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GESCHICHTE/602: Im Zeitalter der Immunität (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke Nr. 60 - Ausgabe 2015
Das Forschungsmagazin - Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Im Zeitalter der Immunität
Was wir aus der Geschichte des Impfens über den Wandel moderner Gesellschaften lernen

von Malte Thießen


Wir leben im Zeitalter der Immunität. Frühere "Volksseuchen" wie Diphtherie, Pocken, Polio oder Tuberkulose haben für uns ihren Schrecken verloren. Die Vorstellung, gegen Infektionskrankheiten geschützt zu sein, ist für uns zur Normalität geworden. Redewendungen wie "das ist mir eingeimpft worden" oder "dagegen bin ich immun" sind dafür ganz alltägliche Belege. Die Alltäglichkeit von Immunität wird von Gegenbeispielen sogar noch untermauert. So können wir immer wieder von der baldigen Erfindung eines Impfstoffes gegen Krebs oder AIDS hören. Die Vorstellung, dass man gegen Krankheiten nicht geimpft sein könnte, ist heute undenkbar, zumindest aber schwer aushaltbar. Debatten um einen Impfstoff gegen Ebola oder um die Einführung einer Masernimpfpflicht sind zwei besonders aktuelle Beispiele für diesen Befund: Immunität ist für uns normal und alltäglich, ja eine Art Lebensgefühl.

Dieser Befund ist nicht so trivial, wie er zunächst klingt. Denn das Lebensgefühl ist ein relativ neues. Für Europa und die USA lässt es sich erst seit den 1960er- und 1970er-Jahren feststellen - für viele andere Staaten ist Immunität immer noch keineswegs Normalität. Die Geschichte des Impfens ist daher eine Geschichte der Moderne mit all ihren Widersprüchen. Sie wirft Fragen auf, die uns Einblicke in den Wandel moderner Gesellschaften eröffnen: Welche Ängste und Hoffnungen schürten Impfungen? Wie veränderten sie Risiko- und Sicherheitsvorstellungen, welche Normen, Hierarchien und Ordnungen wurden an Impfprogrammen verhandelt? Antworten auf diese Fragen möchte ich anhand einiger Schlaglichter aus einem laufenden Forschungsprojekt geben. Konkret nehme ich die Geschichte des Impfens anhand von vier Entwicklungen in den Blick, mit denen sich die Normalisierung des Lebensgefühls Immunität seit dem 19. Jahrhundert erklären lässt: Sie beruhte erstens auf einer Politisierung, zweitens auf einer Medialisierung sowie drittens auf einer Vermarktlichung von Immunität. Und viertens wurde die Normalisierung von einer Internationalisierung des Impfens gefördert.

Impfprogramme sind eine der mächtigsten Waffen im gesundheitspolitischen Arsenal. Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert wanderten Ärzte auf eigene Faust durch Europa, um Impfungen an zahlungskräftige Bürger zu verkaufen. Impfungen waren lange Zeit Privatsache. In Deutschland änderte sich das in den 1870er-Jahren. Nach der Staatsgründung rückte die Pockenschutzimpfung nach ganz oben auf die politische Agenda. Immunität versprach den Schutz des "Volkskörpers", gesunde Arbeitskräfte und steigende Bevölkerungszahlen. Im imperialen Zeitalter avancierten Impfungen so zu einer Art Standortvorteil im nationalen Wettrennen, wie es der nationalliberale Abgeordnete Wilhelm Löwe in einer Reichstagsdebatte auf den Punkt brachte: "Es handelt sich also um die Erhaltung einer unabsehbaren Reihe von Arbeitskräften und Arbeitstagen, welche den Einzelnen zum erhöhten Lebensgenuss helfen und der Gesellschaft wie dem Staate zu ihrer weiteren Entwicklung von höchstem Werth sind." Aus diesen Gründen wurde 1874 eine Impfpflicht gegen Pocken eingeführt. Seither waren alle deutschen Kinder im Alter von einem und zwölf Jahren gegen die Pocken zu impfen - notfalls mit Polizeigewalt.


