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GESCHICHTE/612: NS-Zeit - Der Professor, den keiner wollte (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2017

NS-Zeit
Der Professor, den keiner wollte

von Karl-Werner Ratschko


Rassenhygiene war in Kiel schon früh ein Thema. Auch der Anthropologe Prof. Hans Weinert vertrat dabei abstoßende und wissenschaftlich abwegige Positionen.


Die Vermehrung des rassenhygienischen Lehrangebots an den deutschen Universitäten nach dem Ersten Weltkrieg hatte nicht zu einer Institutionalisierung der Rassenwissenschaft an den Universitäten geführt. Aus diesem Grund nahmen sich außeruniversitäre Einrichtungen wie das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) des offenbar zukunftsweisenden Forschungsgebietes an. Der erste Inhaber eines Lehrstuhls für Rassenhygiene, Fritz Lenz (1887-1976), gab der rassenhygienischen Wissenschaft ihre nationalsozialistische Prägung und verband, was eigentlich nicht zu verbinden war, nämlich die Parteiideologie und -propaganda der NSDAP mit der Hochschulwissenschaft. Er bezog sich auf Hitlers "Mein Kampf", orientierte sich also eindeutig an den Deutungen und der Ideologie Hitlers.(1) Schon 1931 lobte er die NSDAP als einzige Partei, die die Rassenhygiene als zentrale Forderung in ihrem Programm vertrete. Die Anpassung des Lehrangebots in Rassenhygiene an die Notwendigkeiten der von den Nationalsozialisten geprägten "neuen Zeit" war auch für die Medizinische Fakultät Kiel ein Bedürfnis. Zunächst wurden zwischen den Fächern Anthropologie und Hygiene die Zuständigkeiten geklärt. Dies erfolgte im Wesentlichen zwischen den beiden Fachvertretern. Bevor die Fakultät zu einem Antrag an das Wissenschaftsministerium kam, mit dem Otto Aichel (1871-1935) den Lehrauftrag für Rassenhygiene erhalten sollte, musste zwischen dem Hygieniker Hermann Dold (1882-1962) und ihm geklärt werden, ob der Hygieniker oder der "Rassenmann" die Rassenhygiene lesen sollte. Aichel setzte sich durch, da er "dem Gebiet schon jahrzehntelange Forschungen gewidmet hatte".(2) Eine Stellungnahme der Fakultät definierte die Lehraufträge für den Anthropologen und den Hygieniker: "Rassenhygiene wird in der Medizinischen Fakultät Kiel sowohl vom Hygieniker wie vom Anthropologen gelesen. Der Vertreter der Anthropologie liest außer über Anthropologie über menschliche Erblichkeitslehre und Eugenik. [...] Der Hygieniker behandelt Rassenhygiene vom Standpunkt der Gesamthygiene aus im Rahmen der Hygienischen Hauptvorlesung. Die Vorlesung ist angekündigt als Hygiene (Individual-, Sozial- und Rassenhygiene). Die Fakultät hält es für wichtig, dass Rassenhygiene sowohl vom Standpunkt des Hygienikers wie dem des Anthropologen gelehrt wird; sie ist daher damit einverstanden, dass der Vertreter der Anthropologie den ihm erteilten Lehrauftrag 'Anthropologie' in sinngemäßer Erweiterung als für die Gebiete der physischen Anthropologie, der menschlichen Erblichkeitslehre und der Rassenhygiene geltend auffasst." Der Antrag der Medizinischen Fakultät beim Ministerium hatte Erfolg. Aichels Lehrauftrag wurde entsprechend erweitert.(3) Die Hinwendung zur Rassenhygiene hatte jedoch in Kiel eine Vorgeschichte.

