn krank macht und wie sie es schützt (idw)


Deutsche Gesellschaft für Neurologie - 24.09.2015

Hirnforschung im Darm: Wie die Darmflora das Gehirn krank macht - und wie sie es schützt


23. September 2015 - Darmbakterien beeinflussen die Gesundheit des Gehirns, dies ist derzeit Gegenstand moderner neurologischer Forschung. Wissenschaftler entdecken Wechselwirkungen zwischen der menschlichen Darmflora und neurologischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose (MS), der Parkinson-Krankheit oder dem Schlaganfall. Aktuelle Forschungsergebnisse werden auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in Düsseldorf unter dem Motto "Mensch im Blick - Gehirn im Fokus" präsentiert.

Professor Hartmut Wekerle, Hertie-Seniorprofessor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München, der über die Entstehung der Autoimmunkrankheit MS forscht, sagt: "Den Mikrobiota kommt eine entscheidende Bedeutung als Trigger der Multiplen Sklerose zu."

Mikrobiota: Darmflora aus Billionen von Mikroben

Die menschliche Darmflora ist ein eigener Mikrokosmos. Jeder Mensch beherbergt eine Wohngemeinschaft aus etwa 100 Billionen Bakterien. Die Darmflora, auch Mikrobiota oder Mikrobiom genannt, setzt sich aus schätzungsweise 1000 verschiedenen Arten von Darmbakterien zusammen, die in den Wänden des Darms und in dessen Inhalt siedeln. Die Darmflora ist wichtig für die Verdauung, die Abwehr von gefährlichen Keimen und Giften oder die Stärkung des Immunsystems. Jeder Mensch besitzt eine individuelle Lebensgemeinschaft von Mikroben, die schützende Funktionen hat - aber auch krank machen kann.

Die menschliche Darmflora erweitert die Zahl der menschlichen Körperzellen um ein Vielfaches. Sie bringt in den Körper 100-mal mehr Gene ein, als der Mensch besitzt. Neue Methoden der Erbgutentschlüsselung, die Gen-Sequenzierung, und die Bioinformatik brachten den Durchbruch in der Darmflora-Forschung. Selbst äußerst komplexe Metagenome, also die Gene aus einer Bakterienmixtur, können schnell analysiert werden. Ziel ist es, individuelle mikrobielle Risikoprofile zu identifizieren, die Menschen zum Beispiel für MS anfällig machen. "So könnten sich völlig neue Möglichkeiten zur Vorbeugung und Therapie der Multiplen Sklerose eröffnen", hofft Wekerle.

Mikrobiota: Fernsteuerung der Autoimmunreaktion bei Multipler Sklerose

Dass es zwischen der Darmflora eines Menschen und der Entstehung der Multiplen Sklerose eine Verbindung gibt, wies Hartmut Wekerle in Tierstudien nach. Die MS ist eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems, bei der das körpereigene Immunsystem Nervenstrukturen angreift und zerstört. Oft verläuft die MS in Schüben. In Deutschland leben nach Schätzungen rund 130.000 Menschen mit dieser Autoimmunerkrankung, weltweit gibt es etwa 2,5 Millionen Patienten mit Multipler Sklerose. Bei der Entstehung der MS spielen Gene und Umweltfaktoren eine Rolle. Zu Letzteren zählen beispielsweise eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, Rauchen, Adipositas in der Kindheit oder ein Mangel an Vitamin D.

Die Forscher arbeiteten mit genetisch veränderten Mäusen. Wurden diese unter sauberen, aber nicht keimfreien Bedingungen gehalten, entwickelten sie eine Krankheit, die der schubförmigen MS ähnlich ist - die experimentell-autoimmune Enzephalomyelitis, EAE. Herrschte dagegen Keimfreiheit, waren die Tiere vor dieser Krankheit komplett geschützt. Sobald der Darm dieser "keimfreien" Mäuse aber mit der Darmflora von normal aufgewachsenen Tieren besiedelt wurde, erkrankten sie sofort spontan an EAE. "Offensichtlich wird in diesem Modell die Autoimmunreaktion gegen Gewebe des Zentralen Nervensystems von den Darmmikrobiota ferngesteuert", so Wekerle.

Kann die Ernährung die Entwicklung von MS fördern?

Welche Arten von Mikroben und in welcher Anzahl sie im menschlichen Darm vorkommen, hängt entscheidend von der Ernährung und von immunologischen Prozessen im Darm ab. An dieser Verbindung zwischen MS, Ernährung und der Darmflora forschen auch die Neurologen Prof. Ralf Gold, Erster Vorsitzender der DGN, und Dr. Aiden Haghikia von der Ruhr-Universität Bochum gemeinsam mit Neurologen aus Erlangen. Diese konnten schon früher zeigen, dass der zunehmende Gehalt von Kochsalz in der modernen Ernährung eine entzündungsfördernde Wirkung bei MS entfalten kann. Auch die Zusammensetzung verschiedener Fettsäuren in der Nahrung scheint die Entwicklung dieser Autoimmunerkrankung zu beeinflussen, wie noch unveröffentlichte Studienergebnisse belegen. Sie verändern das Vorkommen bestimmter Immunzellen, die an der Entstehung und dem Verlauf der Multiplen Sklerose beteiligt sind. Die Forscher arbeiten bereits an einer Fettsäure-Diät für MS-Patienten.

Dass die Ernährung die Entwicklung von MS beeinflussen könnte, zeigt auch folgendes Beispiel: In Japan hat die Häufigkeit der MS in den letzten Jahren zugenommen. Ein Grund könnte die Umstellung der traditionellen asiatischen Ernährung auf westliche Ernährungsweisen und die damit verbundene Veränderung der Darmflora sein, vermuten Forscher.

