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UMWELT/820: Epidemiologie - Auffällige Geburtenzahlen im Heidekreis und in Faßberg (Landkreis Celle) (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
Unabhängiger Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit
Nr. 752-753 / 32. Jahrgang, 3. Mai 2018 - ISSN 0931-4288

Epidemiologie
Auffällige Geburtenzahlen im Heidekreis und in Faßberg (Landkreis Celle)

Von Hagen Scherb(1), Ralf Kusmierz(2) und Kristina Voigt(3)


Motivation

Meldungen in den Medien, wie zum Beispiel "Übelkeit: Der Dethlinger Teich macht krank" (NDR, 20.4.2018), haben erneut die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die militärischen Altlasten der Bundesrepublik Deutschland am Truppenübungsplatz Munster im nordöstlichen Heidekreis gelenkt.(4) Weil sich in Munster außerdem die "Zentrale Sammelstelle für radioaktive Abfälle der Bundeswehr (ZESAM)" befindet und in Munster in den 1980er Jahren Uranmunition getestet wurde, besteht die Möglichkeit, daß die lokale Bevölkerung kanzerogenen und/oder mutagenen chemischen Kampfstoffen und radioaktiven Substanzen ausgesetzt war und ist. Weil mutagene Stoffe im Verdacht stehen, sogenannte Letalmutationen auszulösen, welche sich in Tieren und beim Menschen durch veränderte zahlenmäßige Geschlechtsverhältnisse bei der Geburt bemerkbar machen können, ist es naheliegend, das Geschlechtsverhältnis in den mutmaßlich belasteten Gemeinden des Heidekreises genauer zu untersuchen und mit dem Geschlechtsverhältnis in (relativ) unbelasteten Kontrollregionen bzw. mit dem Geschlechtsverhältnis in den Zeiträumen vor dem Eintritt der Belastungen zu vergleichen.


Quelle: Hagar66 based on work of TUBS - https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Municipalities_in_HK.svg

Quelle: Hagar66 based on work of TUBS
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Municipalities_in_HK.svg


Daten und Methoden

Die vorliegende Untersuchung basiert auf der "Datentabelle Z1 100001" für die Geborenen nach Geschlecht auf Gemeindeebene in Niedersachsen von 1971 bis 2016 des Landesamts für Statistik in Niedersachsen (LSN). Diese Daten können mit Hilfe der Online-Datenbank des LSN kostenfrei bezogen werden.(5) Die Verarbeitung der Daten erfolgte mit Microsoft Excel 2010 und die statistischen Analysen mit dem statistischen Softwarepaket SAS.(6) Hauptsächlich verwenden wir den exakten Test von Fisher zum Vergleich zweier Binomialwahrscheinlichkeiten, und zwar basierend auf dem sogenannten Wald-Chi², analog der logistischen Regression.

Hintergrund

Im bzw. am Heidekreis (früher: Landkreis Soltau-Fallingbostel) im Norden Niedersachsens befinden sich die großen Truppenübungsplätze Bergen bei Soltau in der südlichen Lüneburger Heide und circa 20 Kilometer nordöstlich Munster Nord und Süd bei Munster an der Örtze. Dort liegen erhebliche Altlasten aus militärischer Nutzung vor. In Munster Nord wurden während des Ersten Weltkriegs chemische Kampfstoffe hergestellt und Chemiewaffenmunition gelagert. Am 24. Oktober 1919 kam es bei schwachem Ostwind zu einem katastrophalen Explosionsunglück, als ein mit Chemiewaffen beladener Güterzug, der die Kampfstoffe zur Versenkung in der Nord- und Ostsee abtransportieren sollte, explodierte und dabei die nahe gelegenen Kampfstoffabriken ebenfalls zerstörte. Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Munster erneut Chemiewaffen produziert. Die nach dem Krieg vorgefundenen Bestände wurden teilweise abtransportiert, teilweise, aus heutiger Sicht unsachgemäß, in einer ehemaligen Kieselgurgrube, dem Dethlinger Teich, versenkt. Der Teich wurde später verfüllt, weil immer wieder Anwohner Munitionsteile daraus bargen, um das wertvolle Buntmetall zu verkaufen. Heute befindet sich am Standort u. a. die "Zentrale Sammelstelle für radioaktive Abfälle der Bundeswehr (ZESAM)" und die bundeseigene "Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten mbH (GEKA)", bei der u. a. Rückstände der Vernichtung der syrischen Chemiewaffenbestände verbrannt wurden. Auf dem Schießplatz des Standorts wurden im August 1983 Waffentests mit panzerbrechender Munition aus abgereichertem Uran (depleted uranium, DU) durchgeführt.(7)