Hermann Dolds Festrede zur Reichsgründungsfeier 1931

Der Kieler Hygieniker Karl Kißkalt (1875-1962)(4) hatte nach dem Ersten Weltkrieg, beginnend mit dem Winterhalbjahr 1919/20, in Kiel ein Kolleg "Rassenhygiene" angeboten. Nachdem sein Nachfolger Arthur Korff-Petersen(5) (1882-1927) verstorben war, wurde Hermann Dold zum Wintersemester 1928/29 ordentlicher Professor für Hygiene in Kiel.(6) Das bereits von Kißkalt gehaltene Kolleg wurde bei Dold allerdings erst im Wintersemester 1931/32 zum Bestandteil der von ihm gehaltenen Vorlesung.(7) Möglicherweise war Dold durch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise dazu gebracht werden, einer auf Rassenhygiene ausgerichteten Sozial- und Bevölkerungsmedizin in seinem Unterricht besondere Beachtung zu schenken. Ein Beweis hierfür könnte der überraschende Inhalt seiner Festrede zur Reichgründungsfeier 1931(8) gewesen sein. In den Mittelpunkt seines Vertrages stellte er Fragen der Bevölkerungshygiene. Aufbauend auf die Feststellung, dass "die Jungen ab- und die Alten relativ" zunehmen, machte Dold deutlich, dass derartige Veränderungen der Struktur eines Volkes schwerwiegende wirtschaftliche und politische Folgen haben müssen, insbesondere dass "in einem derart alternden Volk von der geschrumpften Schicht der Schaffenden die Tributlasten und vermehrten sozialen Lasten [...]" nicht aufgebracht werden können."(9) Die begabten, aufstrebenden Kreise in allen Schichten der Bevölkerung, so Dold, würden ihre Nachkommenschaft immer mehr beschränken, während "die Kriminellen, Trunksüchtigen, Arbeitsscheuen, Liederlichen und besonders die Schwachsinnigen und Schwachbegabten eine zum Teil doppelt so große Kinderzahl aufweisen". Seine Darlegungen entsprachen in keiner Weise den Anforderungen an eine Festrede zum Anlass einer Feier zum Gedenken eines damals bedeutenden Gedenktages. Dold führte weiter aus: "Die Gefahr einer qualitativen Gegenauslese durch relative Zunahme der biologisch Minderwertigen darf gerade heute nicht unterschätzt werden, wo den Minderwertigen, vor allem den verdeckten Minderwertigkeitsträgern größere Freiheiten und Rechte und deshalb auch größere Möglichkeiten einer Einflußnahme auf das öffentliche und staatliche Geschehen gegeben sind als zuvor." Die Lösung sah er in einem Vorgehen, mit dem zentrale Elemente der späteren nationalsozialistischen Rassenideologie gefordert wurden: "Der Gedanke an kommende Geschlechter zwingt uns, mit allen möglichen Mitteln die Neuentstehung minderwertigen erbkranken Lebens zu verhindern. Die menschliche Gesellschaft hatte die Kühnheit, der Natur das Regulativ zu nehmen; sie wird nun auch den Mut aufbringen müssen, nicht bloß zu hegen und zu pflegen, sondern auch zu roden und zu jäten."(10) Die erschreckende Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Ideologie noch vor der Machtübernahme durch das NS-Regime ließ eine für einen Hochschullehrer damals ungewöhnliche Einstellung erkennen. Folgerichtig kam dann auch eine kritische Reaktion des Kieler Ordinarius für Strafrecht, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie Hermann Kantorowicz (1870-1940).(11)

"Die Kriminellen, Trunksüchtigen, Arbeitsscheuen, Liederlichen und besonders die Schwachsinnigen und Schwachbegabten weisen eine zum Teil doppelt so große Kinderzahl auf."

Herman Dold wechselte überraschend 1934 nach Tübingen. Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich schwierig, weil dieser möglichst auch für das Fach Rassenhygiene ausgewiesen sein sollte. Es fand sich eine überraschende Lösung. Die Wahl der Fakultät fiel auf den Tropenmediziner Ernst Rodenwaldt (1878-1965), der seit 1921 im holländischen Ostindien tätig war. Rodenwaldt wurde im September 1934 als ordentlicher Professor für Hygiene auf den Lehrstuhl in Kiel berufen. Damit hatte die Kieler Medizinische Fakultät sich "für einen für seine Zeit recht einfachen und wenig wissenschaftlichen Rassenanthropologe[n] und ideologische[n] Rassist[en] vom Scheitel bis zur Sohle entschieden", der sich genau damit in die "unintellektuelle rassenhygienische Strömung des nationalsozialistischen Regimes seiner Zeit" einfügte.(12) Rodenwaldt nahm schon ein Jahr später einen Ruf nach Heidelberg an. Nach einem weiteren Jahr wurde der Königsberger Hygieniker Werner Bachmann mit der Vertretungsprofessur beauftragt, der Mitte 1937 die ordentliche Professur folgte. Neben seinen Aufgaben als Hochschullehrer nahm Bachmann auch das Amt des Gauamtsleiters für Rassenhygiene im Gau Schleswig-Holstein wahr.(13)

