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ETHIK/779: Demenz - Angriff auf die Menschenwürde? (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 91 - 3. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Demenz - Angriff auf die Menschenwürde?

Von Priv. Doz. Dr. med. Rupert Püllen


Mit zunehmendem Lebensalter wächst das Risiko, an Demenz zu erkranken. Derzeit gibt es mehr als eine Million Demenzkranke in Deutschland, Tendenz steigend. Nicht wenige sehen in einer Demenzerkrankung einen Angriff auf die Menschenwürde. Mit dem Chefarzt der Medizinischgeriatrischen Klinik der Frankfurter Diakonie-Kliniken hat LebensForum einen der wenigen Experten auf diesem Gebiet um einen Überblick über das facettenreiche Krankheitsbild gebeten.


Einleitung

Vor einer Demenz, einer chronischen Verwirrtheit, kann sich niemand verlässlich schützen. Viele Strategien sind erprobt worden, um eine Demenz wirksam zu verhindern - doch weder durchblutungsfördernde oder entzündungshemmende Medikamente noch Gehirnjogging oder gar Impfungen gewähren einen sicheren Schutz vor einer Demenz. Mit zunehmendem Lebensalter wächst das Risiko, dement zu werden. In der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen sind weniger als drei Prozent aller Personen an einer Demenz erkrankt; bei den 80 bis 85-Jährigen leidet etwa jeder Dritte an einer Demenz, wenn man auch leichte Erkrankungsformen berücksichtigt. Insgesamt sind in Deutschland nach Schätzungen mehr als eine Million Menschen an einer Demenz erkrankt. Wer das Glück hat, gesund zu bleiben, erlebt in vielen Fällen, dass ein naher Angehöriger an einem demenziellen Syndrom erkrankt. Die zahlenmäßige Zunahme älterer Menschen zwingt den Einzelnen und die Gesellschaft zur Auseinandersetzung mit diesem Krankheitsbild.


Medizinischer Hintergrund

Im Begriff Demenz steckt das lateinische Wort für Verstand "mens". Demenz lässt sich somit frei übertragen als "ohne Verstand". Der Begriff bezeichnet eine Gruppe von Erkrankungen, die charakterisiert sind durch Störungen des Gedächtnisses und Störungen anderer Hirnfunktionen, wie beispielsweise der Urteilsfähigkeit oder des räumlichen Vorstellungsvermögens. Diese Störungen sind so stark ausgeprägt, dass sie zu Beeinträchtigungen des Alltags führen; der Erkrankte ist somit auf Hilfe bei der Bewältigung der alltäglichen Aufgaben wie Einkaufen, Essen oder bei der Körperpflege angewiesen. Die Hilfen sind anfangs nur in geringem Umfang nötig; mit Fortschreiten der Erkrankung wächst der Hilfsbedarf. Eine Demenz ist keine akute Erkrankung. Damit diese Diagnose gestellt werden kann, müssen die Störungen länger als sechs Monate bestehen. Im typischen Fall entwickeln sich die Defizite schleichend über viele Monate und Jahre. Verschiedene Krankheiten können zu einer Demenz führen. Die häufigste Grundkrankheit ist die Demenz vom Alzheimer-Typ. Schlaganfälle und Durchblutungsstörungen bilden die zweite große Gruppe demenzieller Syndrome. Bei weniger als zehn Prozent der Patienten finden sich andere Erkrankungen oder Ursachen, wie beispielsweise eine lange bestehende Parkinsonsche Erkrankung oder eine Störung der Schilddrüsenfunktion.

Nur in seltenen Fällen lässt sich eine Demenz bessern, so beispielsweise, wenn die Symptome durch einen Mangel an Vitamin B12, an Folsäure oder durch eine Schilddrüsen-Funktionsstörung verursacht sind. In mehr als 90 Prozent der Fälle schreitet die Erkrankung über Jahre hinweg langsam fort und kann schließlich den Tod herbeiführen. Die wenigen medikamentösen Therapieansätze, die zur Behandlung einer Demenz vom Alzheimer-Typ zur Verfügung stehen, können lediglich den Verlauf einer Demenz um einige Monate verzögern.

Das Zusammenleben mit Demenzkranken wird in vielen Fällen weniger durch die Hirnleistungsstörungen erschwert, sondern vor allem durch Verhaltensauffälligkeiten, die sich bei den meisten Patienten finden. So werden Patienten aggressiv laufen in der Wohnung auf und ab oder machen die Nacht zum Tag.


Das Leben mit Demenzkranken als Belastung

Eine Demenz betrifft niemals nur die erkrankte Person - eine Demenz betrifft auch Lebenspartner, Familie und Gesellschaft. Zu Beginn einer Demenz, wenn Störungen des Gedächtnisses auftreten, leidet meist nur der Erkrankte unter der Erkrankung, wenn er nach und nach Einbußen des Gedächtnisses oder bei Alltagsverrichtungen feststellt. In vielen Fällen schwindet beim Fortschreiten der Erkrankung die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Das Leiden an der eigenen Erkrankung kann deshalb im Laufe der Zeit abnehmen. Dagegen bleiben der Lebenspartner und die Familie während des gesamten Krankheitsverlaufes mit der Abnahme der kognitiven Fähigkeiten konfrontiert.

Eine Demenz unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von anderen Erkrankungen: Viele schwere Erkrankungen wie bösartige Tumore oder eine ausgeprägte Herzinsuffizienz bedrohen direkt das Leben des Patienten; sie führen aber nicht zu einer wesentlichen Verhaltensänderung oder zu einer Änderung der Persönlichkeit. Dies ist bei einer Demenz anders. Eine demenzielle Entwicklung führt vielfach zu einem Verhalten, das sich vom früheren Verhalten wesentlich unterscheidet. Ein zuvor zurückhaltender Mensch kann unter dem Einfluss einer Demenz aggressiv und ausfallend werden. Ein Gespräch über Erlebtes und Erfahrenes ist mit einem Demenzkranken allenfalls in den frühen Stadien der Erkrankung möglich; im Laufe der Zeit wird der Austausch über Worte immer schwieriger und ist in vielen Fällen gegen Ende der Krankheit kaum mehr möglich. Für Angehörige ist es oft schmerzlich, neben einem körperlichen Verfall auch den Verfall der Persönlichkeit zu sehen und hinzunehmen.

Nicht nur die Gedächtnisstörungen belasten das Zusammenleben mit einem Demenzkranken. Weitere Probleme sind die eingeschränkte Orientierung und das oft unangemessene Verhalten. Dies führt dazu, dass sich Angehörige oft scheuen, mit einem demenzkranken Patienten die vertraute Umgebung zu verlassen und Kontakt mit anderen Personen aufzunehmen. Das Verhalten von Demenzkranken wird von der Umgebung in vielen Fällen als peinlich empfunden. Manchmal verlassen deshalb Demenzkranke und ihre Angehörige nur noch selten die Wohnung.

Viele Demenzkranke machen die Nacht zum Tag. Wenn dies über längere Zeit passiert, kann das bei betreuenden Angehörigen zu unzureichendem Nachtschlaf und in der Folge zu Erschöpfungszuständen führen. Darüber hinaus belasten Sorgen über die Zukunft oder über Probleme wie Stürze oder eine unzureichende Nahrungsaufnahme das Zusammenleben mit Demenzkranken.

Ein entscheidender Punkt bei einer Demenz ist die lange Krankheitsdauer. Sie wird von vielen Angehörigen unterschätzt. Bei einer Demenz geht es nicht darum, eine schwierige Situation von einigen Tagen oder einigen Wochen zu überbrücken; eine Demenz ist eine langsam fortschreitende Erkrankung mit meist jahrelangem Verlauf. Die durchschnittliche Krankheitsdauer beträgt etwa sieben bis zehn Jahre, längere Verläufe sind ebenfalls möglich. Wenn sich Angehörige zur Betreuung eines Demenzkranken entscheiden, müssen sie wissen, dass sich die Krankheit über viele Jahre hinziehen kann.


Hilfen sind möglich

Eine Demenz belastet in erheblichem Umfang und für lange Zeit den Erkrankten und sein familiäres Umfeld. Auch wenn eine Demenz in der Regel nicht heilbar ist, sondern weiter fortschreitet, so gibt es doch einige Möglichkeiten der Hilfe. Dabei kommt der Aufklärung über die Erkrankung ein besonderer Stellenwert zu. Oft vergehen Monate oder Jahre, bis bei einem verhaltensauffälligen Menschen die Diagnose einer Demenz gestellt wird. Das auffällige Verhalten eines Patienten wird gerade zu Beginn der Erkrankung von Angehörigen vielfach als mangelnde Bereitschaft zur Kooperation fehlgedeutet. Wenn beispielsweise die Ehefrau ihren an einer Demenz erkrankten Ehemann darum bittet, die Zeitung wegzuräumen und er tut dies nicht, dann wird sich die Ehefrau über dieses Verhalten ärgern; sie wird ihrem Mann Vorhaltungen machen. Wenn dagegen bei dem Ehemann die Diagnose einer Demenz gestellt ist und die Ehefrau über das Krankheitsbild Bescheid weiß, dann wird sie anders mit diesem Verhalten umgehen. Sie wird verstehen, dass sein Verhalten nicht Ausdruck fehlender Bereitschaft sein muss, sondern dass dieses Verhalten am ehesten Folge der Vergesslichkeit ist, die mit einer Demenz stets einhergeht.

Wenn die Verdachtsdiagnose einer Demenz gestellt wird, dann ist dies sicher bedrückend und schmerzlich; auf der anderen Seite kann die Diagnosestellung Angehörigen helfen, in rechter Weise mit dem Patienten umzugehen und auffälliges Verhalten als Ausdruck einer Erkrankung zu deuten und nicht als Hinweis auf bösen Willen.

Der Umgang mit Demenzkranken wird erleichtert, wenn bestimmte Dinge beachtet werden. So sollte die Wohnung von Demenzkranken den besonderen Bedürfnissen und Gefährdungen Demenzkranker Rechnung tragen. Rutschende Teppiche oder Teppiche mit hoben Kanten erhöhen die Sturzgefahr und sollten entfernt werden. Elektrogeräte, die ein Risiko darstellen, wie Toaster, Brotschneidemaschinen oder ein Föhn, sollten aus der Reichweite gebracht werden. Das Gleiche trifft auf Feuerzeuge, Medikamente oder Putzmittel zu. Durch zahlreiche kleine Maßnahmen kann das Wohnumfeld sicherer gemacht werden.

Doch Sicherheit ist nur ein wichtiger Aspekt bei der Gestaltung des Wohnbereiches. Ebenfalls von Bedeutung ist die Wohnatmosphäre; der Demenzkranke muss sich in seiner Wohnung wohl fühlen. Die bei Demenzkranken manchmal zu beobachtende Weglauftendenz kann gebessert werden, wenn er sich in den eigenen vier Wänden heimisch fühlt. Photos aus früheren Zeiten, Musik aus der Jugendzeit, angenehme Gerüche - viele Dinge können dazu beitragen, dass sich ein Demenzkranker gerne in seiner Wohnung aufhält und sich dort wohl fühlt.

Der Umgang mit demenzkranken Personen wird durch feste Rituale und gleich bleibende Abläufe erleichtert. Eine feste und klare Tagesstruktur ist notwendig.


Medizinische Hilfe bei Demenz

Medikamente spielen ebenfalls eine Rolle bei der Behandlung demenzkranker Patienten. Im Wesentlichen werden zwei Gruppen von Medikamenten unterschieden: Die erste Gruppe der Medikamente, sogenannte Antidementiva, verlangsamt den fortschreitenden Verlauf einer Demenz. Bei einer Demenz vom Alzheimer-Typ können diese Medikamente den Verlauf um etwa drei bis sechs Monate verzögern. Eine Heilung ist nicht möglich.

Die andere Medikamentengruppe richtet sich gegen auffälliges Verhalten bei Demenzpatienten. Aggressivität, Depressionen oder Schlafstörungen erfordern in vielen Fällen zusätzlich den Einsatz von Medikamenten. Aber auch hier gilt es, nach auslösenden Ursachen von Aggressivität oder Schlaflosigkeit zu fahnden. Oft können demenzkranke Menschen nicht mehr mit Worten ihre Bedürfnisse, Ängste oder Sorgen ausdrücken. Bei auffälligem Verhalten, wie beispielsweise bei Unruhe, und vor allem bei jeder Verhaltensänderung muss herausgefunden werden, ob sich dafür eine Ursache findet. In manchen Fällen kann ein Schmerzempfinden bei einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz zu Unruhe führen; dann ist eine ausreichende Schmerztherapie das Mittel der Wahl, und nicht etwa ein Medikament zur Ruhigstellung. In anderen Fällen kann durch eine Änderung der Umgebung eine Besserung des Verhaltens herbeigeführt werden.

Medikamente gegen Verhaltensauffälligkeiten bei einer Demenz, wie beispielsweise Aggressivität oder Halluzinationen, haben einen Jahresumsatz von mehr als einer Milliarde Euro. In den letzten zwei Jahren wächst allerdings die Zurückhaltung gegenüber diesen Medikamenten, da bekannt wurde, dass sie erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringen können, wie beispielsweise einen Schlaganfall oder gefährliche Herzrhythmusstörungen.

