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AUSLAND/2077: Zentralafrikanische Republik - Interview mit einem zurückgekehrten Mitarbeiter (Ärzte ohne Grenzen)


Ärzte ohne Grenzen - 26. März 2014

Aktuelles Update zur Situation in Bangui

Zentralafrikanische Republik: Ärzte ohne Grenzen behandelt nach neuen Kämpfen in Bangui 38 Verwundete



Bangui/Berlin, 26. März 2014 - In den vergangenen Tagen ist es in der zentralafrikanischen Hauptstadt Bangui erneut zu Kämpfen gekommen. Zwischen dem 22. und dem 24. März waren in den beiden Stadtvierteln PK5 und PK12 schweres Maschinengewehrfeuer und Explosionen von Granaten zu hören. Die medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen behandelten bisher 38 Verwundete, von denen drei ihren Verletzungen erlagen.

In den betroffenen Vierteln sind seit mehreren Wochen tausende Muslime eingeschlossen. Internationale Truppen versuchen sie vor Angriffen von Anti-Balaka-Milizen zu beschützen. "Diese erneuten Angriffe zeigen, dass die Gewalt in Bangui noch nicht vorbei ist, trotz der Anwesenheit internationaler Truppen", sagt Hakim Chkam, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in der Zentralafrikanischen Republik. "Von den 38 Verwundeten, die wir behandeln mussten, hatten die meisten Verletzungen durch Kugeln, Granatsplitter und Macheten erlitten."

Ein Notdienst mit Rettungswagen wurde eingerichtet, um Patienten aus PK5 und PK12 in das Haupt-Krankenhaus der Stadt zu bringen, das von Ärzte ohne Grenzen im Bereich der Not-Chirurgie unterstützt wird. Doch die Gewalt behindert sowohl die Transporte der Verletzten als auch die Bemühungen, Nothilfe zu leisten.

Ein reduziertes Team von Ärzte ohne Grenzen hält am Flughafen von Bangui indes weiterhin die medizinische Notversorgung für die Vertriebenen im Mpoko-Lager aufrecht, das in der Nähe des PK5-Viertels liegt. Innerhalb von 24 Stunden behandelte das Team hier 15 Verletzte und überstellte drei Schwerverletzte ins Krankenhaus. Ärzte ohne Grenzen musste die regulären medizinischen Behandlungen in Mpoko jedoch einstellen. Rund 60.000 Menschen haben in dem Lager, in dem unerträgliche Bedingungen herrschen, Schutz gesucht.

"Mit jedem neuen Gewaltausbruch fliehen mehr Menschen zurück in das Lager oder in andere Teile von Bangui", sagt Chkam. Ein Team von Ärzte ohne Grenzen wird deshalb jene Menschen aufsuchen, die vor den letzten Angriffen in die Vierteln St. Jacques, Bimbo und Carriere geflohen sind, um ihre Bedürfnisse zu erheben.

Ärzte ohne Grenzen ist seit 1997 in der Zentralafrikanischen Republik tätig. Derzeit sind mehr als 300 internationale und über 2.000 zentralafrikanische Mitarbeiter im Einsatz. Die medizinische Hilfsorganisation betreibt sieben reguläre Programme (in Batangafo, Carnot, Kabo, Ndélé, Paoua, Bria und Zémio) und acht Nothilfeprojekte (in Bangui, Berbérati, Bouar, Boguila, Bossangoa, Bangassou und Bocaranga, sowie mobile Kliniken im Nordwesten des Landes). Ärzte ohne Grenzen leistet auch Nothilfe für zentralafrikanische Flüchtlinge in Tschad, Kamerun, der Demokratischen Republik Kongo und der Republik Kongo.

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Zentralafrikanische Republik: Ein Jahr unvorstellbarer Gewalt

Interview mit Roland Kremer, einem Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, der kürzlich aus der Zentralafrikanischen Republik zurückgekehrt ist.

Seit dem Staatstreich vom 24. März 2013 haben sich Gewalt und Unruhen in der Zentralafrikanischen Republik massiv verschärft. Die in Angst lebende Zivilbevölkerung ist mitten in diesem Chaos besonders verletzlich für Hunger und tödliche Krankheiten. Geschätzte 20 Prozent der Bevölkerung wurden vertrieben - viele davon verstecken sich in den Wäldern oder sind in Krankenhäusern, Kirchen und Moscheen förmlich eingeschlossen. Die kürzlich durchgeführten Vergeltungsmaßnahmen gegen die muslimische Minderheit haben zu einer Massenflucht der Betroffenen geführt. Derzeit sind Zivilisten weiter der Gewalt ausgesetzt: Seitens ehemaliger Seleka-Kämpfer und gegnerischer Anti-Balaka-Milizen sowie von kriminellen Gruppen, die sich die instabile Lage zunutze machen.

Ärzte ohne Grenzen arbeitet in vielen der am schwersten betroffenen Regionen, zum Beispiel in den Städten Bossangoa, Boguila und Bangui. Roland Kremer, medizinischer Notfallkoordinator von Ärzte ohne Grenzen, ist kürzlich von seinem Einsatz in der Zentralafrikanischen Republik zurückgekehrt und schildert seine Eindrücke:


FRAGE: Seit wann ist Ärzte ohne Grenzen in der Zentralafrikanischen Republik tätig?