Die Besetzung der Anthropologie mit Hans Weinert

Aichel war am 31. Januar 1935 gestorben. Die Fakultät fand keinen Wissenschaftler, den sie dem Ministerium als Nachfolger vorschlagen konnte. Der Markt an berufungsfähigen Anthropologen war leergefegt. Die wenigen Anthropologen, die in den letzten Jahren die erforderlichen Fähigkeiten für die Vertretung des Faches Anthropologie an der Hochschule erworben hatten, wie z. B. Saller und Löffler aus Kiel, waren bereits an anderer Stelle in festen Positionen beschäftigt oder kamen wie z. B. Saller wegen seiner von der nationalsozialistischen Ideologie abweichenden Auffassung nicht infrage. Es kann für das Ministerium nicht leicht gewesen sein, einen Nachfolger für Aichel zu finden. Über das Zustandekommen der Berufung des Nichtmediziners Weinert zum Direktor des Anthropologischen Instituts ist den Akten wenig zu entnehmen. Der zuständige Referent im Ministerium, Ministerialrat Jansen, äußerte sich über Weinert mit Datum vom 14. März 1935: "Daß von ihm die engeren medizinischen Belange vielleicht nicht so gut behandelt werden können, scheint bei der Gesamtlage in Kiel nicht so schwer ins Gewicht zu fallen, da sowohl in der Hygiene wie auch in der pathologischen Anatomie Lehrkräfte vorhanden sind, die diesen Zweig der Erblehre besonders pflegen. [...] Weinert ist im Rasse- und Siedlungsamt der SS tätig." Jansen meinte den neu berufenen Pathologen und in NS-Rassenideologie ausgewiesenen Staemmler und den bereits erwähnten Rodenwaldt. Allerdings folgten beide noch im gleichen Jahr Berufungen an andere Universitäten.(14) So wurde der bisherige Studienrat an der Oberrealschule Potsdam und n. b. a. o. Professor an der Universität Berlin Dr. phil. Hans Weinert persönlicher ordentlicher Professor für Anthropologie (Extraordinarius) sowohl der Medizinischen als auch der Philosophischen Fakultät in Kiel. Die "persönliche" ordentliche Professur war ein besonderes Konstrukt des preußischen Kultusministeriums, bei dem es die Ehre der ordentlichen Professur, aber nicht deren Bezahlung gab, eine Herabsetzung, die Weinert bis zu seiner Emeritierung kränkte. Weinert war zum Zeitpunkt seiner Berufung nicht Mitglied der NSDAP,(15) trat ihr jedoch 1937 bei.(16) Er selbst legte größten Wert darauf, als "wissenschaftlicher Mitarbeiter der SS" angeredet und bezeichnet zu werden. Innerhalb der Medizinischen Fakultät wie auch des Dozentenbundes bekleidete er keine Ämter und scheint auch nicht besonders beliebt gewesen zu sein. Weinert war Verfasser mehrerer erfolgreicher anthropologischer Lehrbücher, so u. a. folgender Titel: "Biologische Grundlagen für Rassenkunde und Rassenhygiene", Stuttgart 1934, "Vom Menschenaffen zur Menschheit", Erfurt 1938, und "Die Rassen der Menschheit", Leipzig/Berlin 1941.(17) In ihnen wird deutlich, dass Weinert sich mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifizierte. Er forderte die dankbare Anerkennung der "nationalsozialistischen Erhebung", die das Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) möglich gemacht hatte. Ferner war er der Meinung, dass das Wohl des Einzelnen sich dem Wohle des Ganzen unterzuordnen habe. Folgerichtig vertrat er zur Einführung der Zwangssterilisation durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933/34 die Auffassung: "Ein Mensch soll das selbstverständliche Recht und das unbewußt natürliche Streben alles Lebendigen, sich fortzupflanzen, hingeben aus Verantwortungsgefühl für sein Volk, obwohl er weiß, daß er selbst unschuldig ist."(18) Dies waren beschönigende Worte für ein Zwangsverfahren, mit dem viele Menschen gegen ihren Willen und nicht selten selbst aus der Sicht des GzVeN unbegründet um die Aussicht auf Nachkommenschaft und im Zusammenhang mit dem Erbgesundheitsgesetz vom 18. Oktober 1935 um die Aussicht auf Familie gebracht worden waren. Besonders widerwärtig erscheint seine auch wissenschaftlich abwegige Position zu den "Rheinlandbastarden", den etwa 600 bis 800 farbigen Kindern aus Beziehungen deutscher Frauen mit schwarzen französischen Besatzungssoldaten anlässlich der französischen Besetzung des Rheinlandes nach dem Ersten Weltkrieg. Hier urteilte er: "In den meisten Fällen werden die Menschen von beiden Eltern nicht das beste Erbgut mitbekommen haben. Unser Staat ist in vollem Recht, wenn er die weitere Fortpflanzung dieser lebenden Erinnerung an eine traurige schmachvolle Zeit unterbindet. [...] Es gibt also keinen Grund, der eine Weiterzüchtung dieser Rassenbastarde irgendwie denkbar oder gar notwendig machen könnte."(19) Im Sommer 1937 wurden insgesamt ca. 400 Kinder mit erfasster "Mischabstammung" sterilisiert. Diese Sterilisierungen erfolgten unter Federführung einer "Sonderkommission 3" mit Hilfe der Gestapo geheim und ohne gesetzliche Grundlage.(20)