Immunität regeln: Politisierung des Impfens

Dieser "Impfzwang" stieß auf Widerstand unter Sozialdemokraten, Liberalen und in der katholischen Zentrumspartei. Der Zentrumsabgeordnete August Reichensperger untermauerte seine Kritik an der Impfpflicht im Reichstag mit einem anschaulichen Beispiel: "Es werden Gefängnisstrafen angedroht! Meine Herren, ich meine, wir hätten im deutschen Reiche schon mehr als hinreichende Gelegenheit, eingesperrt zu werden; eine Mutter aber, welche von der Überzeugung ausgeht, dass das Impfen schädlich ist, deshalb ins Gefängnis zu schicken - das meine Herren, entspricht in der Tat nicht demjenigen, was ich mit dem Begriffe eines Kulturstaates verbinde."

Aus heutiger Perspektive reibt man sich verwundert die Augen: Klingt diese Debatte nicht ungemein vertraut? Hören wir heute nicht ganz ähnliche Argumente, wenn um die Impfpflicht gestritten wird? Zuletzt hatte Gesundheitsminister Daniel Bahr im Sommer 2013 wegen zunehmender Masernerkrankungen mit der Einführung einer Impfpflicht gedroht und dafür massive Kritik einstecken müssen. Im Tagesspiegel wehrte sich z.B. der Rechtswissenschaftler Ulrich Gassner mit klaren Worten gegen solche Pläne: "Impfzwang ist das fantasielose Mittel des totalen Präventionsstaats."

Ich möchte keine einfachen Parallelen vom Kaiserreich bis heute ziehen. Bemerkenswert erscheint mir aber doch die Beharrungskraft grundsätzlicher Debatten, die am Impfen aufbrechen. Denn in diesen Debatten geht es nicht "nur" um Leben und Tod. Es geht um die Gesellschaft als Ganzes: Was wiegt schwerer: Die Freiheit des Einzelnen oder die Sicherheit der Gesellschaft? Eine Geschichte des Impfens gewinnt folglich Erkenntnisse über Gesellschaftskonzepte und ihren Wandel. Eben das ist mit Politisierung von Immunität gemeint: die ständige Auseinandersetzung mit Risiko- und Sicherheitsvorstellungen, mit Allgemein- und Individualwohl. Es war nicht zuletzt dieser Aushandlungsprozess, dank dem Impfungen für die Deutschen zu einem allgegenwärtigen Bezugspunkt wurden.


Immunität sehen: Medialisierung

Eine zweite Entwicklung machte sich seit der Jahrhundertwende bemerkbar: die Medialisierung des Impfens. Dank neuer Medien war Immunität nun überall zu lesen, zu sehen und wenig später sogar zu hören. Bilder, Broschüren und Radioberichte "übersetzten" das Experten-Wissen in den Alltag. Auf der einen Seite erweiterte diese Medialisierung den Adressatenkreis. Auf der anderen Seite veränderte sie das Wissen selbst. In Ausstellungen, Illustrierten oder im Radio verdichtete sich medizinisches Wissen in einfachen Bildern, mit denen Immunität für jeden verstehbar wurde. Im Radio oder im Schaubild wurde Immunität konkret und persönlich: Elternängste und Hoffnungen wurden so für das Alltagsgespräch kompatibel.

Das wichtigste Medium waren Filme. So konnten die Deutschen seit den späten 1930er-Jahren Immunität sogar im Kino betrachten. Dass solche Filme das Prädikat "volksbildend" erhielten, dürfte mit ihrer Anschaulichkeit zusammenhängen. So lobte der Münchener Oberbürgermeister 1942 einen Film für die Diphtherie-Schutzimpfung nicht nur, weil dieser "in besonders anschaulicher Weise eine Impfung" zeige. Wichtiger noch erschien ihm, dass man im Film die Bedrohung, nämlich ein Diphtherie-krankes Kind sehen könne. Eben das war das Entscheidende an der Medialisierung, dass sie Ängsten und Hoffnungen ein Gesicht gab - und zwar im eigentlichen Wortsinn. Bilder von glücklichen und erkrankten Kindern waren ein überzeugenderes Argument als Gesetze und Strafen.