Alle Empfehlungen, die sich an gesunde ältere Menschen richten, gelten in besonderem Maße auch für Demenzkranke. Aus unterschiedlichen Gründen werden diese Empfehlungen bei verwirrten älteren Menschen vielfach weniger umgesetzt. Große Bedeutung haben die Vermeidung von Stürzen und der Erhalt der Gehfähigkeit. Defizite beim Hören und beim Sehen müssen durch geeignete Hilfsmittel oder Maßnahmen möglichst ausgeglichen werden. Eine gute Zahnpflege trägt dazu bei, eine ausreichende Ernährung sicherzustellen. Die Behandlung anderer Krankheiten oder Risikofaktoren ist auch bei vielen Demenzkranken sinnvoll und notwendig. So kann eine Behandlung eines erhöhten Blutdrucks die Gefahr eines Schlaganfalls senken und dadurch einer weiteren Verschlechterung der Hirnleistung vorbeugen.

Zunehmend richten sich Altenpflegeeinrichtungen und auch Krankenhäuser auf die Bedürfnisse demenzkranker Menschen ein. Viele Altenheime bieten besondere Wohnbereiche für ältere Menschen mit einer Demenz. Schulungen des Personals, Orientierungshilfen für Bewohner, eine adäquate Beleuchtung in Räumen sowie Maßnahmen zur Verhinderung von Stürzen und einer Fehl- und Mangelernährung tragen dazu bei, dass ältere Menschen mit einer Demenz ein größeres Maß an Lebensqualität erfahren. Krankenhäuser wie beispielsweise das Diakonissen-Krankenhaus in Frankfurt/Main verfügen zunehmend über spezielle Bereiche für akut erkrankte Demenzpatienten. Durch eine intensive Beschäftigung mit der Biographie des Patienten und mit der Kenntnis von Eigenarten und Vorlieben des Patienten, durch Kommunikationstraining für Mitarbeiter und durch viele andere Maßnahmen lassen sich auch in einem Akutkrankenhaus die besonderen Bedürfnisse demenzkranker Patienten besser berücksichtigen. Muss ein älterer Mensch wegen einer Lungenentzündung oder wegen eines Herzinfarktes plötzlich in einem Krankenhaus behandelt werden, so steht zwar die akute Erkrankung zunächst im Vordergrund; im weiteren Verlauf nach Besserung der akuten Problematik stellt in vielen Fällen jedoch die fortbestehende Demenz das Hauptproblem im Umgang mit dem Patienten dar.

Eine Demenz betrifft nicht nur den Erkrankten, sondern stets eine Familie. Während ein Demenzkranker ärztliche Hilfe erfährt, bleiben die direkten Angehörigen oft unbeachtet. Dabei brauchen insbesondere die direkt in die Betreuung involvierten Angehörigen, oft die Ehepartner, ebenfalls Unterstützung. Jeder, der mit einem demenzkranken Menschen zusammenlebt, wird früher oder später Zeichen von Überforderung, Erschöpfung oder manchmal auch Aggressivität an sich feststellen. Diese Symptome müssen ernst genommen werden. Sie sollen dazu führen, nach Unterstützung zu suchen. Es gibt Beratungsstellen, die konkrete Hilfe anbieten. Früher oder später ist eine Auszeit der betreuenden Angehörigen unerlässlich. Oftmals empfinden betreuende Angehörige ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich nicht persönlich Tag und Nacht um den erkrankten Lebenspartner kümmern können.

Gerade engagierte Angehörige, meist Ehepartner, geben nur sehr ungern die Zuständigkeit für den demenzkranken Menschen auch nur vorübergehend ab. Eine vorübergehende Trennung wird erschwert, da viele demenzkranke Menschen auf feste Bezugspersonen eingespielt sind. Wenn diese Bezugspersonen fehlen, kann sich der Zustand eines Demenzpatienten verschlechtern. Vor diesem Hintergrund fällt es betreuenden Angehörigen oft besonders schwer, sich vorübergehend aus der direkten täglichen Betreuung zu lösen. Doch nur derjenige kann über Jahre hinweg einen Angehörigen mit Demenz betreuen, der Zeiten der persönlichen Erholung hat.


Das Leben mit Demenzkranken als Chance?

Kann bei einer solch schweren, langwierigen und unheilbaren Erkrankung wie einer Demenz von einer Chance gesprochen werden, die das Zusammenleben mit einem Betroffenen bieten soll?

