Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 7/8, Juli/August 2023
Corona-Effekt: Viel mehr Debatten ums Impfen
von Martin Geist
IMPFEN. Früher hat man sich einfach impfen lassen, heute wird darüber diskutiert - oder es wird gänzlich unterlassen. Seit der Corona-Pandemie hat die Aufgeschlossenheit vieler Menschen für diese Form der Vorbeugung auch in Schleswig-Holstein deutlich nachgelassen. Der Ärzteschaft bereitet diese Entwicklung Sorgen.
Nach drei Jahren coronabedingter Unterbrechung konnte Dr. Martin Oldenburg, Referatsleiter für Infektionsschutz im Kieler Gesundheitsministerium, am 7. Juni wieder die sonst jährliche Impffachtagung der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung (LVGFSH) eröffnen. Bei aller Freude über die eingetretene Normalisierung und den guten Zuspruch goss Oldenburg auch Wasser in den Wein: Corona und die damit verbundenen Diskussionen über Nutzen und Risiken der Vorbeugung hätten die Impfbereitschaft im Land "nicht unbedingt gefördert", bedauerte der Experte.
Zahlen für 2022 verdeutlichen die Impfskepsis in Verbindung mit Corona. In Schleswig-Holstein wurden 187 Anträge auf Entschädigung wegen vermeintlicher Impfschäden gestellt, allein 183 davon bezogen sich auf Covid-19-Schutzimpfungen. 85 entsprechende Anträge aus dem Jahr 2021 dazugerechnet, bedeutet das knapp 270 potenzielle Schädigungen - bei etwa 7,5 Millionen verabreichten Spritzen. "Das ist eine Zahl, mit der man leben kann", meinte Oldenburg, der darauf hinwies, dass sich diese Anträge gemäß den geltenden Regelungen auf Impfreaktionen mit gesundheitlichen Schädigungen über sechs Monate oder länger beziehen.
Bemerkenswert ist für Dr. Dirk Mentzer vom Paul-Ehrlich-Institut der Fakt, dass in Deutschland gerade mal um die 2 % aller weltweiten Corona-Schutzimpfungen verabreicht wurden, daraus jedoch mehr als 50 % aller gemeldeten Impfschäden resultieren.
Dass in Deutschland Ansprüche relativ einfach angemeldet werden können, schließt Mentzer mit Verweis auf vergleichbare Verfahren in vielen anderen Ländern als Ursache aus. Es handele sich "offensichtlich um ein deutsches Problem". Mentzer sprach von einem "klassischen Over-Reporting durch mediale Aufmerksamkeit".
Eindrücke aus der Praxis scheinen diese Aussage zu bestätigen. Aus dem Teilnehmerkreis berichtete ein Arzt aus Kaltenkirchen von Patientinnen und Patienten, die mit professionellem Coaching einer Anwaltskanzlei in seine Praxis kommen, um Impfschäden geltend zu machen. Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes in Eutin erzählte zudem, dass "die Bürger viel sensibler und kritischer geworden sind". "Selbst bei der reisemedizinischen Beratung werde weit häufiger als vor Corona nachgefragt, ob diese oder jene empfohlene beziehungsweise vorgeschriebene Impfung wirklich sein müsse."
Bedenklich ist dieser Trend im Grunde für alle Fachleute. So bezeichnete Anja Friederich von der LVGFSH Schutzimpfungen als "sehr erfolgreiche Präventionsmaßnahme". Gemeinsam mit Daniel Bremer vom schleswig-holsteinischen Gesundheitsministerium präsentierte sie umfangreiche Analysen zum Impfverhalten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Die Phase der Corona-Pandemie ist in den Daten allerdings nicht oder nur zu einem kleinen Teil enthalten. So lag der Anteil von gegen Rotaviren geimpften Kindern in Schleswig-Holstein im Jahr 2015 bei 66 % und betrug 2019 immerhin 74 %. Eine HPV-Impfung empfiehlt die Ständige Impfkommission seit 2007 für Mädchen bis zu ihrem 15. Geburtstag und seit 2018 auch für Jungen. Vom auf 90 % festgelegten Impfziel der STIKO waren die Mädchen aber 2021 mit 56 % weit entfernt - und die Jungen mit knapp 30 % erst recht.
"Noch Luft nach oben" gibt es nach Einschätzung von Daniel Bremer auch bei den Erwachsenen. Beispielsweise betrug in der Grippesaison 2021/22 die Quote der gegen Influenza geimpften über 60-Jährigen im Norden etwa 52 %. Das sind zwar fast 10 % mehr als der Bundesdurchschnitt, aber eben auch deutlich weniger als das STIKO-Ziel von 75 % und erst recht unter der schleswig-holsteinischen Empfehlung von 100 %. Interessant dabei: In Baden-Württemberg, dem Stammland der selbsternannten Querdenker, beträgt die Quote in dieser Altersgruppe weniger als 27 %.
Der Trend in Schleswig-Holstein ist insgesamt gar nicht schlecht. "Wir haben eigentlich in allen Bereichen steigende Impfquoten", resümierte Bremer, verwies aber zugleich darauf, dass diese Quoten durchweg unter den Impfzielen liegen. Nötig sind aus seiner Sicht mehr Angebote für die über 60-Jährigen und gezielte Ansprachen etwa von Jugendlichen oder auch von allen Personen in vergleichsweise impfmüden Regionen.
Doris Scharrel, Landesvorsitzende des Berufsverbandes der Frauenärzte, informierte über Impfungen in der Schwangerschaft. Die Empfehlung zur Impfung gegen Influenza und Keuchhusten während jeder Schwangerschaft gehört nach den G-BA-Richtlinien für die ärztliche Betreuung von Schwangeren zu den Aufgaben der betreuenden Frauenarztpraxis. Eine besondere Herausforderung bedeutet die einheitliche Aufklärung von Schwangeren in einem gut informierten Praxisteam. Da die Impfquote nach vorliegenden KV-Daten für Influenza nur bei ca. 20 % liegt, sollte sich nach Aufklärung die Impfung in der Praxis anschließen. Die Impfung gegen Keuchhusten bringt nach allen vorliegenden Daten weder ein höheres Risiko für Schwangerschaftskomplikationen noch negative Auswirkungen für den Säugling, den sie im Gegenteil zu 90 % vor einer schweren, mitunter lebensbedrohlichen Erkrankung schützt. Auch für die späteren Kontaktpersonen des Kindes ist ein Schutz gegen Pertussis nach STIKO-Empfehlungen indiziert. Grundsätzlich empfiehlt die Gynäkologin ihren Kolleginnen und Kollegen, schwangere Patientinnen auf die umfassenden und verständlich aufbereiteten Informationen hinzuweisen, die das Robert Koch-Institut online oder in Form von Faktenblättern anbietet und Schwangere und Kontaktpersonen direkt in der Frauenarztpraxis zu impfen.
"Solche Infektionen können Schübe auslösen, Impfungen nicht".
Prof. Bimba Hoyer
Einiges zu beachten ist auch bei der Impfung immunsupprimierter Menschen, wie Prof. Bimba Hoyer vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) am Beispiel Rheuma erläuterte. Dieser Personenkreis sollte "eigentlich gegen alles Machbare geimpft sein", betonte die Leiterin der Rheumatologie am UKSH. Wer etwa an Rheumatoider Arthritis leidet, ist nach ihren Angaben doppelt so anfällig für bakterielle Infektionen wie Nicht-Betroffene. "Solche Infektionen können Schübe auslösen, Impfungen nicht", betonte die Expertin. Die Zahlen sind jedoch nach ihren Worten trotz der eindeutigen Fakten "nicht gut". Selbst gegen geläufige Erreger von Tetanus und Influenza seien gerade mal um die 50 % der Rheumakranken immunisiert. "Wir müssen mehr drüber reden", fordert Prof. Hoyer deshalb auch Kolleginnen und Kollegen in den Praxen vor Ort zur Unterstützung auf.
Dr. Philipp Bergmann vom UKSH sprach in Kiel über das Impfen von Älteren. Zwar fällt die Impfreaktion von Jahr zu Jahr geringer aus, doch das ist für den Altersmediziner kein Grund, nichts zu tun. Seine Devise lautet vielmehr: "Lieber ein bisschen Schutz als gar kein Schutz." Zudem könnten sich Ältere in gewisser Weise zusätzlich selbst immunisieren, ergänzte Bergmann. Forschungen deuten nach seinen Angaben immer stärker darauf hin, dass ein gut trainiertes muskuläres System dem Alterungsprozess entgegenwirkt und zugleich das muskuläre System stärkt.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 7/8, Juli/August 2023
76. Jahrgang, Seite 26-27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 25. August 2023
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