Kurz gesagt ist die Geschichte des Impfens also eine Mediengeschichte mit sozialen Folgen. Denn die Medialisierung von Immunität veränderte nicht nur die Vermittlungsformen, sondern das Wissen selbst. Populäre Bilder machten Impfungen alltagstauglich, so dass diese in den Erfahrungsschatz der Deutschen wanderten. Das aktuellste Beispiel für diese Medialisierung ist eine Medienkampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Die BZgA lehnt sich hier an das populäre TV-Format "Deutschland sucht den Superstar" an und erklärt "Deutschland sucht den Impfpass" zum Leitmotiv ihrer Plakat-, Internet- und Filmwerbung.


Immunität verkaufen: Vermarktlichung

Mit den Medien hängt eine dritte Entwicklung untrennbar zusammen: die Vermarktlichung von Immunität. Viele Medien stammten aus Pharmaunternehmen, die ein spezifisches Interesse an der Popularisierung hatten. In Deutschland lässt sich eine Vermarktlichung seit den 1930er-Jahren beobachten, was aus zwei Gründen bemerkenswert ist. Zum einen trugen Pharmaunternehmen im Nationalsozialismus einen neuen Ton in die Öffentlichkeit. Während das Kaiserreich und die Weimarer Republik oft auf staatliche Verordnungen gesetzt hatten, gab sich das "Dritte Reich" pragmatischer: Neue Impfungen sollten nicht mehr erzwungen, sondern beworben und freiwillig angenommen werden. Aber wie lässt sich diese Entdeckung der Freiwilligkeit ausgerechnet in der "Biodiktatur" erklären?

Das Engagement von Pharmaunternehmen gibt auf diese Frage eine Antwort. Großunternehmen wie die "Behringwerke" aus Marburg prägten seit den 1930er Jahren ein neues Marketing. Sie arbeiteten nicht nur eng mit der Presse zusammen. Darüber hinaus brachten Pharmaunternehmen Filme, Radiobeiträge und sogar Theaterstücke in die Öffentlichkeit, in denen die Angst vor Krankheiten in grellen Farben ausgemalt wurde. Dieses Marketing war ungemein effektiv. Ende der 1930er-Jahre erreichten freiwillige Diphtherie-Schutzimpfungen oft höhere Beteiligungsraten als die obligatorische Pockenschutzimpfung. Appelle und Ängste waren offenbar überzeugender als Zwangsmaßnahmen.

An der Vermarktlichung des Impfens lässt sich noch eine weitere Entwicklung festmachen: den Wandel des Gesundheitswesens bis zur Privatisierung seit den 1970er Jahren. Während Impfstoffproduktion und Organisation von Impfprogrammen bislang in staatlicher Hand gelegen hatten, gewannen Unternehmen im Nationalsozialismus an Einfluss. Deutlich wird der Einfluss am "Impfschein", in dem seit den 1930er-Jahren die Impfung gegen Diphtherie von den Gesundheitsämtern eingetragen wurde. Solche Impfscheine hatten in Deutschland eine lange Tradition und waren eigentlich nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich wird das Dokument erst, wenn man seine Rückseite betrachtet, auf der eine Art Werbe-Block für die Behringwerke zu sehen ist. Die Erklärung für diese Werbung liegt auf der Hand. Die Impfscheine der Gesundheitsämter stammten nicht mehr aus staatlicher Hand, sondern direkt aus dem Unternehmen, das auch den Impfstoff verkaufte. Spätestens in den 1930er-Jahren wurde also sichtbar, wie sich verschiedene Entwicklungen verbanden: Die Vermarktlichung wurde befördert durch die Medialisierung des Impfens und fußte zugleich auf der Politisierung, da staatliche Infrastrukturen für Marketing und Vertrieb von Pharmaunternehmen genutzt wurden.

