Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → FAKTEN


GESCHICHTE/605: Wer bestimmt die Architektur der internationalen Gesundheitspolitik? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 152/Juni 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Zwischen Chaos und Choreografie
Wer bestimmt die Architektur der internationalen Gesundheitspolitik?

Von Anna Holzscheiter, Thurid Bahr und Laura Pantzerhielm


Kurz gefasst: Die internationale Gesundheitspolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert: von zwischenstaatlicher Zusammenarbeit im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation zu einer komplexen - manche sagen: chaotischen - Landschaft internationaler Organisationen, öffentlich-privater Partnerschaften und einflussreicher Stiftungen. Die historische Rekonstruktion zeigt das Bild eines dichten Gewebes gewachsener Interaktionsweisen und legt eine Architektur der Akteure in der Gesundheitspolitik frei.


Die internationale Krise, die durch den Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014 und 2015 ausgelöst wurde, hat einmal mehr das Bewusstsein für den grenzüberschreitenden Charakter gesundheitspolitischer Herausforderungen geschärft. Globale Gesundheit ist ein drängendes Thema unserer Zeit: In diesem Fall war es die Fledermaus in einem hohlen Baum in Guinea, die menschliches Wohlergehen weltweit gefährdete. Schon immer haben große Epidemien die internationale Kooperation im Gesundheitsbereich auf außenpolitischen Agenden nach oben gebracht: Pest, Cholera, Gelbfieber, HIV, Vogelgrippe, Schweinegrippe, SARS, MERS - die Liste ist mittlerweile lang. Seit 1990, insbesondere aber seit der letzten Jahrtausendwende, hat das Feld der internationalen Gesundheitspolitik eine beispiellose Transformation erlebt, was seine Protagonisten, Institutionen und Gegenstandsbereiche betrifft.

Inzwischen sind es nicht mehr nur die Gesundheits- und Außenminister und -ministerinnen, die sich auf gemeinsame Strategien zur Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitsbedrohungen einigen. Die internationale Gesundheitspolitik von heute ist geprägt von einer Vielzahl an Partnerschaften zwischen staatlichen und privaten Akteuren: Nicht mehr nur die Weltgesundheitsorganisation (WHO), sondern auch andere internationale Organisationen wie die Weltbank oder das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) kooperieren routiniert mit Wirtschaftsunternehmen, Forschungsinstituten, glaubensbasierten Organisationen, Betroffenenverbänden und Unternehmensberatungen, wenn es um Fragen der Gesundheit geht.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1948 hat die WHO jahrzehntelang ein recht überschaubares Mandat wahrgenommen: Sie war geschaffen worden, um internationale Koordination im Gesundheitsbereich möglich zu machen, vor allem durch die Bereitstellung fachlicher Expertise für ihre Mitgliedsstaaten und die Entwicklung und Überwachung von Normen und Standards. Ihr Hauptaugenmerk galt der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten und der Prävention durch globale Impfprogramme. Ihr bislang größter Erfolg - darin sind sich viele Beobachter einig - war die weltweite Ausrottung der Pocken im Jahr 1979.

Im Jahr 1988 machte sich die Weltgemeinschaft daran, einen zweiten Virus vom Erdball zu tilgen: den Polio-Virus (Kinderlähmung), an dem zu diesem Zeitpunkt jährlich geschätzt 350.000 Menschen erkrankten. In einem von 200 Fällen löst dieser Virus lebenslange Lähmung vor allem in den Beinen aus, in manchen Fällen mit tödlichen Folgen. Seit der Schaffung der Global Polio Eradication Initiative (GPEI) im Jahr 1988 - einer Partnerschaft zwischen der WHO, den amerikanischen Center for Disease Control and Prevention, Rotary International und UNICEF - ist die Zahl der Neuinfektionen auf beinahe null zurückgegangen. Aber eben nur beinahe. Bis heute ist Polio ein gravierendes Gesundheitsproblem in Pakistan und Afghanistan. Der zweifellos historische Erfolg bei der Eindämmung von Polio steht auf wackeligen Beinen. 2014 rief die WHO einen internationalen Gesundheitsnotstand aus, als sich insbesondere in Pakistan, Kamerun und Syrien, aber auch in anderen Ländern der Polio-Virus wieder rasant ausbreitete. Die gewalttätigen Konflikte der Gegenwart und die damit verbundenen historischen Fluchtbewegungen haben gezeigt, wie schnell Polio sich wieder zu einem Problem der öffentlichen Gesundheit entwickeln kann und wie schwierig Impfkampagnen in Konfliktzonen sind. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen im Jahr 2014 auf relativ niedrigem Niveau lag (356 registrierte Fälle), ist der finanzielle und logistische Aufwand zur endgültigen Bekämpfung des Erregers immens.