Abgereichertes Uran ist der sehr preisgünstig verfügbare Rückstand der Urananreicherung, der nur noch unter 0,3 % Uran-235 enthält. Es wird u. a. auch für Panzerungen und als Trimmgewicht in Flugzeugen eingesetzt, weil es wegen seiner hohen Dichte nur wenig Platz benötigt. Da bei der Isotopentrennung der Anteil des stärker radioaktiven Uran-235 und vor allem auch der des in Uran in Spuren vorhandenen hochradioaktiven Uran-234 in der abgereicherten Fraktion deutlich zurückgeht, beträgt die Radioaktivität des bei der Anreicherung von Natururan anfallenden DU nur etwa 40 Prozent derjenigen von Natururan. Jedoch wird bei der Urananreicherung gewöhnlich auch Uran aus der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente eingesetzt. Deswegen enthält DU auch Spuren von Plutonium und Transuranen, ferner die aus Plutonium entstandenen Zerfallsprodukte Uran-232 und Uran-236, die wegen ihrer kurzen Halbwertszeit erheblich stärker radioaktiv sind als die natürlichen Uranisotope. Die Wirkung von Uranmunition beruht auf ihrer großen Durchschlagskraft wegen der hohen Dichte. Die kinetische Energie wird beim Durchschlag der Panzerung in Wärme umgewandelt, wodurch sich das Geschoß extrem erhitzt und zerstäubt; die entstehende Uranstaubwolke entzündet sich im getroffenen Ziel und explodiert, wodurch die beabsichtigte Zerstörungswirkung erreicht wird, z. B. Explosion der Bordmunition und Brand des Kraftstoffs. In der Folge werden die entstandenen uranhaltigen Partikel in weitem Umkreis in der Umgebung verteilt und schweben noch lange in der Luft. Es handelt sich dabei um lungengängigen Feinstaub. Amerikanische Soldaten haben die Anweisung, sich durch DU-Beschuß zerstörten Panzerwracks in den ersten Tagen deswegen nur mit Atemschutz anzunähern. Die Gefährdung ist nicht immer erkennbar, weil die Munition beim Auftreffen auf Gestein und Beton durch Fehlschüsse genauso zerstäubt und explodiert, die Gefahrenbereiche dann aber nicht durch zerstörte Ziele gekennzeichnet sind. Es ist davon auszugehen, daß die Munitionstests auf dem Truppenübungsplatz Munster ebenfalls mit Uranstaubfreisetzungen einhergegangen sind.

Das Geschlechtsverhältnis bei der Geburt als genetischer Indikator

Das Verhältnis der Anzahlen von Jungen und Mädchen bei der Geburt (Geschlechtsverhältnis der Lebendgeburten) ist im Prinzip eine biologisch-demographische Konstante und beträgt global in Europa und in Nordamerika in den vergangenen Jahrzehnten relativ stabil zwischen 104 und 106 Jungen auf 100 Mädchen. Zum historischen und methodischen Hintergrund von Studien zum Geschlechtsverhältnis siehe z. B. Schull und Neel 1958, Vogel und Motulsky 1986 oder Scherb und Voigt 2012 [1-3]. Der Anteil männlicher Neugeborener in einer gegebenen Anzahl von Lebendgeburten ist mit ausreichend hoher Genauigkeit binominalverteilt. Mit anderen Worten, die Geschlechterverteilung entspricht im Prinzip der Verteilung von Kopf und Zahl sowie der Ergebnisvariabilität in verschiedenen Reihen der Länge n von Münzwürfen, und zwar mit einer von 0.5 geringfügig abweichenden "Erfolgswahrscheinlichkeit" p und der Varianz n*p*(1-p). Aus Tierversuchen und aus zahlreichen Beobachtungen am Menschen ist allerdings bekannt, daß sich das Geschlechtsverhältnis von Lebewesen aufgrund radiologischer Belastungen verändern kann (Letalmutation). Eine mögliche Interpretation dieses Phänomens in Bezug auf den Menschen ist, daß aufgrund einer gegenüber den väterlichen Y- und/oder den mütterlichen X-Chromosomen erhöhten Vulnerabilität der väterlichen X-Chromosomen, welche ausschließlich an weibliche und nicht an männliche Nachkommen weitergeben werden, die Entwicklung hin zu lebendgeborenen Mädchen nach Strahlenbelastung beeinträchtigt sein kann [4-13]. Zum Thema "Letalmutationen und Geschlechtsverhältnis" siehe auch die detaillierten Ausführungen im UNSCEAR 1958 REPORT,(8) und insbesondere dort auf Seite 180.