Es wäre naiv, diese Verbindung aus Markt, Medien und Staat als harmonische Beziehung zu beschreiben. Spätestens in der Bundesrepublik kam es zu massiven Spannungen, wie die Einführung der Polio-Impfung zeigt. 1958 präsentierten die Behringwerke einen neuen Polio-Impfstoff, den sie umgehend auf den Markt bringen wollten. Als Beamte des Bundesgesundheitsamts (BGA) daraufhin eine Überprüfung der Produktion forderten, wurden sie von den Behringwerken mit der Begründung "Werkspionageverdacht" der Tür verwiesen, was für Aufregung in westdeutschen Zeitungen sorgte. Interessanterweise war die Aufregung über das BGA größer als die über das Pharmaunternehmen: "BGA tritt die Rücktrittbremse" war einer der Vorwürfe, den man 1958 in der "Süddeutschen Zeitung" lesen konnte. Angesichts steigender Polio-Erkrankungen erschien der Staat plötzlich als "Bedenkenträger", der seine Schutzpflicht gegenüber seiner Bürger vernachlässige.

Der Fall verweist nicht nur auf Verflechtungen zwischen Medien und Pharmaunternehmen. Er verweist ebenso darauf, dass auch an der Produktion von Impfungen um grundsätzliche Fragen gestritten wurden: Wer war denn nun verantwortlich für die Sicherheit der Deutschen - der Staat oder die Wirtschaft? Dass diese Frage bis heute für Streit sorgt, zuletzt zum Beispiel 2009 im Skandal um den Schweinegrippen-Impfstoff, unterstreicht die Relevanz dieser Entwicklung: Wechselwirkungen zwischen Markt, Medien und Staat sind nach wie vor ein Problem.


Immunität austauschen: Internationalisierung

Den letzten Schritt zur Normalisierung von Immunität gingen die Deutschen in den 1960er-Jahren. In dieser Zeit erlebten sie eine Internationalisierung des Impfens. Auf den ersten Blick ist dieser Befund erklärungsbedürftig: Seuchen machen ja nicht an nationalen Grenzen Halt, so dass bereits im 19. Jahrhundert ein internationaler Austausch zu bemerken ist. Und doch gewinnen internationale Verflechtungen beim Impfen seit den 1960er-Jahren eine neue Qualität: Erst jetzt kam es zur kontinuierlichen internationalen Zusammenarbeit, erst jetzt setzten sich internationale Standards für Impfungen durch und erst jetzt wurde die ganze Welt das Ziel systematischer Impfprogramme der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ein Beweis für diese Internationalisierung liegt bei fast allen Lesern der "Einblicke" zu Hause: der gelbe "Internationale Impfpass", der Anfang der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik eingeführt wurde. Wie lässt sich diese späte Internationalisierung erklären?

Ein entscheidender Grund war eine Bedrohung, die gar nicht so neu war: das Flugzeug. Flugzeuge waren jedoch in gesundheitlicher Hinsicht ein Albtraum. Bisherigen Immunisierungskonzepten hatten lange Reisezeiten von Schiffen noch in die Hände gespielt. Sie boten eine gewisse Garantie, dass Erkrankungen vor ihrer Einschleppung ausbrachen und isoliert werden konnten. Das Flugzeug warf solche Sicherheitskonzepte über den Haufen. 1965 warnte der Berliner Gesundheitssenator sogar davor, dass eine scheinbar ausgestorbene Seuche wie die Pocken "durch den modernen Reiseverkehr wieder zu einer ständigen Bedrohung geworden ist." In den 1960er-Jahren machten mehrere Pockeneinschleppungen in die Bundesrepublik deutlich, dass diese Warnung nicht übertrieben war. Die Globalisierung brachte also Probleme mit sich, für die Experten neue Lösungen fanden.

Zunächst einmal verwandelte sich die Werbung für Impfungen. Geworben wurde nun nicht mehr mit der Pflicht für den "Volkskörper", sondern mit der Sicherheit für das Individuum. Impfprogramme appellierten an das Eigeninteresse des Einzelnen, der sich gegen globale Gefahren immunisieren wollte.

Zweitens erweiterte sich der Horizont der Deutschen, die sich im Rahmen der WHO in Afrika und Asien engagierten. Solche Impfprogramme waren nicht nur humanitären Motiven geschuldet. Mehr noch entsprang die Immunisierung der "Entwicklungsländer" einer Selbst-Sorge. Denn mit der Eindämmung ferner Seuchenherde sank ja das Erkrankungsrisiko zu Hause. Internationale Kooperationen schufen also eine win-win-Situation, wie es das BGA 1961 auf den Punkt brachte. Während einer Pockeneinschleppung in Düsseldorf forderte das Amt stärkeres Engagement für Impfkampagnen in Asien und Afrika, da diese das Ziel verfolgten, "eine Seuche an ihren Hauptursprungsorten zu bekämpfen, statt Abwehrmaßnahmen vorwiegend in den durch Einschleppung bedrohten Ländern zu treffen."