Gezielte Modulation der Darmflora als MS-Therapie?

In Zukunft könnte man die Darmflora gezielt über die Ernährung beeinflussen, etwa mit Präbiotika und Probiotika. Auch Antibiotika könnten die Zusammensetzung der Lebensgemeinschaft im Darm modulieren. Geforscht wird auch an der sogenannten Fäkaltransplantation, bei der die Mikrobiota eines gesunden Spenders auf eine Person übertragen werden, die zum Beispiel an MS erkrankt ist. Dieses Verfahren wurde schon bei Patienten mit einer schweren Darminfektion erfolgreich eingesetzt.

Die Hirn-Darm-Achse nach einem Schlaganfall

Welche Rolle die Darmflora bei Patienten nach einem Schlaganfall spielt, untersucht Prof. Ulrich Dirnagl von der Charité-Universitätsmedizin Berlin. "Wir haben festgestellt, dass viele Schlaganfallpatienten eine Lungenentzündung entwickeln, und uns gefragt, woher die Bakterien eigentlich kommen", sagt Dirnagl. "Der Darm, mit etwa einem Kilo Bakterien, wäre eine plausible Quelle." Der Forscher fand heraus, dass nach einem Schlaganfall mehrere Prozesse stattfinden, zum Beispiel eine Veränderung des Immunsystems, der Zusammensetzung der bakteriellen Gemeinschaft und der Darmdurchlässigkeit. "Die Barriere des Darms bricht zusammen", erklärt Dirnagl. Die Darm-Hirn-Achse bestehe darin, dass ein Schlaganfall das autonome Nervensystem moduliere und diese Veränderungen sich wiederum auf den Darm mit seinen Milliarden Nerven- und Immunzellen auswirkten. "Der Schlaganfall ist also kein reines Gefäß- oder Gehirnproblem." Vorstellbar sei in Zukunft eine Supplementierung von Schlaganfallpatienten mit Probiotika, aber nicht als alleinige Therapie, sondern in einem Gesamtbehandlungskonzept. "Die Patienten schlucken dann zum Beispiel Bakterienarten, die das Mikrobiom positiv verändern."

Demenz aus dem Darm?

Einer weiteren Theorie geht Prof. Claudio Franceschi von der Universität Bologna nach: Er untersucht an 100-Jährigen und deren Nachkommen, ob leichte chronische Entzündungsreaktionen Alterungsprozesse begünstigen und möglicherweise den geistigen Abbau im Alter fördern ("Inflammaging"). Seine Meinung: Das Mikrobiom im Darm und verschiedene Ernährungsfaktoren begünstigen diese chronischen Entzündungsprozesse - und damit die Zellalterung.


Quellen

- Hohlfeld R., Wekerle H. Multiple Sklerose und Mikrobiota. Vom Genom zum Metagenom. Nervenarzt 2015, doi: 10.1007/s00115-014-4248-7

- Berer K. et al. Commensal microbiota and myelin autoantigen cooperate to trigger autoimmune demyelination, Nature 479, 538-541, 24 November 2011, doi:10.1038/nature10554

- Haghikia A. et al. Immunity (2015), in press

• Veranstaltungshinweis
Professor Hartmut Wekerle gewährt am 24. September 2015 in einem Festvortrag auf der Eröffnungsveranstaltung des 88. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 23. bis 26. September in Düsseldorf (www.dgnkongress.org) einen Einblick in den Zusammenhang zwischen menschlicher Darmflora und neurologischen Krankheiten.

Fachlicher Kontakt bei Rückfragen
Prof. Dr. Hartmut Wekerle
Hertie-Seniorprofessor
Max-Planck-Institut für Neurobiologie
Planegg-Martinsried, Deutschland
E-Mail: boehlke@neuro.mpg.de

Prof. Dr. Ralf Gold
Ruhr-Universität Bochum
Direktor der Neurologischen Klinik
Gudrunstraße 56, 44791 Bochum
E-Mail: gold@dgn.org

Prof. Dr. Ulrich Dirnagl
Charité Universitätsmedizin Berlin
E-Mail: ulrich.dirnagl@charite.de

• Mensch im Blick - Gehirn im Fokus
88. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 23. bis 26. September in Düsseldorf
Rund 6000 Experten für Gehirn und Nerven tagen im September in Düsseldorf. Von Demenz bis Epilepsie, von Schlaganfall bis Multiple Sklerose - der DGN-Kongress ist das zentrale Wissenschafts-, Fortbildungs- und Diskussionsforum der neurologischen Medizin in Deutschland. Journalisten bietet er Gelegenheit zur Recherche sowie für persönliche Gespräche mit den führenden Köpfen der deutschen und internationalen Neuromedizin. Die DGN bietet ein gut ausgestattetes Pressezentrum. Die Pressekonferenzen finden statt am Mittwoch, 23. September, 10.00 bis 11.00 Uhr, sowie am Freitag, 25. September, 11.30 bis 12.30 Uhr. Akkreditierung und weitere Informationen:
www.dgnkongress.org/presse

Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
Frank A. Miltner, c/o albertZWEI media GmbH
Englmannstr. 2, 81673 München
E-Mail: presse@dgn.org, Tel: +49 (0) 89 46148622
Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen

• Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren rund 8000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin.
www.dgn.org

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Hirnforschung im Darm: Wie die Darmflora das Gehirn krank macht - und wie sie es schützt

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Frank A. Miltner, 24.09.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. September 2015

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