Stark erhöhtes Geburtengeschlechtsverhältnis um den Truppenübungsplatz Munster

In der Umgebung des Truppenübungsplatzes in den Gemeinden Bispingen, Munster, Soltau, Wietzendorf (alle Heidekreis) und Faßberg (Landkreis Celle) findet sich in den Jahren nach den DU-Tests, die im August 1983 und möglicherweise auch später noch stattgefunden haben, ein auffälliger, extremer Wert des Geburtengeschlechtsverhältnisses (siehe Abbildung 1, Abbildung 2 und Tabelle 1).


Grafik: © Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt

Grafik: © Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt

In den genannten fünf Gemeinden springt das Geschlechtsverhältnis der Lebendgeburten im Jahre 1984 von einem leicht erniedrigten, unauffälligen mittleren Wert von 1.023 dauerhaft auf einen deutlich erhöhten mittleren Wert von 1.125. Dieser Sprung mit einem sogenannten Geschlechtschancenverhältnis (sex odds ratio, SOR) von 1.100 und 95 %-Konfidenzintervall (95 %-KI) (1.040, 1.163) ist hochsignifikant: p-Wert=0.0008. Der Sprung ist somit, bis auf eine geringe sogenannte Irrtumswahrscheinlichkeit von 8 zu 10,000, nicht mit Zufall zu erklären. In Abbildung 2 sind die jährlichen Geschlechtsverhältnisse der fünf Gemeinden dargestellt - gemeinsam mit dem Geschlechtsverhältnis von Niedersachsen als dicke graue Linie im Hintergrund, siehe dazu ebenfalls Tabelle 1. Im Gegensatz zu dem Geschlechtsverhältnis um den Truppenübungsplatz Munster herum ist im Verlauf des Geschlechtsverhältnisses in Niedersachsen keine entsprechende sprunghafte oder sonstige Auffälligkeit zu erkennen. Die wesentlich höhere, zufallsbedingte Variabilität der jährlichen Geschlechtsverhältnisse in den fünf Gemeinden Bispingen, Munster, Soltau, Wietzendorf und Faßberg im Vergleich zu Niedersachsen (Abbildung 2) erklärt sich durch die geringere Zahl von 23,773 Geburten in den fünf durch den Truppenübungsplatz exponierten Gemeinden gegenüber 3,385,026 Geburten in Niedersachsen jeweils von 1971 bis 2016 (Tabelle 1).


Schließt man die extremen Jahre 2015 und 2016 (siehe Abbildung 2) von der statistischen Analyse aus, um den Einfluß dieser Jahre auf die Signifikanz und die Schätzung der Sprunghöhe im Jahr 1984 zu ermitteln, ergibt sich der p-Wert 0.0046 und die SOR 1.085, 95 %-KI (1.025, 1.147). Das heißt, die Jahre 2015 und 2016 mit ihrem extremen Geschlechtsverhältnis beeinflussen die Gesamtauffälligkeit des langfristigen Geschlechtsverhältnisses in den Gemeinden am Truppenübungsplatz Munster nach 1983 in keinem ausschlaggebenden Maße. Zum beispielhaften kleinräumigen lokalen Vergleich zeigt Abbildung 3 das jährliche Geburtengeschlechtsverhältnis des Heidekreises ohne die vier mutmaßlich radioaktiv belasteten Heidekreisgemeinden Bispingen, Munster, Soltau und Wietzendorf.