Eine dritte Antwort auf globale Gefahren waren internationale Kooperationen zwischen den USA und Europa. Die Einigung auf gemeinsame Impf-Standards und Intensivierung des Wissenstransfers förderte allerdings nicht nur die Zusammenarbeit. Gleichzeitig verschärfte die Kooperation auch Konkurrenzverhältnisse und schürte sogar neue Konflikte. Besonders deutlich wurde diese Konkurrenz in Deutschland. Während die DDR dank systematischer Impfprogramme seit den späten 1950er-Jahren beim Zurückdrängen früherer "Volkskrankheiten" Erfolge errang, hatten die Westdeutschen Schwierigkeiten bei der Einführung neuer Impfprogramme. Selbstverständlich hielt die DDR mit ihren Erfolgen nicht hinter dem Berg. Vielmehr stellte sie den ostdeutschen Erfolgen die westdeutschen Probleme in Broschüren, Berichten und Plakaten gegenüber. Die höhere Impfquote fungierte so als Beleg, welcher Staat im Wettlauf um die gesündere bzw. "bessere" Gesellschaft die Nase vorn hatte.

Auch eine Internationalisierung des Impfens ist eine Entwicklung, die bis heute unseren Alltag prägt: zum einen in Form einer Flexibilisierung und Individualisierung des Impfens, die zunehmend auf persönliche Risikoeinschätzungen zugeschnitten wird und internationalen Standards verpflichtet ist; zum anderen beförderten internationale Kooperationen zugleich die internationale Konkurrenz. Die Impfquote ist heutzutage zu einer Art Gradmesser avanciert, der Fortschritt oder Versagen von Staaten sichtbar macht. Debatten um "failed states" in Afrika, die sich der Malaria, Polio und Tuberkulose nicht mit Impfungen erwehren können, sind dafür aktuelle Beispiele.


Fazit

Die Geschichte des Impfens ist nicht nur eine Geschichte von Gesundheit und Krankheit, von Leben und Tod. Sie ist eine Geschichte moderner Gesellschaften und ihres Wandels. Nachvollziehbar wird dieser Wandel an vier Entwicklungen, an der Politisierung des Impfens, an der Medialisierung, Vermarktlichung und Internationalisierung von Immunität. Eine Geschichte des Impfens immunisiert uns insofern gegen einfache Erfolgsgeschichten der Moderne. Sie macht auf Ambivalenzen und Spannungsfelder moderner Gesellschaften aufmerksam: auf das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Staatsbürger, zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen uns und der weiten Welt.

Eine Erforschung dieser Spannungsfelder stellt uns vor eine doppelte Herausforderung. Zum einen lässt sich einer Geschichte des Impfens nur in interdisziplinärer Perspektive nachspüren. Historiker und Mediziner, Sozial-, Politik- und Kulturwissenschaftler sind gemeinsam gefordert, wenn wir Immunität als eine Denkfigur der Moderne erkunden wollen. Zum anderen ist Immunität ein grenzenloses Projekt. Wir sollten den Blick über den nationalen Tellerrand werfen und internationale Kooperationen oder Konflikte betrachten, um den Aushandlungen von Ängsten und Sicherheit auf die Spur zu kommen, die uns nach wie vor begleiten.


Prof. Dr. Malte Thießen studierte Germanistik, Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg, wo er 2006 promovierte. Er war bis 2009 an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig, ehe er das Referendariat und Zweite Staatsexamen fürs Lehramt an Gymnasien absolvierte. 2010 übernahm Thießen die Juniorprofessur für europäische Zeitgeschichte an der Universität Oldenburg, zurzeit arbeitet er als Research Fellow am German Historical Institute London.

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Quelle:
Einblicke Nr. 60, 30. Jahrgang, Seite 38-42
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2016

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