ROLAND KREMER: Ärzte ohne Grenzen hat vor mehr als zehn Jahren begonnen, auf dringliche medizinische Bedürfnisse und die mangelnde Gesundheitsinfrastruktur zu reagieren. In Anbetracht dieser bereits sehr angespannten Situation hätte ich nie erwartet, dass es im Laufe des vergangenen Jahres noch schlimmer werden könnte. Das Ausmaß der Gewalt war und ist immens: Tausende Menschen haben keinen Zugang zu Krankenhäusern, und wer aus Angst sein Zuhause verlassen musste, versteckt sich nun in den Wäldern oder flüchtet in Nachbarländer.

FRAGE: Wie angreifbar sind Minderheiten in der aktuellen Lage?

ROLAND KREMER: Derzeit leben beispielsweise nurmehr 1.500 Muslime im Areal PK12 in der Hauptstadt Bangui. Sie sind von einer feindseligen Menschenmenge umzingelt, die sie entweder aus dem Land vertreiben will oder ihnen den Tod wünscht. Ihre Angst wurde durch gezielte Angriffe mit Granaten und Gewehrfeuer noch weiter verschärft. Auch für uns ist es ein besonders schwieriger, wenn auch besonders wichtiger Einsatzort, denn hier führen wir an einem Tag über 200 medizinische Behandlungen durch.

Vergangene Woche war ich in Boguila im Norden des Landes; auch dort herrscht Gewalt. Innerhalb von nur einer Stunde wurden mehrere Menschen mit Schusswunden ins Krankenhaus gebracht. Auch eine Frau kam zu uns, deren Arm mit einer Machete abgehackt worden war. Sie weinte oder schrie nicht, doch ich konnte die Angst in ihren Augen sehen. Es herrscht so viel Angst unter den Menschen, dass sie sehr schnell in Panik geraten und ihre Dörfer verlassen. Mütter holen ihre Kinder aus dem Krankenhaus und verstecken sich mit ihnen in den Wäldern. Diese Reaktionen sind eine Folge all der Erlebnisse, die sie in der Vergangenheit mitmachen mussten.

Vor mehr als einem Monat erhielt ich einen Anruf von unserem medizinischen Team in Bossangoa: Sie berichteten mir, dass 15 Lastwagen Muslime an einen sicheren Ort im Tschad bringen würden. Die Menschen drängten enorm, um auf diese Lastwagen zu kommen. Sie waren sehr emotional und aufgebracht, so auch unsere Mitarbeiter. Die meisten der Flüchtenden wollten ihre Heimat nicht verlassen, nachdem ihre Familien seit Generationen in der Zentralafrikanischen Republik gelebt hatten, doch sie mussten zu ihrer eigenen Sicherheit aus dem Land fliehen.

FRAGE: Mit welchen Problemen ist Ärzte ohne Grenzen konfrontiert?

ROLAND KREMER: Malaria ist die häufigste Todesursache. Zu uns kommen auch viele Menschen mit Hautentzündungen, Atemwegsinfektionen oder Wunden von Gewehrkugeln, Speeren und Macheten - sowie schwer mangelernährte Kinder.

Ich war mit unserer mobilen Klinik in einem Dorf namens Benzambe, nördlich von Bossangoa. Es war keine einfache Reise, denn man musste abseits der Straßen fahren. Was mich am meisten beeindruckte, waren all die Menschen, die uns in der Klinik ihre freiwillige Hilfe anboten. Während wir dort waren, wurden auch einige Kriegsverletzte mit Motorrädern zu uns gebracht.

Eine Frau im Alter von ungefähr 30 Jahren kam zu uns, nachdem ihr Dort angegriffen worden war - sie hatte 12 Stunden vor ihrer Ankunft in der Klinik einen Bauchschuss erlitten. Sie war sehr geschwächt, aber immer noch bei Bewusstsein. Je länger es bis zur Behandlung dauert, desto höher das Risiko von Entzündungen und Komplikationen. Glücklicherweise konnten wir sie und weitere Patienten gemeinsam mit einem Arzt in das Krankenhaus in Bossangoa überstellen.

FRAGE: Was sind in Zukunft die größten Herausforderungen für die Menschen?

ROLAND KREMER: Fälle von Malaria werden dramatisch zunehmen, sobald die Regenzeit einsetzt, und auch die Mangelernährung ist sehr besorgniserregend. Wenn Menschen vertrieben werden, können sie nicht mehr auf ihren Feldern arbeiten - außerdem wurden viele Teile des Landes vorsätzlich zerstört oder niedergebrannt.

Außerdem mache ich mir große Sorgen um die psychische Gesundheit der Menschen hier: Hunderttausende mussten schreckliche Dinge miterleben, haben Familienmitglieder und Freunde verloren oder sind in die Wälder oder Nachbarländer geflohen.

Abgesehen davon gibt es noch diejenigen, die trotz der vielen Gefahren eine Flucht aus der Zentralafrikanischen Republik in den Tschad oder nach Kamerun geschafft haben. Ärzte ohne Grenzen versucht, sie dort ebenfalls zu versorgen. Doch auch wenn sie momentan an einem sicheren Ort sind, brennen die großen Fragen: Wo sollen sie arbeiten? Welche Schule können ihre Kinder besuchen? Wie wird es ihnen in einem Land ergehen, das nicht ihre Heimat ist?

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Quelle:
Ärzte ohne Grenzen
Am Köllnischen Park 1, 10179 Berlin
Pressestelle: Telefon: 030/22 33 77 00
E-Mail: office@berlin.msf.org
Internet: www.aerzte-ohne-grenzen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2014