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ETHIK/835: Forum Bioethik - Leben zwischen den Geschlechtern (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 5 - Juli 2010 - 02/10

Forum Bioethik

Leben zwischen den Geschlechtern


Über 300 Gäste waren am 23. Juni 2010 der Einladung des Ethikrates gefolgt, gemeinsam mit Sachverständigen verschiedener Fachgebiete und Betroffenen über das Thema Zwischengeschlechtlichkeit zu diskutieren.


Verschiedene genetische und hormonelle Veränderungen können Auslöser sehr unterschiedlicher Ausprägungen von Zwischengeschlechtlichkeit sein, die teilweise sofort nach der Geburt ersichtlich sind, manchmal aber auch erst in der Pubertät erkannt werden. Nach wie vor werden Betroffene im Kleinkindalter an den Genitalien operiert, weil Mediziner und Eltern die Zwischengeschlechtlichkeit als eine Entwicklungsstörung ansehen, die zum Wohle der Betroffenen chirurgisch sowie hormonell behandelt werden sollte. Selbsthilfegruppen intersexueller Menschen wehren sich jedoch zunehmend gegen solche Eingriffe und verweisen dabei auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und freie Persönlichkeitsentfaltung.


Woran erkennt man das Geschlecht?

Die Psychoanalytikerin Hertha Richter-Appelt vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf führte in die medizinischen Grundlagen ein. Sie verwies darauf, dass es generell schwierig sei, eine eindeutige Unterscheidung zwischen Mann und Frau zu treffen. So könnten Menschen mit einem weiblichen Chromosomensatz dennoch ein äußerlich männliches Genitale haben und umgekehrt. Bei den Erscheinungsbildern der Intersexualität sei es oftmals unmöglich, ein eindeutiges biologisches Geschlecht zu bestimmen. Die Ursache hierfür könne in Veränderungen des Chromosomensatzes liegen, meist jedoch in Veränderungen der Keimdrüsen oder des Hormonhaushaltes. Neben der Varianz der körperlichen Geschlechtsausprägung komme es oftmals auch zu einem breiten Spektrum an Formen des psychosozialen Geschlechts, das sich in der Geschlechtsidentität, der Geschlechtsrolle und der sexuellen Orientierung äußere.

Kritisch betrachtete Richter-Appelt die früheren Behandlungsmaßstäbe, die besonders durch den amerikanischen Psychologen John Money in den 1950er-Jahren geprägt worden waren. Money hatte die These vertreten, dass das Geschlecht vollständig anerzogen werden könne und man intersexuellen Kindern dadurch im Verbund mit einer operativen Angleichung der Genitalien sowie Geheimhaltung des Vorgehens gegenüber den Betroffenen ein eindeutiges Geschlecht klar zuweisen könne. Richter-Appelt hob hervor, dass sich solche Therapieversuche, die oftmals ohne die Einwilligung und Aufklärung der Betroffenen vorgenommen worden seien, als fehlgeleitete Ansätze erwiesen hätten, von denen heute Abstand genommen werden müsse. Sie mahnte an, die betroffenen Personen im Sinne des informed consent in Entscheidungen mit einzubeziehen und nicht »über ihren Kopf hinweg einem Geschlecht zuzuordnen und dann noch zu verlangen, dass sie in einer bestimmten Rolle und sich selbst als Mann oder Frau erlebend, durchs Leben gehen«. Es gebe eine Vielfalt von Identitäten sowie eine Vielfalt an Genitalen, nicht nur zwei. Dabei sei zu bedenken, dass ein nicht eindeutiges Genitale nicht zu einer Störung der psychosexuellen Entwicklung führen müsse. Wiederholte Operationen im Genitalbereich könnten diesbezüglich weitaus traumatisierender sein. Richter-Appelt verwies auf die Ergebnisse der von ihr geleiteten Hamburger Katamnese-Studie, aus denen sie insbesondere den Schluss zog, man müsse die unterschiedlichen Diagnosen sehr genau untersuchen und differenziert behandeln.