Grafik: © Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt

Grafik: © Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt


Grafik: © Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt

Grafik: © Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt


In dieser Statistik (siehe auch Tabelle 1) ist - im Gegensatz zu der Statistik für die Anliegergemeinden um den Truppenübungsplatz Munster-Süd - ebenfalls kein auffälliger Aufwärtssprung des Geschlechtsverhältnisses im Jahr 1984 erkennbar. Der mittlere Trend der jährlichen Geschlechtsverhältnisse im restlichen, nicht exponierten Heidekreis stimmt außerdem sehr gut mit dem Trend von ganz Niedersachsen überein, siehe die graue Linie in Abbildung 3. In Ergänzung zu den Statistiken für die Gemeinden Bispingen, Munster, Soltau, Wietzendorf und Faßberg auf der einen Seite sowie der restliche Heidekreis und Niedersachsen auf der anderen Seite (vergleiche Abbildungen 2 und 3) erkennt man in den an den Heidekreis angrenzenden Landkreisen Celle, Lüneburg und Uelzen ebenfalls keinen Aufwärtssprung des Geschlechtsverhältnisses im Jahr 1984 (Abbildung 4 und Tabelle 1).


Tab.1: Lebendgeburten in Niedersachsen nach Geschlecht, Region u. Zeitraum


Bei der Interpretation dieser Statistiken ist generell zu beachten, daß der "statistische" Geburtsort in der Regel der Wohnort der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt ist. Falls aber zum Beispiel der biologisch-genetische Effekt durch den Vater vermittelt wurde, und der Vater an einem anderen Ort (Arbeitsplatz) exponiert worden war, so kommt es zu einer sogenannten nichtdifferentiellen Fehlklassifikation. Diese ist typisch für ökologische Studien, wie der hier vorliegenden, und kann nicht ausgeschlossen werden. Es ist allerdings auch bekannt, daß nicht-differentielle Fehlklassifikation aus theoretischen Gründen im allgemeinen zu einer Unterschätzung von beobachteten Effekten führt. Dies hat zur Folge, daß gefundene statistisch signifikante Zusammenhänge, wie die in unserer Untersuchung nachgewiesenen Effekte, auf konservative Weise ermittelt sind, in dem Sinne, dass sie die mutmaßlich tatsächlich existierenden Effekte eher unterschätzen als überschätzen.

Im Bereich des nordöstlichen Heidekreises, also in den Gemeinden Bispingen, Munster, Soltau und Wietzendorf sowie in der angrenzenden Gemeinde Faßberg im Landkreis Celle, steigt das Verhältnis Jungen zu Mädchen ab 1984 sprunghaft extrem an und liegt außerdem ab 1984 erheblich und hochsignifikant über dem entsprechenden niedersächsischen Landesdurchschnitt ohne die exponierte MunsterRegion: SOR 1.066, 95 %-KI (1.034, 1.099), p-Wert < 0.0001. Man beachte, daß dies ein konservativer Vergleich ist, weil Niedersachsen eine Reihe von weiteren Gebieten mit mutmaßlich radiologisch bedingt erhöhten Geschlechtsverhältnissen umfasst, wie z. B. die Gemeinden um das Transportbehälterlager (TBL) Gorleben, um Remlingen (Asse II) sowie um die niedersächsischen Kernkraftwerke und sonstigen Nuklearanlagen. Die Situation des Geschlechtsverhältnisses am Truppenübungsplatz Munster 1983/1984 ist in etwa vergleichbar mit dem sprunghaften Anstieg des Geschlechtsverhältnisses im Landkreis Lüchow-Dannenberg nach der Anlieferung der ersten Castoren in das TBL Gorleben im Jahr 1995 [8]. Dieser Anstieg des Geschlechtsverhältnisses im 40 Kilometer Umkreis um das TBL Gorleben wurde vom Niedersächsischen Landesgesundheitsamt bestätigt (NLGA-Studie, [14]). Der Anstieg im Geschlechtsverhältnis um den Truppenübungsplatz Munster von 1984 bis 2016 bedeutet rechnerisch 785 Mädchen zu wenig mit 95 %-KI (315, 1281), wenn theoretisch nur Mädchen von mutmaßlichen Letalmutationen betroffen wären. Mit Letalmutationen sind hier genetische Veränderungen gemeint, welche die Entstehung, Reifung und Weiterentwicklung von befruchteten Eizellen unterbinden. Dieses konkrete, theoretische Mädchendefizit um Munster kann auch so veranschaulicht werden: Jedes elfte statistisch zu erwartende und eventuell gezeugte Mädchen wurde nicht geboren. Allerdings ist der Effekt in den fünf Gemeinden am Truppenübungsplatz in den Jahren 2015 und 2016 so extrem, daß in diesen beiden Jahren theoretisch jedes vierte bis dritte statistisch zu erwartende Mädchen nicht geboren wurde. Die extrem hohen Geschlechtsverhältniswerte um Munster in den Jahren 2015 und 2016 beruhen möglicherweise auf neueren Freisetzungen z. B. durch Sanierungsmaßnahmen oder Eintrag von Kontaminationen ins Grundwasser, nicht nur von mutmaßlichen radioaktiven Belastungen, sondern eventuell auch von chemischen, mutagenen Substanzen. Die anderen, weiter entfernt liegenden Gemeinden der Landkreise Uelzen, Celle und Lüneburg weisen diesen langfristigen, hochsignifikanten Sprung-Effekt 1983/1984 und den besonders starken Effekt 2015 und 2016 nicht auf.