Über Weinerts Fähigkeiten in der Lehre berichtet Stephan Pfürtner, damals Medizinstudent in Kiel, als Zeitzeuge aus dem Sommersemester 1942: Weinert vermochte die Studenten nicht zu fesseln, sodass Pfürtner sich bald "ausklinkte". Weinerts "wissenschaflich erwiesene" Unterschiede menschlicher Rassen und seine wertende Qualifizierung mit seiner daraus folgenden naiven Voreingenommenheit für die 'arische Rasse' waren zu offenkundig und brachten die Studenten häufig einfach nur zum Lachen.(21)

In Anbetracht der Bedeutung der Anthropologie für die nationalsozialistische Ideologie wurde über die Arbeiten in Weinerts Institut erst recht spät 1941 in Heft 1 der Kieler Blätter, der Zeitschrift des Kieler Nationalsozialistischen Dozentenbundes, berichtet.(22) Weinert beschreibt die Veränderungen der Aufgabenstellung des Kieler Anthropologischen Instituts in den vergangenen Jahren. Neben den "rassenkundlichen Erhebungen", die bereits unter seinem Vorgänger Aichel stattgefunden hätten, seien - so der Bericht von Weinert - in den letzten Jahren mehr und mehr erbbiologische Untersuchungen und Gutachten im Institut durchgeführt worden. Befunde aus jahrhundertealten Skelettresten, die in Schleswig-Holstein gefunden worden waren, wurden mit dem Knochenbau der in der Gegenwart lebenden Bevölkerung verglichen. So konnte "die Stetigkeit oder auch der Wandel in der Erscheinungsform der ansässigen Bevölkerung" festgestellt werden.(23) Die rassenkundliche Erfassung Schleswig-Holsteins, die bereits unter Aichel begonnen worden war, wurde in der Ägide Weinerts fortgesetzt. Seit 1935 wurde als großes zusammenhängendes Gebiet die Bevölkerung der Insel Helgoland anthropologisch untersucht und zusammen mit unveröffentlichten Daten früherer Untersuchungen als Habilitationsschrift des Assistenten Wolfgang Bauermeister (1907-1975) veröffentlicht. Die Arbeiten erlaubten es - so Weinert - mit den aufgestellten Sippschaftstafeln den Erbgang körperlicher Merkmale festzustellen. Besonders hebt er hervor, dass die untersuchte bodenständige Bevölkerung einen "mittleren Kopfindex" von 82 und 83 aufweise, ein Index, der eine "schwache Kurzköpfigkeit", verursacht durch ein "verhältnismäßig flaches Hinterhaupt" ausdrücke. Damit erfüllten die Schleswig-Holsteiner nicht die Forderungen Hans F.K. Günthers ("Rassen-Günther", 1891-1961) an die "nordische Rasse".(24) Weinert versucht diese unerwünschte Erkenntnis durch das Argument aufzufangen, dass die "Kurzköpfigkeit" bei dem aus dem Verhältnis von Längs- und Querdurchmesser des Schädels berechneten Index durch das "flache Hinterhaupt" herbeigeführt werde und damit "Schleswig-Holstein doch das Land des nordischen Rassenraumes" bleibe. Bei allen aus unserer heutigen Sicht ohnehin angebrachten Zweifeln an derartigen Indexberechnungen mit auch fragwürdigen Schlussfolgerungen wird deutlich, wie Weinert auf der einen Seite nicht bereit war, von ihm für richtig gehaltene wissenschaftliche Erkenntnisse zu unterdrücken, sie auf der anderen Seite jedoch mit "flexiblen" Interpretationen an die Rassevorstellungen der Nationalsozialisten anpasste. Im weiteren Text werden von Weinert Inhalte von Doktorarbeiten dargestellt, die durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft(25) unterstützt worden waren und die sich mit Einzeluntersuchungen an Skelettmaterial beschäftigen. Er geht auf erbbiologische Doktorarbeiten über familienstatistische Untersuchungen zum Problem der "Konfessionstheorie", zur "unterschiedlichen Fortpflanzung der Großstadtbevölkerung" sowie der Blutgruppenverteilung als Grundlage von zunehmend im Institut durchgeführten erbbiologischen Untersuchungen für die Feststellung der Vaterschaft und der arischen Abstammung ein. Hierzu schreibt Weinert: "Derartige Arbeiten sind notwendig, um aus den rein statistischen Ergebnissen die Schlüsse für unsere aufbauende Bevölkerungspolitik zu ziehen. Unterschiedlich soll die Fortpflanzung in der Bevölkerung ja in dem Sinne sein, daß die Erbtüchtigen sich stärker fortpflanzen als die erblich weniger gut ausgestatteten Familien, während die Erbuntüchtigen und Asozialen nach Möglichkeit von der Fortpflanzung ausgeschlossen bleiben sollen." Die Grundzüge nationalsozialistischer "Bevölkerungspolitik" in Richtung "Aufnordung" der Zusammensetzung der "Volksgemeinschaft" wurden von Weinert unterstützt, den für die nationalsozialistischen Ideologen unverzichtbaren Antisemitismus teilte er jedoch nicht. Die Historikerin Beate Meyer stellt hierzu 2003 in ihrer Arbeit über Hans Weinert fest, dass Weinerts Vorstellungen keine rassenhygienischen oder gar eliminatorischen Vorstellungen von Ausgrenzung oder Ermordung der Juden zur Wiederherstellung der "Rassenreinheit" enthalten, ein Sachverhalt, der sich in Weinerts erbbiologischen Gutachten in der Regel zugunsten der Untersuchten auswirkte.(26)

"Unterschiedlich soll die Fortpflanzung in dem Sinne sein, dass die Erbtüchtigen sich stärker fortpflanzen als die erblich weniger gut ausgestatteten Familien, während die Erbuntüchtigen und Asozialen von der Fortpflanzung ausgeschlossen bleiben."

In seinem Bericht in den Kieler Blättern hebt Weinert als wichtiges Sondergebiet die erbbiologischen Untersuchungen mit der "Frage nach arischer Abstammung" überwiegend auf Anweisung des Reichssippenamtes in Berlin hervor, eine Fragestellung, mit der "unter günstigen Umständen auch Leute von dem Verdacht befreit werden können, daß sie nichtarischer Abstammung wären".(27) Weinerts Reserve gegenüber dem nationalsozialistischen Antisemitismus zusammen mit einer auffällig ausgeprägten Geldgier führte in den Jahren 1942 bis 1944 dazu, dass er mit seinen Gutachten etwa 300 bis 500 Juden in den Niederlanden das Leben rettete.(28) Die Gelegenheit hierzu bekam er durch Hans Georg Calmeyer, den Leiter der Hauptabteilung Inneres in der deutschen Verwaltung der besetzten Niederlande,(29) der berechtigt war, in Zweifelsfällen über das Vorliegen einer jüdischen Abstammung zu entscheiden. Hans Georg Calmeyer (1903-1972) war ein deutscher Rechtsanwalt, der von 1941 bis 1945 3.500 bis 5.000 Juden in den von Deutschland besetzten Niederlanden das Leben rettete. Hans Weinert ermöglichte ihm durch seine erbbiologischen Gutachten, dass viele "Volljuden" der Deportation entgingen. Beschämend ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich der Kieler Universitätsprofessor sein Handeln von Calmeyer durch Honorarforderungen von 1.000 RM pro Gutachten bezahlen ließ, die, wie bei derlei Gutachten üblich, von den Betroffenen getragen werden mussten. Dabei konnte er bei jedem Besuch in den Niederlanden zwischen vier und zwölf "Fälle" begutachten. Seine knappen Gutachten - so Weinert - beschränkten sich auf das Wesentliche, da umfangreiche Messungen ohnehin "scheinwissenschaftliche Spielereien" seien.(30) Auch wenn Weinert sein Honorar mit den Reisekosten und der wenig schlüssigen Tatsache, dass er sie ohne Assistenten durchführen müsse, begründete und bei mehreren Fällen pro Besuch von ihm "Mengenrabatte" gewährt wurden, fand sich hier eine für Weinert glückliche Symbiose zwischen der Notlage vom Tode bedrohter Personen, wissenschaftlicher Einschätzung des Antisemitismus und an Bestechlichkeit grenzender Geldgier.(31) Die Begrenzung auf das Wesentliche zur Vermeidung "scheinwissenschaftlicher Spielereien" hielt Weinert jedoch in bestimmten Fällen nicht für angebracht. Beate Meyer schildert ein Interview, das sie 1992 mit einem Geschwisterpaar jüdischer Herkunft durchführte, das Weinert durch sein Gutachten vor einer Deportation bewahrt hatte. Hier hatten seine Untersuchungen noch einen weiteren Preis. Die Zeitzeugin sagte: "Das hat den ganzen Tag in Anspruch genommen, dieses Ausmessen und Abwiegen und Arme hochheben und den Busen vermessen und den Bauch vermessen. Es war menschenunwürdig. Aber wie gesagt, was wir nachher über das KZ gelesen haben, dagegen war das nichts, wirklich nichts."(32) Weinerts Verbindung der Erstellung von Gutachten mit sexuellen Übergriffen nutzte die Notlage der Betroffenen aus. Für sie war es zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, Zwangsarbeit, Deportation und Mord zu entkommen.

Der Verdacht ist naheliegend, dass die durch eine Zeitzeugin belegten, durch Weinert erfolgten sexuellen Übergriffe bei der Erstellung eines rassenbiologischen Gutachtens nicht einmalig gewesen sein dürften. Einen direkten Beweis hierfür gibt es nicht. Die Untersuchten waren im nationalsozialistischen Staat nicht in der Situation, sich zu beschweren. Indirekt erfolgt eine Bestätigung durch Untersuchungen im Rahmen eines gegen Weinert in den Jahren 1947 bis 1950 durchgeführten Disziplinarverfahrens, das deswegen hier kurz angesprochen werden soll.(33) Einzelheiten auch über weitere Vorwürfe finden sich auf den über 200 Seiten in der Akte Abt. 811, Nr. 12415 des Landesarchivs Schleswig-Holstein. Im Rahmen einer Vaterschaftsuntersuchung hatte der Nichtarzt Weinert, der solche "ärztlichen" Untersuchungen in der Regel durchführte,(34) nachdem er seine Mitarbeiterin aus dem Raum geschickt hatte, in einem - wie er meinte - für die Feststellung der Vaterschaft wichtigen Untersuchungsbestandteil versucht, die Orgasmusfähigkeit der Mutter festzustellen.(35) Diese Handlung war Anlass für die Beschwerde gegen ihn gewesen, da die Frau hierin einen sexuellen Übergriff gesehen hatte.