Rechtliche Fragen

Die Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett von der Universität Bremen kritisierte, dass es in ihrem Fachgebiet noch nicht angekommen sei, dass nicht jeder Mensch eindeutig männlich oder weiblich sei. Zwar gebe es Gesetze wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die Menschenrechtskonvention des Europarates und das Kinderrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen, aus denen sich ableiten lasse, »dass intersexuell geborene Menschen auch ein Recht auf ihre eigene sexuelle Identität haben«, die Praxis weiche davon jedoch ab. Juristische Probleme sah Plett im Personenstandsrecht, das bei der Eintragung in das Geburtenregister innerhalb einer Woche eine Zuordnung zu einem Geschlecht verlange, und im Medizinrecht bei der Frage, ob geschlechtszuweisende Eingriffe als Heilbehandlung oder Körperverletzung verstanden werden sollten, sowie im Hinblick auf angemessene Maßstäbe für ärztliches Handeln.

Plett verwies auf zwei aktuelle, rechtspolitische Debatten. Eine davon kreise um die Aufnahme des Merkmals »Geschlecht« in das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes; die andere betreffe den Gesetzentwurf zur Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien. Beides werde im Bundestag diskutiert. Diese Entwürfe bezögen sich zwar auch auf intersexuelle Menschen, im Hinblick auf das Benachteiligungsgebot seien sie sogar ausdrücklich genannt - in den Begründungstexten, Einbringungsreden und Debattenbeiträgen werde jedoch nicht auf sie eingegangen. Obwohl bereits die bestehende Gesetzeslage intersexuelle Menschen schütze, müsse man immer noch von einer »unterschlagenen Sichtbarkeit« und »Fortdauer des Tabus« sprechen, »denn zwischengeschlechtliche Menschen werden nicht wirklich wahrgenommen, selbst in den Gesetzentwürfen, die ihnen zugutekommen sollen«. Um diesen Missstand aufzuheben, forderte Plett eine stärkere Verzahnung von Zivil- und Strafrecht, eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Kenntnisnahme bereits vorhandener Informationen durch Politik und Verwaltung. Sie verstehe die Veranstaltung als einen Schritt zur Verwirklichung der Menschenrechte für alle Menschen.


Forderung nach Unversehrtheit

Claudia Kreuzer und Lucie Veith vom Verein Intersexuelle Menschen e. V. vertraten die Sicht Betroffener. Claudia Kreuzer beschrieb exemplarisch verweiblichende medizinische Eingriffe bei genotypisch männlichen Menschen mit intersexuellem Genitalstatus und machte auf die aus ihrer Sicht unkalkulierbaren Schädigungen und Risiken solcher Eingriffe aufmerksam.

Während unbehandelte Intersexuelle aktenkundig wenig Probleme mit ihrer sexuellen Konstitution und ihrem Geschlecht hätten, würden die medizinischen Eingriffe oftmals zu körperlichen Störungen und seelischen Problemen bis zur Traumatisierung führen. »Die medizinischen Eingriffe entziehen dem davon Betroffenen jedwede Möglichkeit zur individuellen körperlichen und seelischen Entwicklung, da ihre körperliche Fähigkeit zur Eigenentwicklung irreversibel zerstört ist.«

Zu Wirkungen und Langzeitwirkungen der Eingriffe gebe es keine evidenten Erkenntnisse, wodurch die Eingriffe als »Menschenversuche« verstanden werden müssten. Der Verein Intersexuelle Menschen e. V. fordere deshalb ein Verbot von nicht lebens- oder gesundheitsnotwendigen Eingriffen.

Medizinisch nicht erforderliche Eingriffe seien, so Veith, menschenrechtswidrig und würden von den Betroffenen selbst als Folter empfunden. Der Staat habe die Pflicht, die Betroffenen vor solchen Eingriffen zu schützen, komme dieser jedoch nicht nach. Die medizinischen Eingriffe, die sie als »gewaltsam normierende Eingriffe« bezeichnete, sind für sie unvereinbar mit dem Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit.

Sie forderte den Staat auf, seinen grundrechtlichen Schutzpflichten nachzukommen und die Entscheidungen über solch schwerwiegende Eingriffe in das Leben eines Kindes mit intersexuellem Status nicht an Mediziner und Eltern zu delegieren, die dadurch überfordert seien. Neben einem Eingriffsstopp mahnte sie die Gewährleistung von Entschädigung und Rehabilitierung für Betroffene an.


Entscheidungen im Kindesalter?

Claudia Wiesemann, Medizinethikerin an der Universität Göttingen, stellte zu Beginn der anschließenden Podiumsrunde die ethischen Grundsätze und Empfehlungen der Arbeitsgruppe Ethik im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Netzwerk Intersexualität vor. Dem Wohl des Kindes und des zukünftigen Erwachsenen räumte sie bei Therapieentscheidungen oberste Priorität ein. Das Kindeswohl äußere sich in der körperlichen Integrität und freien Entwicklung der Persönlichkeit. Die Interessen des Kindes und des zukünftigen Erwachsenen könnten mitunter jedoch zueinander in Konflikt geraten. Wiesemann empfahl, das Recht des Kindes auf Partizipation und - je nach Alter - Selbstbestimmung zu berücksichtigen, und schloss sich damit Richter-Appelt an, dass die Kinder an der Entscheidung beteiligt werden müssten. Es sei von großer Bedeutung, die Eltern-Kind-Beziehung zu achten und zu stärken, Eltern im Umgang mit der Situation zu unterstützen und von Fall zu Fall über die medizinische Notwendigkeit von Eingriffen zu entscheiden.

Im Verlauf der Podiumsdiskussion kritisierten die Vertreterinnen des Vereins Intersexuelle Menschen e. V. die von Wiesemann geforderte Fall-zu-Fall-Entscheidung bei medizinischen Eingriffen. Nur ein Eingriffsverbot bei Minderjährigen schütze deren Interessen wirksam. Die von Ratsmitglied Michael Wunder geleitete Diskussion spitzte sich auf die Frage zu, wie sich das Mitbestimmungsrecht minderjähriger Kinder konkret umsetzen lasse. Plett gab dabei zu bedenken, dass Kinder oftmals die Wünsche der ihnen nahestehenden Erwachsenen als die eigenen formulieren oder sogar wahrnehmen würden. Zudem fehle es jungen Kindern oftmals an der für solche Entscheidungen notwendigen Reife. Einigkeit hinsichtlich dieser Frage konnte nur darin erzielt werden, dass alle Diskutanten kosmetische Eingriffe aufgrund gesellschaftlichen Drucks strikt ablehnten.


Ruf nach gesellschaftlicher Akzeptanz

In der für das Publikum geöffneten Diskussion, an der sich auch viele Betroffene beteiligten, stand besonders der Appell im Mittelpunkt, dass nicht der Mensch den Erwartungen der Gesellschaft angeglichen werden dürfe, sondern dass die Gesellschaft Menschen akzeptieren müsse, wie sie sind. Wenn man die Gesellschaft ändern wolle, müsse man, so Richter-Appelt, bei den Eltern und Kindergärtnerinnen sowie der medizinischen Ausbildung ansetzen. Kritisiert wurde, dass der Diskurs von Medizinern, die zu einer Medikalisierung und dadurch Pathologisierung der Intersexualität neigten, dominiert werde. Bei einem Problem von solcher gesellschaftlichen Tragweite sei vielmehr ein breit angelegter Diskurs erforderlich. Die Politik wurde aufgefordert, die Diskriminierung zwischengeschlechtlicher Menschen zur Kenntnis zu nehmen und umgehend Maßnahmen zu ergreifen, um diese zu beenden. Insbesondere geschlechtszuweisende operative Eingriffe an Minderjährigen seien mit sofortiger Wirkung zu unterbinden, da sie eine Verletzung des Rechts auf Schutz der Menschenwürde darstellten. Kreuzer rief zum Abschluss der Diskussion zu konkretem Handeln auf: »Wir haben jede Menge Betroffene, wir haben jede Menge Kinder. Diese Kinder haben keine Zeit. (...) Wir brauchen schnelle Entscheidungen, keine Diskussionen.«    (GSt)


INFO

Quelle
Präsentationen, Referate und Protokolle der Veranstaltung sind von der Internetseite des Ethikrates unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/intersexualitaet-leben-zwischen-den-geschlechtern abrufbar.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Referenten und Diskutanten des Abends: Dr. phil. Michael Wunder, Prof. Dr. phil. Hertha Richter-Appelt, Prof. Dr. iur. Konstanze Plett (obere Reihe v. l.), Claudia Kreuzer, Lucie Veith und Prof. Dr. med. Claudia Wiesemann (untere Reihe v. l.) sowie ein Blick ins Auditorium


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Quelle:
Infobrief Nr. 5 - Juli 2010 - 02/10, Seite 7 - 8
Informationen und Nachrichten aus dem Deutschen Ethikrat
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2010