Fazit

Unsere Beobachtung im Zusammenhang mit dem Truppenübungsplatz Munster und wahrscheinlichen radioaktiven Freisetzungen seit den 1980er Jahren ist konsistent mit vielen Befunden erhöhter Geschlechtsverhältnisse um Nuklearanlagen in Europa bzw. nach radiologischen Belastungen (Windscale/Sellafied 1957, Tschernobyl 1986), die wir und andere in den letzten Jahren genauer untersucht und veröffentlicht haben [3-14].

Letztlich können über die biologischen und genetischen Mechanismen der veränderten Geschlechtsverhältnisse und die möglichen Zusammenhänge mit den vorhandenen chemischen oder nuklearen Altlasten und durch sie hervorgerufene chronische Kontaminationen lediglich Arbeitshypothesen aufgestellt werden. Räumlich und zeitlich noch umfangreichere und noch feiner gegliederte Statistiken wären unter diesem Blickwinkel wünschenswert. Leider ist die Datenhistorie zum Geschlechtsverhältnis nur eingeschränkt verfügbar: Das niedersächsische Statistische Landesamt kann Geburtenzahlen nach Geschlecht und Gemeinden erst seit 1971 zur Verfügung stellen. Ältere Daten müßten von den kommunalen Meldeämtern der Kreise bereitgestellt werden, was mit erheblichem Aufwand verbunden wäre, da diese Daten sehr wahrscheinlich nicht in einheitlicher, maschinenlesbarer Form vorhanden sind. Ähnliches gilt für die Daten aus Kirchenbüchern, in denen die Getauften und damit fast alle Geborenen normalerweise auch vollständig enthalten sind - ob diese Daten überhaupt zur Verfügung gestellt würden, liegt im Ermessen der Kirchenleitungen. Außerdem gibt es zur "Zentralen Sammelstelle für radioaktive Abfälle der Bundeswehr (ZESAM)" in Munster sowie zu den in Munster betriebenen Nuklearanlagen (z. B. Neutronenquelle) keine weitergehenden detaillierten Informationen.(9)

In der vorliegenden Datenanalyse bestätigt sich erneut die in mehr als zehnjähriger Forschung der Autoren auf diesem Gebiet konsistent festgestellte Tatsache, daß es ganz offensichtlich deutliche Auswirkungen auf die Genetik des Menschen durch den Eintrag von Radioaktivität in die Umwelt gibt. Die Methode der Betrachtung und Analyse der Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses ist ein pragmatischer Ansatz basierend auf einfachen, umfangreichen und sehr zuverlässigen Daten. Mit der vorliegenden Studie untermauern wir unsere bisherigen Ergebnisse. Hier finden wir sogar eine schwerwiegende, kleinräumige Verschiebung des Geschlechtsverhältnisses. Es wäre aus Sicht der Autoren erforderlich, sämtliche Gebiete in Deutschland bzw. in Europa mit toxischen Altlasten aller Art in Bezug auf Veränderungen des Geschlechtsverhältnisses in ihrer Umgebung genau zu untersuchen.

Nachtrag

Wir sind in unserer Veröffentlichung vom 7. Juni 2018 [1] aufgrund einer mißverständlichen Formulierung in der angegeben Quelle irrtümlich davon ausgegangen, daß die Uranmunitionstests 1983 auf dem Truppenübungsplatz Munster stattgefunden hätten. Nach einer persönlichen Mitteilung durch Frieder Wagner fanden sie jedoch vom 26. bis 30. August 1983 auf dem circa 20 Kilometer südwestlich gelegenen Truppenübungsplatz Bergen statt. Laut Angaben in einem Wehrdienstbeschädigungsverfahren - einer der beteiligten Soldaten war an Krebs erkrankt und ist daran noch vor Abschluß des Verfahrens verstorben - sind innerhalb dieser fünf Tage von sechs LeopardPanzern jeweils 50 bis 60 Granaten mit DU-Penetratoren verschossen worden. Obwohl die Antragsgegnerin das abstritt, konnte das durch den Labornachweis von Uranspuren an von den Soldaten als Souvenir aufbewahrten Kartuschen belegt werden.

Demnach wurden mindestens 300 Projektile verschossen. Die DU-Penetratoren wiegen circa 4,5 Kilogramm, somit kamen mindestens 1,35 Tonnen Uran zum Einsatz, von dem ein großer Anteil beim Auftreffen zerstäubt. Im betreffenden Zeitraum herrschte warmes, niederschlagsfreies Sommerwetter bei klarem Himmel und aufgrund der stabilen Großwetterlage annähernde Windstille. Unter diesen Umständen bildet sich über der wechselhaften Heidelandschaft eine lebhafte thermische Konvektion aus. Ins-besondere heizen sich die vegetationsarmen Flächen des Truppenübungsplatzes und die weiter südlich liegenden Kulturflächen im Sonnenlicht stark auf, wodurch Aufwinde entstehen, während die nördlich und östlich gelegenen, teilweise bewaldeten Heideflächen kühler bleiben und es dort zu Fallwinden kommt. Es ist damit plausibel, daß sich der Uranstaub über die in der Untersuchung als auffällig festgestellten Gemeinden verteilt haben könnte. Insofern ändert der andere Ort nichts an der Aussagekraft der Befunde.

Die betreffenden Versuche sind im sogenannten SommerBericht [2] nicht erwähnt. Jedoch werden dort Schießversuche mit Uranmunition in den 1970er Jahren auf dem Schießplatz der Firma Rheinmetall in Unterlüß (jetzt Gemeinde Südheide südlich von Faßberg) aufgeführt.

Die Autoren

[1] H. Scherb, R. Kusmierz, K. Voigt: Auffällige Geburtenzahlen im Heidekreis und in Faßberg (Landkreis Celle), Strahlentelex 754-755 v. 7.6.2018, S. 1-6,
www.strahlentelex.de/Stx_18_754-755_S01-06.pdf

[2] Die Bundeswehr und ihr Umgang mit Gefährdungen und Gefahrstoffen, Bericht des Arbeitsstabes Dr. Sommer, 21. Juni 2001,
http://gruppen.tubs.de/studver/StudResK/bericht_uran.pdf


Anmerkungen

(1) Dr. Hagen Scherb, scherb@helmholtz-muenchen.de

(2) Dipl.-Ing. Ralf Kusmierz, kusmierz@t-online.de

(3) Dr. Kristina Voigt, kvoigt@helmholtz-muenchen.de

(4) https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbeUebelkeit-Der-Dethlinger-Teich-macht-krank,dethlingerteich102.html

(5) https://www1.nls.niedersachsen.de/statistik/default.asp
(Datenbank: 1-Gebiet, Bevölkerung, Arbeitsmarkt, Wahlen; 1.2-Bevölkerung, Fläche; 1.2.6-Natürliche Bevölkerungsbewegungen; 1.2.6.12-Statistik der Geburten; Link zur Datentabelle Z1 100001).

(6) SAS Institute Inc: SAS/STAT User's Guide, Version 9.4, Cary NC: SAS Institute Inc., 2014

(7) http://www.uranmunition.org/wp-content/uploads/2014/07/Bundeswehr_u_DU.pdf

(8) http://www.unscear.org/unscear/en/publications/1958.html

(9) https://www.atommuellreport.de/daten/zesam-munster.html


Literatur

1. Schull WJ, Neel JV: Radiation and the sex ratio in man. Science 1958, 128(3320):343-348.

2. Vogel F, Motulsky AG: Human Genetics. Berlin Heidelberg New York Tokyo: Springer; 1986.

3. Scherb H, Voigt K: Response to W. Kramer: The human sex odds at birth after the atmospheric atomic bomb tests, after Chernobyl, and in the vicinity of nuclear facilities: comment (doi:10.1007/s11356-011-0644-8). Environ Sci Pollut Res Int 2012, 19(4):13351340.

4. Grech V: The Chernobyl Accident, the Male to Female Ratio at Birth and Birth Rates. Acta Medica (Hradec Kralove) 2014, 57(2):62-67.

5. Grech V: Births and male:female birth ratio in Scandinavia and the United Kingdom after the Windscale fire of October 1957. Int J Risk Saf Med 2014, 26(1): 45-53.

6. Grech V: Atomic bomb testing and its effects on global male to female ratios at birth. Int J Risk Saf Med 2015, 27(1):35-44.

7. Scherb H, Kusmierz R, Voigt K: Increased sex ratio in Russia and Cuba after Chernobyl: a radiological hypothesis. Environ Health 2013, 12:63.

8. Kusmierz R, Scherb H, Voigt K: Gutachten zum Phänomen der "Verlorenen Mädchen" und zur Freisetzung sekundärer Radioaktivität durch Neutronenstrahlung an Castorbehältern; Im Auftrag des Landkreises Lüchow-Dannenberg (2014). In.: Helmholtz Zentrum München, Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg, Germany; 2014.

9. Kusmierz R, Voigt K, Scherb H: Is the human sex odds at birth distorted in the vicinity of nuclear facilities (NF)? A preliminary geo-spatial-temporal approach In: 24th EnviroInfo 2010: October 6th - 8th 2010; Bonn and Cologne, Germany: Shaker; 2010: 616-626.

10. Scherb H, Voigt K: The human sex odds at birth after the atmospheric atomic bomb tests, after Chernobyl, and in the vicinity of nuclear facilities. Environ Sci Pollut Res Int 2011, 18(5):697-707.

11. Scherb H, Voigt K, Kusmierz R: Ionizing radiation and the human gender proportion at birth-A concise review of the literature and complementary analyses of historical and recent data. Early Hum Dev 2015, 91(12):841-850.

12. Scherb H, Kusmierz R, Sigler M, Voigt K: Modeling human genetic radiation risks around nuclear facilities in Germany and five neighboring countries: A sex ratio study. Environmental Modelling and Software 2016, 79: 343-353.

13. Scherb H, Kusmierz R, Voigt K: Human sex ratio at birth and residential proximity to nuclear facilities in France. Reprod Toxicol 2016, 60:104-111.

14. NLGA: Niedersächsisches Landesgesundheitsamt (NLGA). Veränderungen beim sekundären Geschlechterverhältnis in der Umgebung des Transportbehälterlagers Gorleben ab 1995 - Analysen auf Basis der Geburtsstatistiken der Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt sowie Niedersachsen. Editor: Niedersächsisches Landesgesundheitsamt, Roesebeckstr. 4-6, 30449 Hannover, September 2011; überarbeitete Version, Erstellt von: M. Hoopmann und K. Maaser.
http://www.nlga.niedersachsen.de/download/60794. Accessed 29 May 2018, 2011.


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
www.strahlentelex.de/Stx_18_754-755_S01-06.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Mai 2018, Seite 1 - 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2018

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