Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2023
Leitmotiv: "Gegen Unrecht auflehnen"
von Dirk Schnack
ARBEITSZEIT. Am 9. September ist es 20 Jahre her, dass der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sein Urteil fällte: Bereitschaftsdienste von Ärzten gelten als Arbeitszeit. Kläger war der Kieler Arzt Dr. Norbert Jaeger.
Dr. Norbert Jaeger setzt sich als Delegierter der
Kammerversammlung u.a. gegen die Arbeitsüberlastung von Ärzten und
gegen die Gefährdung von Patienten ein. So sprach sich Jaeger etwa auf
dem Deutschen Ärztetag in Essen für ein Personalbemessungssystem für
den ärztlichen Dienst im Krankenhaus aus.
Was die wenigsten der 250 Delegierten in Essen und kaum jemand aus der jüngeren Ärztegeneration noch weiß: Jaeger und eine Handvoll Mitstreiter haben vor genau 20 Jahren ein wichtiges Urteil für die deutsche Ärzteschaft erstritten. Erst nach einer Klage Jaegers vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg werden auch in Deutschland Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit gewertet.
Jaeger musste damals als Kläger durch alle Instanzen gehen, damit diese Regelung, die in anderen europäischen Staaten schon galt, auch im deutschen Recht Anwendung fand. Als Jaeger im vergangenen Jahr am Städtischen Krankenhaus Kiel in den Ruhestand verabschiedet wurde, erinnerte Klinikchef Dr. Roland Ventzke noch einmal an das von Jaeger erstrittene folgenreiche Urteil. Unter welchen Bedingungen für ihn persönlich dieses Urteil erkämpft wurde, ist heute nur noch wenigen in Erinnerung.
Das Städtische Krankenhaus Kiel stand damals im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung. Ventzke erlebte es als junger Klinikchef mit, Jaeger als Assistenzarzt in der chirurgischen Abteilung, in der Dr. Wolfhart Priesack leitender Oberarzt war. Er wehrte sich gegen Zustände, die nach seiner Auffassung die Patienten gefährden könnten. Damals war es üblich, dass Ärzte nach dem normalen Dienst in den Bereitschafsdienst gingen und nach dem Bereitschaftsdienst nahtlos wieder in den normalen Dienst.
Ein "das haben wir immer so gemacht" von erfahrenen Kollegen überzeugte ihn und Jaeger genauso wenig, wie das Argument, dass junge Ärzte das Entgelt aus den häufigen Bereitschaftsdiensten in der Phase der Familiengründung bestens gebrauchen konnten.
"Die Situation hatte sich im Vergleich zu den davor liegenden Jahrzehnten deutlich gewandelt", verweist Priesack auf die damals schon stetig zunehmende Arbeitsbelastung im Bereitschaftsdienst. Zum Schlafen kamen die Diensthabenden immer weniger. Wer nach dem zweiten regulären Dienst mit dazwischen liegendem Bereitschaftsdienst noch Patienten behandelte, war aus Sicht von Priesack dafür nicht mehr fit oder wach genug. Er spitzte diese Situation öffentlich mit dem Satz "Dann wird der Patient zum Feind" zu und erntete dafür viel Kritik. Zugleich scheute Priesack nie die Öffentlichkeit und machte die Arbeitsbedingungen durch Schilderungen in den Medien publik.
Warum aber musste Jaeger die Klage führen? Lösungen durch Institutionen waren nicht möglich und die bestehende europäische Arbeitszeitrichtlinie war von der Bundesregierung nicht korrekt umgesetzt worden. Oberarzt Priesack konnte die Klage aus formalen Gründen nicht führen. Jaeger war zwar nicht der einzige Kläger aus Kiel, aber der mit dem am weitesten fortgeschrittenen Verfahren - die anderen wurden zurückgestellt. So stand der angehende Chirurg als Person im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das hatte Folgen, die sein und das Leben seiner vierköpfigen Familie verändern sollten. Jaeger verklagte die Stadt Kiel als Träger des Städtischen Krankenhauses, in dem nach seiner Wahrnehmung immerhin bessere Arbeitsbedingungen herrschten als in anderen Kliniken. Die Ansichten über die Klage waren geteilt, Anfeindungen nahmen zu. "Bei mir kommt der Jaeger nicht mehr in den OP", hörte er einen Oberarzt über sich sprechen. Bewerbungen von ihm an anderen deutschen Krankenhäusern wären aussichtslos gewesen. Seiner Frau Antje - ebenfalls Ärztin - war klar: "Ich muss so schnell wie möglich Fachärztin werden, um notfalls die Familie ernähren zu können."
Zugleich war die ganze Familie Psychoterror ausgesetzt. Kritiker schreckten nicht vor regelmäßigen nächtlichen Anrufen zurück, streuten Gerüchte über außereheliche Beziehungen und ließen der Familie Warensendungen ins Haus schicken, die sie nie bestellt hatten - bis es deshalb zu unbezahlten Rechnungen und zum Schufa-Eintrag kam. Dass Jaeger trotzdem weitermachte, erklärt er so: "Ich gehöre zu der Generation, die ihren Eltern noch heftige Vorwürfe gemacht und gefragt haben, warum sie sich im Nationalsozialismus nicht aufgelehnt haben gegen Unrecht." Ohne Klage gegen den Missstand im Bereitschaftsdienst hätte er sich nach eigener Ansicht auch nicht darüber beschweren dürfen.
Die wichtigsten Stationen der langen Auseinandersetzung:
• Im Oktober 2000 hatte der EuGH auf Klage spanischer Ärzte entschieden, dass Bereitschaftsdienst Arbeit sei. Die korrekte Umsetzung dieser Entscheidung durch die Bundesregierung blieb jedoch aus, sodass sich an den Arbeitsbedingungen in Deutschland nichts änderte.
• Das Arbeitsgericht Kiel hatte Jaeger im Jahr 2001 Recht gegeben. Die möglichen Folgen bezifferte die Deutsche Krankenhausgesellschaft damals auf mehrere Milliarden, weil die Kliniken mindestens 15.000 Ärzte zusätzlich einstellen müssten.
• Die Revision vor dem Landesarbeitsgericht brachte das Verfahren ins Stocken. Die Richterin galt als Arbeitgeberfreundlich und es war abzusehen, dass sie Jaegers Klage ablehnen würde. Allerdings hatte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt inzwischen deutlich gemacht, dass es wohl im Sinne Jaegers entscheiden würde. Damit war klar, dass das Urteil des LAG nur aufschiebende Wirkung gehabt hätte. Dies war wahrscheinlich der Grund, weshalb das Landesarbeitsgericht keine Entscheidung fällte.
• Stattdessen legte es dem Europäischen Gerichtshof Fragen vor, die vor einem Urteil zu klären seien. Jaeger und sein Anwalt vermuteten Taktik dahinter: "Weil alle Mitgliedsstaaten Einsicht nehmen dürfen und um Stellungnahmen gebeten werden, drohte eine deutliche zeitliche Verschiebung."
• Jaeger reiste auf eigene Kosten nach Spanien, um nachzuweisen, dass dort die Arbeitsbedingungen der Ärzte im Bereitschaftsdienst mit den deutschen identisch waren - aber seit dem Jahr 2000 schon Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit galt.
• Zu einer ersten Anhörung nach Luxemburg reisten Jaeger und sein Kieler Anwalt Frank Schramm mit kleinem Gepäck an, während die Bundesregierung der Stadt Kiel Staranwälte an die Seite stellte. Eindruck beim Generalanwalt aber hinterließen u.a. die Verweise auf die Umsetzung in Spanien.
• Nach der Anhörung wurde klar, dass auch der EuGH zu Jaegers Auffassung tendierte. Entscheidend für diese Ansicht war, dass Ärzte im Bereitschaftsdienst ihren Arbeitgebern in vollem Umfang zur Verfügung stehen mussten. Die nach der Anhörung begründete Hoffnung wandelte sich am 9. September in Gewissheit: Das Urteil mit dem Aktenzeichen C-151/02 schrieb Geschichte - und damit der klagende Arzt.
Jaeger blieb auch nach der Urteilsverkündung am Städtischen Krankenhaus Kiel. Er machte dort seinen zweiten Facharzt für Chirurgie - Allgemeinarzt war er schon vorher - und arbeitete auf Teilzeitstelle in der Klinik und außerdem im Notarztdienst. Dass das nach der sehr persönlich geführten Auseinandersetzung möglich war, ist dem professionellen Umgang zwischen ihm und Ventzke geschuldet. Dies zeigt ein Beispiel, von dem sie beide unabhängig voreinander berichten: Als Ventzke mitten in der laufenden Auseinandersetzung einen Bekannten in die chirurgische Notfallambulanz begleitete, hatte ausgerechnet Jaeger Bereitschaftsdienst. Der wollte daraufhin wegen möglicher Befangenheit einem Kollegen die Arbeit übertragen, was Ventzke aber ablehnte: "Ich weiß, dass Sie das genauso professionell wie bei jedem anderen Patienten machen werden." Jaeger blieb bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2022. Heute arbeitet er noch freiberuflich als Notarzt im Rettungsdienst und ärztlicher Begleiter bei Expeditionen - zwei Leidenschaften des Kieler Arztes. Antje Jaeger legte ihren Facharzt für Allgemeinmedizin ab und ließ sich in Kiel in eigener Praxis nieder. In dieser Praxis ist sie seit dem vergangenen Jahr noch angestellt tätig.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2023
76. Jahrgang, Seite 12-13
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 6. Oktober 2023
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