Die globale Strategie gegen Polio ist das bislang umfangreichste weltumfassende Gesundheitsprogramm. Sie zeigt anschaulich, wie sich die Kooperation in diesem Bereich in den vergangenen 25 Jahren verändert hat - von der Gesundheitsdiplomatie zwischen Staaten hin zur globalen Gesundheits-Governance durch staatliche und nichtstaatliche Akteure. Im Zuge einer beispiellosen Privatisierung der Weltpolitik nach 1990, gepaart mit einer Legitimitätskrise fast aller internationaler Organisationen, vollzogen sich in der globalen Gesundheitspolitik tektonische Verschiebungen, die das gesamte Politikfeld bis heute prägen. Internationale Organisationen (IOs) öffneten sich in nie gekanntem Ausmaß für private Akteure, private Akteure drängten in die IOs, zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure organisierten sich jenseits von (zwischen-)staatlichen Foren und Institutionen. Allein zwischen 1990 und 2000 stieg die Zahl privater Akteure in der globalen Gesundheitspolitik um ein Vielfaches an. Einen sprunghaften Anstieg verzeichneten zum Beispiel öffentlich-private Partnerschaften rund um einzelne Krankheiten, in denen vor allem Unternehmen und private Stiftungen prominent repräsentiert sind. Rotary International hat zwischen 1988 und 2013 1,2 Milliarden US-Dollar in die globale Polio-Strategie investiert. 2007 schaltete sich auch die Gates-Stiftung in die globale Partnerschaft ein und hat seither weitere 1,9 Milliarden US-Dollar für das Programm ausgegeben. Polio spiegelt dabei den generellen Zuwachs an finanziellen Ressourcen für globale Gesundheit wider: Zwischen 1990 und 2010 vervierfachten sich die weltweiten Entwicklungsgelder in diesem Bereich.

Die meisten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich mit dieser Verschiebung im Gesundheitssektor befassen, beklagen eine Zunahme an Komplexität: fragmentiert, chaotisch, unübersichtlich, unlenkbar - diese Adjektive prägen den gegenwärtigen Diskurs über globale Gesundheitspolitik. Die Forschung über global health governance hat sich festgelegt: Underperformance bei Ressourcenüberfluss, institutionelle Zersplitterung, Kollisionen von Regelsystemen. Auch der Diskurs über Polio hat sich über die Jahre grundlegend verändert. Im Vergleich zu HIV, beispielsweise, ist Polio zwar eine lang bekannte und gut behandelbare Infektionskrankheit - und die Landschaft der internationalen Akteure ist hier überschaubar. Dennoch gelten mittlerweile die schier unüberwindbaren Hürden auf dem Weg zur Auslöschung des Virus als Beleg dafür, wie komplex auch das Problem Polio ist: Polio zeigt die Probleme begrenzter Staatlichkeit; der Kampf gegen Polio leidet an unzureichender Koordination und Harmonisierung; Polio steht stellvertretend für eine fragmentierte globale Gesundheitspolitik.