Das Leben mit einem Demenzkranken zwingt zum Umdenken. Dies betrifft vor allem die Kommunikation. Viele Menschen, die an einer Demenz erkranken, leben oft in einer Welt, die anderen Personen, oft auch den eigenen Angehörigen, fremd erscheint und nur schwer zugänglich ist. Die Kommunikation mit einem dementen Menschen kann nur gelingen, wenn man sich in die Welt des Erkrankten hineinbegibt und versucht, den Kranken in seiner Welt zu verstehen und ihm mit Respekt zu begegnen. Wenn der Demenzkranke sich in seiner Welt nicht ernst genommen fühlt und stattdessen den Eindruck gewinnt, es wird ihm etwas übergestülpt, reagiert er oft mit aggressivem Verhalten. Als Beispiel sei ein 85-jähriger demenzkranker Patient angeführt, der unruhig wird und sagt, er müsse sich jetzt um seine kranke Mutter kümmern. In einer solchen Situation darf nicht die Antwort sein, die Mutter ist doch schon seit vielen Jahren tot. Auch wenn diese Aussage zweifellos korrekt ist, so wird sie doch in dieser Form der Lebenswelt des demenzkranken Patienten nicht gerecht. Er weiß in diesem Moment nicht, dass seine Mutter tot ist. Auf diese Mitteilung reagiert er möglicherweise mit Wut oder Trauer. So wäre es in dieser Situation hilfreicher, beispielsweise zu antworten: "Sie machen sich wohl große Sorge um Ihre Mutter." Mit dieser Antwort signalisiert man, dass man sich auf die Lebenswelt des Demenzkranken einstellt, dass man versucht, ihn in seiner Welt zu verstehen.

Die Kommunikation mit einem Demenzkranken kann auf diese Weise deutlich machen, was bei jeder Kommunikation gilt: Der erste Schritt einer Kommunikation ist das Bemühen um Verstehen. Der zweite Schritt ist eine Antwort, die der Lebenswelt des Sprechenden gerecht wird. Werden diese Regeln beachtet, kann Kommunikation gelingen - mit Demenzkranken wie auch mit Gesunden. Das Leben mit einem Demenzkranken konfrontiert mit den Begrenztheiten menschlichen Lebens. Es ist eine Illusion anzunehmen, durch eine große gemeinsame Anstrengung von Forschungseinrichtungen, pharmazeutischer Industrie und staatlichen Stellen ließe sich das Problemfeld Demenz rasch in den Griff bekommen. Im Gegenteil: Die bevorstehende Zunahme älterer Menschen wird auch zu einer Zunahme der altersassoziierten Krankheit Demenz führen. So ist der Auftrag an den Einzelnen und an die Gesellschaft ein doppelter: Auf der einen Seite besteht die Verpflichtung, Leid und Krankheit und somit auch eine Demenz zu verhindern und zu bekämpfen; auf der anderen Seite muss akzeptiert werden, dass Leid und Krankheit zu jedem Leben dazugehören. Bei allem Bemühen um Besserung und Linderung wird stets Leid übrig bleiben. Dieses Leid muss angenommen und ins Leben integriert werden.

Eine pharmazeutische Firma, die ein Antidemenzpräparat herstellt, wirbt für ihr Medikament mit dem Hinweis, durch dieses Medikament bliebe die Würde des Alzheimer-Patienten länger erhalten. Diese Aussage führt in die Irre und ist sogar gefährlich. Die Würde des Menschen ist unantastbar - dies gilt unabhängig von Erkrankungen. Das Leben mit Demenz kann bei aller Schwierigkeit und bei aller Problematik darauf verweisen, dass Sinn und Würde des Lebens nicht an eine Organfunktion gebunden sind auch wenn es das Organ ist, das wesentlich für den Menschen ist - das Gehirn.

So können ein Demenzkranker und seine Familie die Umgebung lehren, dass jedem Menschen eine unveräußerliche Würde zukommt, die unabhängig von seinen Fähigkeiten besteht. Das ist für eine an Leistung und Status orientierte Gesellschaft eine wichtige Botschaft.


IM PORTRAIT

Priv. Doz. Dr. med. Rupert Püllen
Arzt für Innere Medizin und Arzt für Geriatrie, seit 2001 Chefarzt der Medizinisch-geriatrischen Klinik der Frankfurter Diakonie-Kliniken an den Standorten Diakonissen-Krankenhaus und Markus-Krankenhaus. Akademisches Lehrkrankenhaus der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Zum Angebot der Klinik gehört ein Bereich für akut erkrankte Demenzpatienten und eine Memory Clinic für ältere Menschen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Steigende Lebenserwartung: Mit zunehmendem Lebensalter wächst auch das Risiko, dement zu werden.

Demenzkranke sind of auf Hilfe angewiesen. In humanen Gesellschaften ist das ein lösbares Problem.

Für andere Menschen da zu sein, kann auch selbst glücklich machen.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 91, 3. Quartal 2009, S. 22 - 25
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2010