Weinert war als Anthropologe zu ärztlichen Untersuchungen nicht berechtigt. Anthropologische Untersuchungen im Zusammenhang mit Vaterschaftsbestimmungen waren zulässig, wenn die Betroffenen in Kenntnis des Status Weinerts diesem zugestimmt hatten. Weinert hatte zu seiner Verteidigung geltend gemacht, dass seine Untersuchungen vom Standpunkt "des praktischen Arztes sowie des Wissenschaftlers durchaus zu vertreten seien", nur war er kein praktischer Arzt und um Wissenschaft handelte es sich bei seinen Untersuchungen auch nicht. Abgesehen davon sind von Ärzten bei Untersuchungen von Patienten bestimmte Untersuchungs- und Hygienevoraussetzungen zu beachten, die hier offensichtlich keine Rolle spielten. Zitat aus dem Protokoll der Vernehmung Weinerts durch den Universitätsrat v. 15.11.1948: "[...] Ich bestreite also ganz entschieden, daß andere als rein wissenschaftliche Gründe mich bei der Untersuchung der Frau M. geleitet haben. Die Frage des Eintritts oder Nichteintritts des Orgasmus war unbedingt notwendig als das letzte Mittel zur Feststellung, ob es bei dem Verkehr der Frau M. mit L. zum Orgasmus gekommen ist."(36) Nach der Anhörung vieler Zeugen und dem Verstreichen einiger Zeit wurde die Beschwerde zurückgewiesen. Ausschlaggebend dafür wird bei einer Reihe von Hinweisen, die gegen Weinert sprachen, das Gutachten eines Hamburger Obergutachters gewesen sein, der - wie es scheint - Weinert etwas widerwillig bescheinigte, dass die von dem Anthropologen durchgeführte Untersuchung notwendig gewesen sei: "Das Gutachten Prof. Weinerts ist sachlich richtig. Die von ihm durchgeführten Untersuchungen gehören, wie auch das Gericht schon anerkannt hat, zu einem vollen Programm biologischer Vaterschaftsbeurteilung, genügende Delikatesse in der Durchführung vorausgesetzt, dazu."(37) An den hier nicht im Einzelnen dargestellten Inhalten des Ermittlungsverfahrens wird erkennbar, dass Weinerts Handeln in den damaligen gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht zur Einleitung eines Disziplinarverfahrens führen konnte, weil juristisch ein Fehlverhalten nicht nachzuweisen war,(38) oder nicht nachgewiesen werden sollte, auch wenn der Sachverhalt eigentlich eindeutig war. Der Bescheid des Kurators vom 22. April 1950 lässt jedoch, wie in solchen amtlichen Schreiben auch nicht anders möglich, immerhin indirekt Zweifel am korrekten Verhalten Weinerts erkennen. So blieb Weinert weiterhin Direktor seines Instituts. Nach der Zerstörung des Anthropologischen Instituts am 26. August 1944 ging Weinert nach Göttingen, wie er mit Schreiben vom 19. September 1944 direkt dem Reichserziehungsministerium und nachrichtlich dem Kieler Universitätsrektor Andreas Predöhl (1893-1974) mitteilte, um dort "im Auftrage der Gerichte, des Reichssippenamtes und anderer Partei- und Dienststellen erbbiologische Untersuchungen zur Feststellung fraglicher Vaterschaft und Abstammung durchzuführen [...]." Predöhl leitete das Schreiben an den Kurator der Universität weiter "mit dem Bemerken [...], dass ich die Art und Weise, wie Herr Weinert seine Dinge auf Kosten der Universität Kiel betreibt, sehr unerfreulich finde. [...] Grundsätzlich scheint es mir durchaus erwünscht, wenn Weinert von der Universität Göttingen mehr oder minder übernommen wird."(39) Die geringe Wertschätzung Weinerts in der Kieler Medizinischen Fakultät wird auch durch die Einschätzungen des Dekans Erich Rominger (1886-1967) und des Rektors Hans Gerhard Creutzfeldt (1885-1964) im August 1945 deutlich. Ersterer schrieb: "Der bisherige Direktor des Kieler Anthropologischen Instituts, Professor Dr. Weinert, ist als reiner Vertreter des politischen Rassismus nicht tragbar und kann seine Lehrtätigkeit in Kiel nicht wieder aufnehmen", und weiter "[...] bin ich der Meinung, [...], daß wir ihn als Fachvertreter für Anthropologie nicht länger tolerieren können und daß er deshalb das Kieler Lehr- und Forschungsmaterial an das Anatomische Institut der Kieler Universität [...] zurückschicken soll."(40) Creutzfeldt pflichtete ihm bei.(41) Die Fakultät musste sich nach dem Krieg noch in mehreren Sitzungen mit dem 'Problem' Weinert beschäftigen, der mit der Sammlung des Anthropologischen Instituts in Göttingen untergekommen war und den die Fakultät nicht mehr in ihren Reihen haben wollte. Wohl weil ihn auch keine andere Universität haben wollte, kehrte Weinert 1946 nach Kiel zurück und wurde 68-jährig am 31. Juli 1955 emeritiert. Er starb am 7. März 1967 in Heidelberg. Er gehört zu jenen, die sowohl im Nationalsozialismus als auch in der Zeit danach neben anthropologisch-wissenschaftlichen Interessen ihre Position zu ihrem eigenen Vorteil und eigener Befriedigung ausnutzten und sich dabei die Ideologie der nationalsozialistischen Machthaber wie auch die Schwächen der Nachkriegsregierungen persönlich nutzbar machten.