Die Achillesferse des gesamten Politikfelds Gesundheit ist für viele Wissenschaftler und Praktikerinnen die mangelnde Koordination und Kooperation unter den Protagonisten der internationalen Gesundheitspolitik. Ebola hat zum wiederholten Male Regierungen auf der ganzen Welt aufgerüttelt und eine Flut an Initiativen in Gang gesetzt, die darauf abzielen, der Gesundheitspolitik Kohärenz zu verleihen und sie in eine Architektur einzubetten. Die fieberhafte Suche nach dem, was die globale Gesundheitspolitik im Innersten zusammenhält, nach Choreografie und Überblick, bestimmt die Debatte der Gegenwart.

Nähert man sich dem Forschungsgegenstand der global health governance mittels einer historischen Rekonstruktion der Beziehungen zwischen internationalen Organisationen in diesem Politikfeld, dann zeigt sich jedoch, dass es in diesen Beziehungen vielfältige, erkennbare und sich über die Zeit wandelnde Interaktionstypen gibt: von Wissenstransfer und gemeinsamer Wissensproduktion, beispielsweise in Expertengremien, über bilaterale strategische Beratungen oder gemeinsame Monitoring- und Evaluations-Systeme bis hin zu rechtlichen Verflechtungen etwa in der Form von formalen Kooperationsabkommen oder Vorstandsmitgliedschaften traditioneller zwischenstaatlicher Organisationen in neueren öffentlich-privaten Partnerschaften wie der globalen Impfallianz GAVI oder dem Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria.

Eine Untersuchung der Beziehungen zwischen diesen Organisationen zeichnet das Bild eines dichten Gewebes von Verbindungen, das neben rechtlichen Aspekten und Wissen auch gemeinsame Policy-Formulierung und vereinheitlichte Verwaltungsabläufe umfasst. Dieses Gewebe wächst, schrumpft und wandelt sich über die Zeit, aber es stellt eine erkennbare Ordnung zwischen Organisationen dar. Diese Feststellung widerspricht dem Pauschalurteil, die Beziehungen zwischen Organisationen in der Gesundheitspolitik seien hoffnungslos komplex, unübersichtlich und fragmentiert.

Die historische Betrachtung zeigt, dass die Art der Zusammenarbeit sich stetig ändert: Neue Interaktionstypen tauchen auf, andere werden dadurch in den Hintergrund gedrängt, verschwinden jedoch nicht gänzlich. So bestand die Interaktion zwischen WHO und UNICEF im Bereich der Grundimmunisierung bis in die späten 1980er Jahre hinein vorwiegend im Austausch und in der Weiterentwicklung technischer Expertise sowie in der bilateralen Koordination bereits bestehender Entwicklungsprojekte wie etwa nationaler Impfkampagnen zur Auslöschung von Polio. Später sollte die Zusammenarbeit verstärkt die Form von netzwerkähnlichen Interaktionen annehmen - etwa durch die Schaffung krankheitsspezifischer öffentlich-privater Partnerschaften wie der globalen Polio-Initiative, die erst durch die massive Ressourcenmobilisierung von Rotary International ermöglich wurde. Beobachtet man schließlich die vielfältigen Interaktionen zwischen internationalen Gesundheitsorganisationen seit ungefähr 2010, dann zeigt sich, dass die Ausgestaltung der Kooperationsformen und die institutionelle Landschaft selbst verstärkt thematisiert und ihre (Um-)Gestaltung zum Ziel einer Vielfalt institutioneller Reformen erklärt wurde. Mit anderen Worten: Es kann ein zunehmendes Bewusstsein der Organisationen dafür beobachtet werden, wie sie über ihre Kooperation Ordnung zu schaffen versuchen und welchen Platz und welche Autorität die eigene Organisation innerhalb solcher Ordnungen hat. Sowohl in der Polio-Initiative als auch in der globalen Impfallianz wurde heftig darüber gestritten, inwiefern diese beiden öffentlich-privaten Partnerschaften ihre Kräfte im Kampf gegen Polio vereinen sollten.

