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ETHIK/898: Patientenverfügung - Modell Grevenbroich (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 95 - 3. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Modell Grevenbroich

Von Prof. Dr. med. Axel W. Bauer


Muss man sich die viel zitierte »Autonomie von Patienten« so vorstellen? Ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Modellprojekt zeigt: Aus dem im Bundestag gegen vielfachen Widerstand durchgesetzten Recht, mittels einer Patientenverfügung im Voraus verbindlich festlegen zu können, wie man im Falle schwerer Erkrankungen behandelt werden will, droht offenbar eine Pflicht zu werden.


Die Stadt Grevenbroich am Niederrhein mit ihren 64.000 Einwohnern hat dank des von Hape Kerkeling verkörperten fiktiven stellvertretenden Chefredakteurs Horst Schlämmer in den letzten Jahren einen erheblichen Bekanntheitsgrad in Sachen Satire erreicht. Nun sind Grevenbroichs Altenheime dabei, überregionale Resonanz zu erzeugen, allerdings nicht auf dem Gebiet des Humors, sondern im Bereich der medizinischen Forschung oder zumindest dessen, was als solche firmiert und seit 2009 mit Steuermitteln aus dem Topf des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert wird. Das Modellprojekt mit dem mittlerweile vom Deutschen Patentamt markenrechtlich geschützten Titel »beizeiten begleiten« ist eine von Medizinern, Juristen und Ethikern der Universitäten Düsseldorf, Augsburg, Hamburg, Tübingen und Kassel erdachte kontrollierte Interventionsstudie, die das scheinbar hehre Ziel ver folgt, möglichst viele Altenheimbewohner zum Ausfüllen einer Patientenverfügung zu bewegen. Gegenüber dem Förderer wird das Verbundprojekt weiterhin »RESPEKT« genannt, womit nicht etwa der Respekt vor den betagten Menschen gemeint ist, sondern »Respekt für vorausverfügte Entscheidungen und Präferenzen für den Fall von Krankheit und Tod«. Es geht den Forschern um die prozess- und systemorientierte Implementierung von Patienten-Vorausverfügungen in Altenheimen und den relevanten Versorgungsstrukturen der Modellregion.

Zu »Begleitern« geschulte Pflegekräfte sollen den Interessenten (»die vulnerable und benachteiligte Gruppe alter Menschen in Altenheimen«) Vorsorgevollmachten und Vorausverfügungen erklären, geschulte Hausärzte den Prozess begleiten und dadurch das Verstehen der medizinischen Implikationen und die Wirksamkeit der Schriftstücke gewährleisten. Gleichzeitig soll eine vielfältige kommunale Intervention bewirken, dass Vorausverfügungen gesehen und respektiert werden, auch von der Nachtschwester, im Notdienst und im Krankenhaus.

Das Ziel der ersten Studienphase ist äußerst bescheiden, ja geradezu trivial: Es soll untersucht werden, ob durch die rhetorische Beeinflussung der Altenheimbewohner seitens der professionellen Begleiter die Rate qualifizierter Vorausverfügungen in der Region Grevenbroich ansteigt. »Qualifiziert« ist eine Vorausverfügung vor allem dann, wenn sie im Fall der Einwilligungsunfähigkeit des Verfügenden eindeutige Anweisungen für die dann stellvertretend Handelnden gibt. Angesichts des massiven Einsatzes von speziell ausgebildeten »Begleitern« wäre es wahrlich ein Wunder, wenn dieses Studienziel verfehlt würde.

Klare Botschaft zum Nichthandeln

Die eingesetzten Musterverfügungen beschreiben Behandlungsszenarien und Krankheitsverläufe, sie geben sodann Antwortalternativen zum Ankreuzen vor. Zwar können sich die Verfügenden durchaus für eine »uneingeschränkte Notfall- und Intensivtherapie mit dem Ziel der Lebensverlängerung« entscheiden, doch wählen die Probanden für den Fall »dauerhafter Unfähigkeit, selbst zu entscheiden«, offenbar weit häufiger den Ausschluss jeglicher lebensverlängernden Behandlung einschließlich künstlicher Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr. Ein weiteres Schriftstück, die »Hausärztliche Anordnung für den Notfall« (HAnNo) enthält eine »klare Botschaft« für den Rettungsdienst, den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder die Nachtschwester - in der Regel zum Nichthandeln.

Ohne Zweifel befinden sich Menschen im Altenheim in einer vulnerablen und benachteiligten Lebensphase. Man darf aber gerade deshalb mit Fug und Recht bezweifeln, dass es keine wichtigeren und der Förderung würdigeren Forschungsprojekte im Bereich der Allgemeinmedizin und der Medizinethik gäbe als solche, die ein für Ärzte, Pflegemitarbeiter oder Angehörige möglichst bequemes, weil »selbst bestimmtes« Sterben der beizeiten Begleiteten modellhaft in die Wege leiten sollen. Die körperliche und seelische Verletzlichkeit der Heimbewohner müsste es unter dem Aspekt der Humanität eigentlich als moralisch inakzeptabel erscheinen lassen, dass ihnen rhetorisch geübte »Experten« subtil die Antizipation eines Behandlungsverzichts schmackhaft machen.

Angesichts der seit der Reform des Betreuungsrechts im Jahre 2009 vorgesehenen Verbindlichkeit einer »qualifizierten« Patientenverfügung ist deren Abgabe unter Umständen das letzte Wort des alten Menschen in eigener Sache. Derzeit plant die Bundesärztekammer (BÄK) außerdem eine Änderung des Berufsrechts für Mediziner. Der Präsident der BÄK, Jörg-Dietrich Hoppe, stellt sich eine Formulierung vor, wonach ein Arzt künftig Menschen beim Suizid helfen dürfe, wenn er das »mit seinem Gewissen vereinbaren könne«. Damit wäre der Hippokratische Eid endgültig Makulatur, denn schon im Jahre 2008 hatten 35 Prozent der vom Institut TNS Healthcare befragten 483 Mediziner eine Regelung befürwortet, die es Ärzten ermöglichen würde, Patienten mit schwerer, unheilbarer Krankheit beim Suizid zu unterstützen. 16 Prozent der Befragten sprachen sich sogar für eine Legalisierung der bisher strafbaren Tötung auf Verlangen aus.

Das letzte Wort in eigener Sache

Insofern liegt »beizeiten begleiten« ganz im Trend der modernen opportunistischen Medizinethik, die ihre Forschungsprojekte exakt dort ansiedelt, wo sie die unausgesprochenen Wünsche ihrer Sponsoren zu erahnen glaubt: Im Namen der angeblichen Liberalität sollen Menschen, die selbst keinen aktiven Beitrag mehr zum ökonomischen Nutzen der Volkswirtschaft leisten können, dazu motiviert werden, sich möglichst »sozialverträglich« aus dem irdischen Dasein zu verabschieden. Wer nicht mehr lebt, spart Rentenversicherungen, Kranken- und Pflegekassen viel Geld. Redakteur Horst Schlämmer vom Grevenbroicher Tagblatt würde dazu wohl sagen: »Da wisst ihr Bescheid.«


INFO
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert das Modellprojekt »beizeiten begleiten« mit rund 500.000 Euro. Beim Deutschen Patent- und Markenamt (DPMA) haben die beteiligten Universitäten den Namen »beizeiten begleiten« sowie das entsprechende Logo unter der Nummer 302 009 008 497 markenrechtlich schützen lassen. Der Schutz der Marke reicht zunächst bis März 2019.


IM PORTRAIT

Prof. Dr. med. Axel W. Bauer
Der Autor, Jahrgang 1955, studierte Medizin in Freiburg, 1980 Promotion und Approbation als Arzt; 1981-1986 Hochschulassistent in Heidelberg; 1986 dort Habilitation und Privatdozent für Geschichte der Medizin; seit 2004 Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Heidelberg.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Hat Grevenbroich auf sympathische Weise bundesweit bekannt gemacht: Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling.
- Annette Schavan, CDU


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 95, 3. Quartal 2010, S. 25 - 26
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2011