Daten

1935
wurde Hans Weinert ordentlicher Professor für Anthropologie der Medizinischen und der Philosophischen Fakultät in Kiel. Weinert war kein Mediziner und legte Wert darauf als "wissenschaftlicher Mitarbeiter der SS" bezeichnet zu werden.

1937
wurden 400 damals als "Rheinlandbastarde" bezeichnete farbige Kinder von der Gestapo geheim und ohne gesetzliche Grundlage zwangssterilisiert. Der Kieler Prof. Hans Weinert sah den Staat dabei "in vollem Recht".

1946
kehrte Weinert nach Kiel zurück und wurde 9 Jahre später mit 68 Jahren emeritiert. Im Krieg hatte Weinert zwar mit Gutachten dazu beigetragen, dass Menschenleben gerettet wurden - allerdings nur gegen Bezahlung.

1967
starb Hans Weinert in Heidelberg. In der Medizinischen Fakultät in Kiel hatte er stets nur geringe Wertschätzung erfahren.



Literatur beim Verfasser
Dr. med. Dr. phil. Karl-Werner Ratschko
Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg

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KARDIOLOGEN BELEUCHTEN IHRE ROLLE IM NATIONALSOZIALISMUS

70 Jahre nach Kriegsende hat Medizinhistoriker Prof. Timo Baumann seine Erkenntnisse über die "Deutsche Gesellschaft für Kreislaufforschung im Nationalsozialismus 1933-1945" in Buchform (Springer Verlag) vorgelegt. Baumann hatte drei Jahre im Rahmen eines von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) in Auftrag gegebenen und finanzierten Forschungsprojektes recherchiert. Laut DGK ist es Baumann gelungen, "ein differenziertes Sittenbild der dunkelsten Epoche deutscher Gesichte zu zeichnen, das Biografien von Opfern wie Tätern gleichermaßen umfasst". Baumann konnte u. a. anhand der systematisch erfassten Mitgliederbewegungen dokumentieren, dass nahezu alle Mitglieder aus verfolgten Bevölkerungsgruppen ab 1933 nach und nach aus der Gesellschaft verschwanden, darunter mit Ordinarius Bruno Zacharias Kisch auch einer der Gründer der Gesellschaft. Der als Sohn eines Rabbiners geborene Cousin des Journalisten Egon Erwin Kisch hatte in der Gesellschaft die Position des ersten ständigen Schriftführers und damit eine Art Geschäftsführerposition inne. 1933 wurde Kisch abgesetzt, 1934 wurde ihm infolge der rassistischen Gesetzgebung die Venia Legendi entzogen. Seine daraufhin eröffnete Praxis musste er nach Erlass eines generellen Berufsverbots 1937 wieder schließen. Kisch gelang später die Emigration in die USA. Bei den Verstrickungen der Gesellschaftsmitglieder ist Baumann vielfach auf klassische Mitläufer gestoßen. Selten hat er bei seinen Forschungen "echte rassistische Ausfälle" gefunden - allerdings ebenso selten Kritik oder gar eine oppositionelle Haltung. Gelebter Widerstand blieb eine absolute Ausnahme. Dr. Josef Schuster begrüßte in seiner Doppelfunktion als Internist und Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland die Aufarbeitung, sagte aber auch: "Es hat eigentlich viel zu lange gedauert, bis sich die Fachgesellschaften mit ihrer Vergangenheit auseinander gesetzt haben." (PM/RED)


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201705/h17054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Mai 2017, Seite 24 - 27
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2017

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