Eine historische Betrachtung des Politikfelds der globalen Gesundheit ist in unseren Augen unerlässlich, um den Blick dafür zu schärfen, wie diskursiv verankerte Normen und Wissensbestände "gutes Regieren" bestimmen und wie diese Normen zwischen Organisationen ausgehandelt und institutionalisiert werden. Im Lichte der aktuellen Diskussion über die Reform der globalen Gesundheitsarchitektur erscheint es uns geboten zu fragen, welche Vorstellungen von guter internationaler und globaler Organisation das Politikfeld Gesundheit geprägt haben und prägen. Gefragt werden sollte, wie sich Diskurse über gute globale Gesundheitspolitik auf das Handeln und die Beziehungen der Akteure auswirken.

Gefragt werden könnte auch, nach welchen Prinzipien das Politikfeld globale Gesundheit geordnet werden soll - und wer überhaupt bestimmt, dass es mehr Ordnung braucht. Wir sehen Anzeichen dafür, dass in aktuellen Debatten über eine bessere Choreografie der internationalen Gesundheitspolitik Koordination zum Selbstzweck wird. Harmonisierung und Effektivität werden zum Allheilmittel erhoben, wenn internationale Organisationen und globale öffentlich-private Programme hinter ihren oftmals sehr ambitionierten Zielen (wie der gänzlichen Auslöschung von Polio) zurückbleiben. Aber: Sind die übergeordneten Ziele, die erreicht werden sollen, die richtigen? Sind die Akteure, die die globale Gesundheitspolitik dominieren, und deren Programme die angebrachten? Haben vielleicht andere Akteure, beispielsweise aus dem globalen Süden, ganz andere Vorstellungen davon, was gute globale Gesundheitspolitik ist? Diese substanziellen Fragen bleiben von Wissenschaftlerinnen wie von Praktikern derzeit unbeantwortet.


Anna Holzscheiter ist Juniorprofessorin für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der FU Berlin und Leiterin der WZB-FU-Nachwuchsgruppe Governance for Global Health. Sie analysiert, wie sich die Beziehungen zwischen unterschiedlichen internationalen Organisationen im Gesundheitsbereich entwickeln. anna.holzscheiter@wzb.eu

Thurid Bahr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der WZB-FU-Nachwuchsgruppe Governance for Global Health und in der Arbeitsstelle Transnationale Beziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik der FU Berlin. Sie befasst sich hier mit theoretischen Ansätzen zu internationalen Institutionen und mit dem Feld Wirtschaft und Menschenrechte.
thurid.bahr@wzb.eu

Laura Pantzerhielm ist Doktorandin an der FU Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der WZB-FU-Nachwuchsgruppe Governance for Global Health. Sie forscht zu diskursiven Praktiken und Bedeutungskämpfen über Meta-Governance-Normen und ihren Auswirkungen auf institutionelle Ordnung und über internationale Gesundheitspolitik.
laura.pantzerhielm@wzb.eu


Literatur

Holzscheiter, Anna: "Interorganisationale Harmonisierung als sine qua non für die Effektivität von Global Governance? Eine soziologisch-institutionalistische Analyse interorganisationaler Strukturen in der globalen Gesundheitspolitik". In: Eugénia da Conceiçã-Heldt/Martin Koch/Andrea Liese (Hg.): Internationale Organisationen. Politische Vierteljahresschrift, 2015, Sonderheft 49, S. 322-348.

Holzscheiter, Anna: Restoring Order in Global Health Governance. CES Open Forum Series. Cambridge, MA: Center for European Studies, Harvard University 2015.

Jessop, Bob: "Metagovernance". In: Mark Bevir (Hg.): The SAGE Handbook of Governance 2014, pp. 106-123.

Lidén, Jon: The Grand Decade for Global Health: 1998-2008. Centre on Global Health Security Working Group Papers. Working Group on Global Governance, Paper 2. London: Chatham House 2013.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 152, Juni 2016, Seite 6 - 9
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang